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Kapitel 6

Zu zweit stirbt man weniger allein

Seit seinem ersten Einzelzeitfahren hat er eine neue Liebe. Den Kampf Mann mit Maschine gegen die Uhr. So musste ihn ein Vereinskollege auch nicht lange bitten, als dieser fragte, ob er Lust habe, mit ihm beim traditionellen Mariazeller Paarzeitfahren an den Start zu gehen. In Zweierteams kämpft man abwechselnd, aber dennoch gemeinsam gegen den größten Feind des Zeitfahrers: den Luftwiderstand.

Dabei gilt es, sich möglichst schnell und ohne Geschwindigkeitsverlust in der Führungsarbeit abzuwechseln. Gemeinsam mit seinem Partner wurde bei der Anfahrt nach Mariazell im Team-Bus die Taktik besprochen. Der Rote Kenianer in Ausbildung war der kleinere und leichtere Adonis der beiden und auf jeden Fall der bessere Bergfahrer. 30 selektive Kilometer galt es auf einer Pendelstrecke zu bewältigen. Die Hetzjagd begann mit einem längeren Bergabstück, das dann später zum Schlussanstieg – der es in sich hatte – wurde. Folgende Marschroute legten sie sich zurecht. Der Weiße Kenianer in Ausbildung würde sich vom Start weg – solange es bergab ging –vorspannen, um die Schwerkraft optimal für das Gespann auszunützen. Dann würden sie in einen schnelleren, gleichbleibenden Rhythmus wechseln, bis sie wieder zum Schlussanstieg kämen. Vor diesem härtesten Teil der Strecke würde er wiederum ein wenig mehr Führungsarbeit übernehmen, sich dann hinter den besseren Bergfahrer zurückfallen lassen und zugleich versuchen, irgendwie an dessen Hinterrad zu bleiben. Gestoppt bzw. gewertet wurde nur die Zeit des Zweiten im Duett. Es brachte also überhaupt nichts, wenn einer dem anderen davon fuhr – im Gegenteil.

So gut der Plan in der Theorie klang, so gut funktionierte er auch in der Praxis. Zumindest zu Beginn. Vernunft und Angst auf „stand by“ geschaltet, stürzte er sich die engen Kehren hinunter und nahm Fahrt auf. Sein Partner kauerte in seinem Windschatten und versuchte möglichst viel Energie zu sparen. Sobald es flach wurde, begannen sie mit der berühmten Belgischen Reihe20 – allerdings nur zu zweit. Sie fanden schnell einen guten Rhythmus und es klappte wie am Schnürchen. Einziger Wermutstropfen: Im Wind dauert eine Minute gefühlte Ewigkeiten, im Windschatten vergeht sie wie im Flug.

Der Rote Kenianer in Ausbildung sollte später seinen Namen zu Recht bekommen, denn am Rötegrad seines Gesichtes ließ sich ganz genau ablesen, wie sehr er schon am Limit fuhr. Von entspanntem Zartrosa war er an der Wende schon ziemlich weit entfernt, aber sein Wettkampf-Rot lag noch im grünen Bereich. Die Schenkel des Kenianers brannten wie Feuer, aber auch das war beim Zeitfahren „part of the game“.

Gute zwei Kilometer vor dem Schlussanstieg setzte sich der Kenianer wie geplant an die Spitze des dynamischen Duos. Er presste noch einmal alles für das Team aus sich heraus. Ganz ehrlich. Viel war es nicht mehr. Und dann kam der gefürchtete Anstieg. Der Rote ging vorbei. Der Kenianer heftete sich an dessen Hinterrad. Fixierte es, versuchte es zu hypnotisieren. Irgendwie musste es ihm gelingen, dran zu bleiben, nicht abzufallen. Er stemmte sich in die Pedale, versuchte ein mentales Seil um die Sattelstütze des Vordermanns zu legen. Jede Faser seines Körpers war bereit, bereit alles zu geben. Bereit für den Schmerz, für das Brennen in den Lungen, die Krämpfe in den Beinen.

Aber irgendwie kam es nicht so, wie er es herbeigesehnt – Trainer-Neudeutsch visualisiert – hatte. Er war alles vor dem Start noch einmal im Kopf durchgegangen. Aber es half nichts, einmal mehr zeigte sich, dass Theorie geduldig ist. Im Wettkampf kommt es oft anders, ganz anders als man denkt. Denn es fiel ihm überhaupt nicht schwer dem Hinterrad des Roten zu folgen. Im Gegenteil. Es ging ihm sogar zu langsam. Wo blieb der unwiderstehliche Antritt der Bergziege?

Also setzte er sich neben seinen Teamkollegen. Sofort sah er, was los war. Dessen Kopf war dunkelrot angelaufen, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, der Mund weit aufgerissen. Er wusste, dass sich der Rote Kenianer in Ausbildung quälen konnte wie kein Zweiter. Ein Sportler, der sich und seinem Körper im Wettkampf nichts schenkte. Der Rote machte keine halben Sachen. Er nahm in der Schlacht weder auf Material noch auf sich selbst Rücksicht. Vollgas bis zum lactat-bitteren Ende. Aber dennoch, irgendwas stimmte nicht. Das Dunkelrot war sogar für seine Verhältnisse zu rot, und vor allem der leichte Grünstich um die Nase verhieß nichts Gutes. „Wenn sich mein Pulsschlag noch um einen einzigen Schlag erhöht, dann fällt mir das Essen aus dem Gesicht“, keuchte er verzweifelt: „Mir stehen die Spaghetti bis zum Hals!” Und da er sich die Spaghetti nicht noch einmal durch den Kopf gehen lassen wollte, reduzierten sie das Tempo und fuhren nebeneinander, so schnell es die Umstände noch zuließen, den Berg hoch. Da es nur mehr wenige Hundert Meter bis ins Ziel waren, hielt sich der Schaden in Grenzen. Die Endzeit konnte sich trotzdem sehen lassen, und in ihrer Altersklasse reichte es sogar für Platz 2! Der Weiße Kenianer in Ausbildung stand zum ersten Mal auf einem Podest und schnupperte die Höhenluft der Sieger. Selbst wenn es nur Rang 2 in der Altersklasse bei einem doch eher bescheiden besetzten Provinzrennen war, es fühlte sich gut an. Saugut! Und es gab einen Pokal. Er hatte noch nie einen Pokal gewonnen. Auch wenn die Keramik-Plastik, die wohl nie einen Designerpreis gewinnen würde, nur mit Silberfarbe angepinselt war, glänzte sie für ihn wie pures Gold.

Ein Jahr darauf stand das Mariazeller Paarzeitfahren wieder auf dem örtlichen Rennkalender. Und natürlich kehrt man gerne an den Platz seines Triumphes zurück. Doch diesmal hatte der Rote Kenianer in Ausbildung leider keine Zeit. Aber er suchte und fand hochkarätigen Ersatz. Einen zigfachen Ironman, den er aus dem örtlichen Triathlonverein kannte. Als dieser in Mariazell seine Zeitfahrmaschine auslud, war es beim Kenianer Liebe auf den ersten Blick zu solch einem Turbogefährt. Auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, es würde nicht bei sehnsüchtigen Blicken bleiben. Aber dazu später. Auch diesmal war die Taktik klar, ohne dass sie viel darüber reden mussten. Vereinfacht gesagt, war es die Schlusstaktik des Vorjahres ausgedehnt auf das ganze Rennen, denn er würde von Anfang an versuchen müssen, irgendwie an dem Hinterrad des „eisernen Kollegen“ dran zu bleiben. Dass dieser stärker war als er, stand außer Frage.

Er musste schon nach einigen Kilometern die Beine in die Hand nehmen und strampeln, was das Zeug hielt. Noch gelang es ihm, auch einen Teil der Führungsarbeit zu übernehmen, aber lange würde das nicht gut gehen. Der Ironman machte ordentlich Dampf. Gnadenlos. Und noch etwas unterschied ihn vom Roten Kenianer in Ausbildung. Nicht nur, dass sich seine Gesichtsfarbe kein bisschen veränderte, Mr. Pokerface verzog auch keine Miene. Während dem Roten Kenianer zu diesem Zeitpunkt schon lange sämtliche Gesichtszüge entglitten gewesen wären, machte der vierfache Teilnehmer der Ironman-Weltmeisterschaften auf Hawaii noch immer das entspannte Gesicht vom Start. Doch plötzlich wurde er langsamer. „Irgendwas stimmt mit meinem Vorderreifen nicht. Ich habe einen Platten“, meldete er. Der Kenianer atmete erleichtert durch. Diesen Reifenschaden schickte der Himmel seinen brennenden Oberschenkeln. Gekonnt spielte er den Trauernden. „Na geh – jetzt waren wir so gut drauf. Und ich wollte am Schluss noch mal so richtig andrücken!“, log er, dass seine ohnehin schon übersäuerten Muskeln fast zu verkrampfen begannen. „Dürfte nur ein Schleicher sein,“ hörte er Ironman sagen und traute seinen Ohren nicht. „Wenn wir Vollgas geben, geht es sich bis ins Ziel aus!” Der „Eiserne“ hatte noch nicht einmal zu Ende gesprochen, als er seiner Zeitfahrmaschine schon wieder die Sporen gab. Der Kenianer, dessen Systeme schon begonnen hatten, runterzufahren, machte einen Warmstart und fügte sich seinem Schicksal. Willkommen zurück im Tal der Schmerzen, großer Schmerzen!

Während sein Vorderreifen immer weicher wurde, fuhr der „unerbittliche Eiserne“ immer härter. Der Kenianer hing schon lange in den Seilen. Aber er zeigte Nehmerqualitäten und blieb irgendwie am Hinterreifen von Mr. Pokerface, der im Schlussanstieg weder daran dachte Tempo rauszunehmen, noch sich für einen Augenblick so etwas wie Anstrengung anmerken zu lassen. Nicht nur, dass seine Gesichtszüge stoisch ruhig blieben. Er saß auch wie aufgemalt im Sattel, während sich der Kenianer längst wand, als hätte er Juckpulver in der Radhose. Was seine Beine nicht mehr brachten, versuchte er irgendwie mit ganzem Körpereinsatz wett zu machen.

Der eine elegant und wie aus dem Radsport-Katalog, der andere mit weit aufgerissenen Augen – und wie einem Zombie-Film entsprungen –, rasten sie über die Ziellinie. Mit einer schnelleren Endzeit als im Vorjahr. Doch dieses Jahr war der Wettbewerb stärker besetzt. Es reichte aber für Platz 3. Und wieder stand er auf dem Stockerl21. Daran könnte er sich gewöhnen. Die Bronzefarbe des Pokals ging mit ein wenig Fantasie sogar als Gold durch.

Und beide, sowohl Mr. Pokerface als auch dessen Zeitfahrmaschine, sollten für ihn noch zwei ganz wichtige Begleiter auf dem Weg zum Weißen Kenianer werden.

20 Belgische Reihe bezeichnet beim Radsport eine Formation, die einer Gruppe von Radfahrern durch effektives Ausnutzen des Windschattens und Ablösen bei der Führungsarbeit eine energiesparende Fahrweise ermöglicht. Sie besteht aus zwei Einzelreihen, die sich gegeneinander bewegen, d. h. eine Reihe fährt schneller, die andere (abgelöste Fahrer) zirka zwei Stundenkilometer langsamer.

21 steirisch für Siegerpodest.

Der Weg frisst das Ziel

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