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Kapitel 7

Die Sache mit dem Cabrio ...

Wie geschworen, kehrte er ein Jahr später zurück zum Vereins-Einzelzeitfahren. Und wie prophezeit, wollte er mehr, viel mehr. Er griff nach den Sternen und hatte nur ein Ziel: Gewinnen! Vereinsmeister werden. Okay, zugegebenermaßen, der Weiße Kenianer in Ausbildung griff nach Sternchen. Ganz kleinen. Nach unbedeutenden Provinz-Sternchen unter Hobbysportlern. Nach der Titelseite des Pfarrblattes. Jedenfalls hatte er dafür nicht nur viel und hart trainiert, sondern auch investiert. Schon im Winter schloss er mit sich, seinem Stahlross und seinem Bankkonto einen Deal. Wenn er in der Sommer-Saison 5000 Kilometer schaffen würde, dann winkte als Belohnung ein neues Rennrad. Sein Ein- und Aufstieg ins Carbonzeitalter. Doch damals war er noch kein Material-Junkie. Damals durfte gutes Material noch nicht kosten, was es wolle. Damals glaubte er noch nicht an das erste und einzige Gebot seines späteren Stammeshäuptlings: „Am Material darf es nicht scheitern!“ Damals war er noch ein Ungläubiger. Damals war er noch schuldenfrei. Schön war die Zeit!

Also wurden Preise verglichen bis die Augen schmerzten. Relativ rasch stellte sich dabei heraus, dass man übers Internet am billigsten „fährt“. Jedenfalls entdeckte er einen deutschen Direktversand, der seine High-Tech-Geräte ausschließlich übers Internet anbot und so preislich fast unschlagbar schien. Dazu hatte er zudem noch das Glück, dass in seiner Rahmengröße „Wadenhüter“ keine Seltenheit waren. Auch in Onlineshops. Wie gesagt: er war noch ohne Bekenntnis, material-religionstechnisch. Und so entschied er sich letztendlich für ein stark im Preis herabgesetzes Vorjahresmodell: Rahmen und Gabel aus Carbon, komplett DURA ACE22 bestückt. Luxus pur. Fast schon dekadent. Er war im siebten Rennradhimmel. Vonseinem Stahlross ausgehend war das ein unglaublicher Evolutionssprung. Zusätzlich leistete er sich fürs Zeitfahren einen richtigen Aufleger. Einen, der mehr als zehn Euro kostete. Empfindlich mehr. Genau gesagt 140 Euro mehr. Als er den Preis sah, musste er laut lachen. Denn die zwei verbogenen Alustangerl kosteten genauso viel wie sein erstes Stahlross. Aber für ergonomisch geformte Teile, die schnell aussahen, zahlte man den Preis gerne. „Völlig gerechtfertigt“, dachte er sich.

Der Carbon-Flitzer kam per Post. Schön verpackt und vormontiert. Mit wenigen Handgriffen war die neue Waffe einsatzbereit gemacht. Doch bevor es losgehen konnte, musste er seinen ebenfalls neuen Radcomputer montieren. Jeder einzelne Meter sollte für die Nachwelt aufgezeichnet werden. Fertig! Kurzer Systemcheck. Wunderbar, die Pulsmessung funktionierte auch. 160 Puls, obwohl er noch keinen Meter gefahren war. Tja, bei großer Freude schlägt unser Herz nicht nur höher, sondern auch schneller.

Da er nichts dem Zufall überlassen wollte, war er die Strecke des Vereinszeitfahrens einige Male abgefahren, hatte deren Profil analysiert. Zuerst ging es acht Kilometer taleinwärts, immer leicht bergauf mit ein paar kleinen Hügeln, die beim Zeitfahren das Zünglein an der Waage sein könnten. Diese leichten, lang gezogenen Steigungen haben nur ein Ziel, sie möchten die Durchschnittsgeschwindigkeit möglichst weit nach unten drücken. Nach der Wende ging es – logischerweise – immer leicht fallend retour zu Start und Ziel. Genau sein Streckenprofil. Optimal. Eher suboptimal war die erste Hälfte der Rennstrecke für ihn. Doch er hatte einen Masterplan, einen gewagten. Er würde einfach so fahren, als wäre der Wendepunkt das Ziel. Auch wenn er völlig blau angelaufen zur Wende kommen würde, am Retourweg würde er nicht mehr viel Zeit verlieren.

Gedacht, getan! Er startet sofort mit einem Schlusssprint und fraß nach einem Kilometer den ersten Hügel förmlich auf. Sein Plan ging auf. Seine Oberschenkel auch. Völlig dunkelblau kam er zur Wende. Den Mund weit aufgerissen, Atemnot, die Beine tot. Er riss seinen Carbonrenner um die Wende und versuchte zu beschleunigen. Spritzig war anders. Aber keuchend und schnaubend wie eine Dampfwalze kam er langsam wieder auf Touren. Endlich leuchtete die begehrte 50 wieder am Fahrradcomputer auf. Den Pulsschlag von 180 ignorierte er, keine Zeit sich darum zu kümmern.

Natürlich hatte er auch seine Zielzeit im Kopf, die Zeit des Titelverteidigers aus dem Vorjahr, der auch diesmal wieder am Start war. 26 Minuten war das Maß der Dinge. Ein kurzer Blick auf die allwissende Anzeige seines Radcomputers, und er wusste, dass er voll auf Kurs war. Einfach das Tempo irgendwie halten, koste es was es wolle.

Das klappte auch unter Schmerzen und auf Biegen und Brechen bis zum letzten, kurzen Gegenanstieg, von dessen höchstem Punkt es noch genau ein Kilometer bis ins Ziel war. Ein Blick auf die unerbittliche Uhr: 24:30! Kurz gerechnet. Mit 50 Stundenkilometer war ein Kilometer in exakt 1:30 Minuten zu schaffen. Also bergab auf über 50 Stundenkilometer beschleunigen und dann gnadenlos zum eigenen Körper bis ins Ziel durchziehen.

Ein heftiger Adrenalinstoß fuhr durch sein Inneres. Es rann ihm eiskalt über den Rücken. Ein herrliches Gefühl. Er begann zu fliegen. Schneller, immer schneller. Plötzlich lautes Hupen hinter ihm. Für solche Scherze hatte er jetzt keinen Kopf. Es ging um Leben und Tod. Oder zumindest um den Vereinsmeistertitel. Klar fuhr er mitten auf seiner Richtungsfahrbahn. Aber es war schließlich ein Rennen. Die Straße war zwar nicht gesperrt, aber Warnschilder „Achtung Radrennen!“ sollten eigentlich genügen. Ein zweites Hupen. Bei aller Liebe, er konnte nicht an den Straßenrand fahren, dort war die Straße in so desolatem Zustand, dass es ihm alle Plomben aus den Zähnen geprellt hätte. Oder sein Carbon-Mustang ihn gar abgeworfen hätte.

Noch ein Hupen, dann überholte ihn plötzlich ein Cabrio. Der freundliche Fahrer winkte ihm herzlichst mit dem Mittelfinger, bevor er ihn schnitt und fast in den Graben drängte, als er sich vor ihm einreihte. Dann reduzierte der Arsch mit Ohren sein Tempo so ruckartig, dass er, nachdem er sich unter Aufbringung seiner ganzen Zirkuskunst artistisch vom sandigen Straßenbankett wieder auf die Fahrbahn zurück gerettet hatte, hart in die Eisen steigen musste. Auf lächerliche 30 km/h musste er zurück. Dann wurde das Cabrio noch langsamer. Ein noch heftigerer Adrenalinstoß. Er schrie wie am Spieß. Warf dem Cabriofahrer die schlimmsten Schimpfwörter, die er kannte, an den Kopf. Wünschte ihm die Krätze in sein dümmlich grinsendes Gesicht, Hämorriden an seinen fetten Cabrio-Arsch. Und auch die letzten Haare seiner, unter einem peinlichen Nick-Knatterton-Kapperl versteckten Halbglatze, sollten ihm auf der Stelle ausfallen. Er war außer sich vor Wut, sein Puls jenseits der Zweihunderter-Marke. Am liebsten hätte er den ignoranten Cabrio-Fahrer überholt und ihm in voller Fahrt auf die weißen Rauleder-Sitzbezüge gepinkelt.

Aber überholen ging nicht, sein ganzes Tempo war beim Teufel. Die Zeit zerrann ihm in der geballten Faust. Im Ziel stand die Exekutive, die das Radrennen überwachte. Als der nette Cabrio-Lenker die Polizei sah, beschleunigte der Feigling auf einmal und machte sich unerkannt und ungestraft aus dem Staub. Zu spät für den Weißen Kenianer in Ausbildung. Dem Herzinfarkt nahe, im Blutrausch! Noch immer zu weit vom Ziel entfernt. Mit einem Verzweiflungs-Endspurt versuchte er noch zu retten, was es zu retten gab. Doch so recht schaffte er es nicht, sich über Platz 2 zu freuen, das Hermann-Maier-Feeling. Doch er würde zurückkommen. Im nächsten Jahr! Und er würde weiter aufrüsten. Eine Handgranate musste doch in die Rückentasche seines Zeitfahranzuges passen. Und mehr als ein Cabrio würde sich ihm wohl nicht in den Weg stellen. Hoffentlich!

Next Year, same Time, same Station, same Renntaktik, letzter Kilometer.

Er lag gut in der Zeit. Sogar vor seiner Marschroute. Beschleunigung auf über 50 km/h. Der letzte Kilometer im Sturzflug verging wie im Nu. Keine Hindernisse stellten sich ihm in den Weg. Ohne Granaten, dafür mit einer Bombenzeit, raste er über die Ziellinie. Spiel, Satz und Sieg! Er war der König der Welt.

Immerhin Vereinsmeister von Hintertupfing am Sauerampfer.

22 Die DURA ACE ist eine Gruppe von Fahrradkomponenten des japanischen Herstellers Shimano. Sie ist die qualitativ höchstwertigste Rennradproduktgruppe von Shimano.

Der Weg frisst das Ziel

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