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Kapitel 2

Präbichl – Schicksalsberg und Erzfeind

Nach dem läuferischen Begräbnis auf der Aschenbahn sank die Lust auf weiteres Gerenne gegen Null. Auf stundenlanges Training zwischen Michelin-Männchen in Clownhosen und Muscleshirts samt Monsterakne auf ihren kleiderschrankbreiten Rücken oder in nach Schweiß und Testosteron riechenden Fitnesscentern verspürte er ebenfalls keine Lust. Da war seine Motivation schon vor der ersten Einheit auf dem Nullpunkt. Seine Bodybuilding-Zeit hatte er mit dem Ende der Pubertät (falls es bei Männern so etwas überhaupt gibt) beziehungsweise mit der Matura quasi abgeschlossen. Außerdem war es schließlich der Ausdauersport, der ihn in Wörschach in seinen Bann gezogen hatte. Also besann er sich auf die Zeit, als er früher – also „söm“ – mit dem Rennrad die Gegend unsicher gemacht hatte.

In der Siedlung, in der er aufgewachsen war, hatten zwei seiner Jugendfreunde Rennräder bekommen. Das hatte in der Clique einen regelrechten Boom ausgelöst, bei dem er natürlich auch mit dabei sein musste. Sein Vater kaufte ihm seinen ersten Renner im typischen Bianchi3-Türkis. Mit diesem Renner, der noch immer als Heimtrainer im Fitnessraum seines Vaters gute Dienste leistet, zog er fast täglich nach der Schule seine Runden – und schon bald feierte er bei cliqueninternen Ortstafelsprints erste Erfolge. Bei einer Trainingsausfahrt wurde er sogar vom Obmann des örtlichen Rennrad-Klubs entdeckt. Das hatte dazu geführt, dass er in der Jugend-Klasse sogar eine Saison lang Rad-Rennen bestritt, ehe er dann beschloss, dass er den exquisiten Genuss, sein Frühstücks-Müsli bei jedem hartem Anstieg im Rennen ein zweites Mal essen zu müssen, nicht länger brauchte. Kleine Anmerkung: Rückwärts schmeckt übrigens jedes Müsli gleich, egal ob Bircher oder Hofer. Aber nun fiel ihm ein, dass im Keller noch das alte Rennrad seines Vaters irgendwo rumstehen müsste. Ein Stahlrenner, ein wahrer Klassiker mit Schalthebeln direkt am Rahmen. Er hatte zwar schon davon gehört, dass es mittlerweile neue Werkstoffe wie Aluminium und sogar Carbon geben sollte, aber aus der Nähe hatte er solche neumodernen Hightech-Räder noch nicht gesehen. Auch sagte ihm der weise Spruch seines späteren Stammeshäuptlings „Am Material darf es nicht scheitern!“ noch nichts. Ein Mantra, das ein paar Jahre später zu seinem täglichen Abendgebet werden sollte ...

Nachdem er in den Untiefen seines Kleiderschrankes gewühlt hatte, wurde er unter einem nicht mehr ganz modischen Spencer-Sakko samt lila Bauchbinde fündig. Da lagen gut vergraben noch einige Relikte leicht verwaschener Sportbekleidung, die wohl auch nicht mehr unbedingt „state of the art“ waren. Also schnell die Motten aus den Teilen geschüttelt und rein in die Zeitreise-Teile. Na bitte: Die alte Radler-Hose passte sogar noch und das Trikot war jetzt endlich zum ersten Mal auch wirklich so eng anliegend, wie es in Sachen Aerodynamik schon vor 15 Jahren hätte sein sollen! Die Tatsache, dass zu seiner Rennradzeit die Helmfrage noch nicht einmal diskutiert wurde, und er im Rennen einen extrem stylishen Arbö-Kunstleder-Sturzring in rot-weiß-rot tragen musste, machte ihm doch schmerzhaft bewusst, dass es schon einige Zeit her war, dass er seinen Hofkumpels, die schnell das Interesse am neuen Modesport wieder verloren hatten, um Längen davon gefahren war. Parallel infizierte er sich natürlich auch mit dem Tour-de-France-Fieber. Damals, als Miguel Indurain4 der „Tourminator“ war: Ein ruhiger, sympathischer Spanier mit acht Liter Hubraum (Lungenvolumen), dem Ruhepuls eines seit Jahren dauermeditierenden Shaolin-Mönchs und einem permanenten Dauergrinsen im Gesicht. Mit diesem stets leicht lächelnden Pokerface (Fußnote: angeblich grinste er nicht, sondern hatte nur den Mund immer leicht geöffnet, um besser Luft in seine Megalungen pumpen zu können) fuhr Don Miguel5 jeden noch so schweren Berg im Sitzen hoch. Der Mann, der sich nie wirklich anzustrengen schien, ritt keine Attacken, musste seine Feinde und Helfer nicht mit ständigen Tempowechseln oder Verschärfungen aufreiben, nein, er fuhr bergauf einfach gleichschnell weiter, als wäre er von der Schwerkraft befreit. Betrieb er etwa Heliumdoping? Hatte er deswegen so riesige Lungenflügel, weil sie vor jedem Berg über seine Trinkflaschen mit Helium vollgepumpt wurden? Und war er deswegen stets so wortkarg, weil ihn die hohe Micky-Maus-Stimme sonst sofort verraten hätte?

Jedenfalls fuhr er bei den Bergetappen über Alpen und Pyrenäen gnadenlose Ausscheidungsrennen, bei denen man den Eindruck hatte, er fuhr einfach sein Wohlfühltempo und ein Konkurrent nach dem anderen brach ohne einen von außen ersichtlichen Grund einfach weg.

Dieses Tour-Fieber hielt jahrelang an, wobei er immer öfter fünf Stunden auf der TV-Couch statt im Sattel verbrachte. Wund liegen – statt sich das eigene Hinterteil beim Grundlagen-Training am Sattel wund zu reiben.

Doch leider hatte ihn die leidige Dopingseuche in den letzten Jahren gründlich von seinem Tour-Fieber geheilt. Und spätestens seit man auch noch „seinen“ Lance demontiert hatte, stand sein Entschluss fest, sich keine Minute eines Wettbewerbs mehr anzusehen, bei dem der Sieger erst zehn Jahre später wirklich feststehen würde. Allerdings auch nur dann, wenn sich überhaupt einer finde sollte, dem man den Sieg bedenkenlos vererben kann beziehungsweise der sich das Erbe anzunehmen traut. Denn der neu ernannte Sieger muss davon ausgehen, dass sich die gierigen Dopingjäger mit Hang zur Selbstverwirklichung sofort auch auf dessen uralte Blutproben stürzen, um ihm dann das nachzuweisen, was sie vorher – während seiner aktiven Zeit – ein Jahrzehnt lang nicht geschafft hatten.

Und da kam mir folgender Gedanke: Ich rufe meine Volksschullehrerin an und frage sie, ob ich den Dreier in Deutsch aus der ersten Klasse doch noch ausbessern könnte. Denn jetzt – mit Google und automatischer Rechtschreibprüfung würde ich sicher eine bessere Note schaffen. Leider ging der Schuss nach hinten los, denn meine Volksschullehrerin hatte daraufhin meine Tests noch einmal kontrolliert – und nach der neuen Rechtschreibung hagelte es nachträglich Fünfer um Fünfer für mich. Jetzt wird mir die Volksschule aberkannt. Gymnasium und Handelsakademie werden noch entscheiden, ob sie mir den Pflichtschulabschluss und die Matura ebenfalls streichen. Aber was das Schlimmste ist: Alle meine Opas, Omas, Onkel und Tanten wollen ihr Geld zurück, das sie mir für gute Zeugnisse gesponsert haben. Wenn ich allerdings mindestens zehn meiner Klassenkameraden verpfeife, kann ich die Volksschule nach einer Zweijahressperre noch einmal machen ...

Doping ist selbstverständlich aufs Äußerste zu verurteilen, aber selbst ernannte Anti-Doping-Halbgötter, die noch immer so tun, als würden sie die wenigen schwarzen Schafe aufdecken, lügen sich mindestens ebenso sehr in die eigene Medikamenten-Tasche, wie die dopenden Sportler selbst, die sich den Wecker so stellen, dass sie nachts mehrmals aufwachen, weil sie Angst haben, dass ihr ohnehin übergroßes Sportlerherz nicht mehr ausreicht, die zähflüssige Chemiesuppe aus Epo und Blut durch ihre fingerdicken Adern zu pumpen.

Immer mehr Sportler wachen hinter den sieben Unschuldsbergen mit folgenden – vom Team-PR-Berater empfohlenen Worten – auf: Oh? Wo kommt denn der Fremd-Urin in meiner Blase auf einmal her? Ja wer ist denn da an meiner Harnröhre gewesen? Ja wer hat mir denn die Spritze auf mein Tellerchen gelegt? Oh! Wo ist der hinterhältige Zwerg jetzt hin, der sie mir gespritzt, beziehungsweise mich so lange hypnotisiert hat, bis ich mir die Spritze selbst gesetzt und dies im selben Moment auch schon wieder vergessen habe. Nachts im Wald kann man auch immer mehr Profi-Sportler ums Lagerfeuer tanzen sehen und singen hören: Ach wie gut das niemand weiß, dass ich mir reinschieß jeden Scheiß, wenn er mich nur schneller macht und dann ein Sponsorenvertrag lacht!

Leider ist zu befürchten, dass im Peloton6 von großen Rundfahrten alle, die es sich leisten können, gedopt waren und sind. Also sollte man alle Siege der letzten 20 Jahre dem jeweiligen Besenwagenfahrer7 zusprechen, aber der war wahrscheinlich selbst voll mit Aufputschmittel gegen Sekundenschlaf. Und das alles wissen vermutlich auch alle im Renn-Zirkus, egal ob gedopte Fahrer, Doping-Fahnder oder die Teambus-Putzfrau. Aber auch auf Loipen, Pisten, Fußballfeldern, Rennstrecken, in Ringen, in Stadien oder Sporthallen oder vom Hobby-Wablerlauf in Hintertupfingen bis zu den Olympischen Spielen tummeln sich ziemlich sicher noch viel mehr freiwillige, menschliche Pharma-Versuchskaninchen als auch die misstrauischsten Pessimisten unter uns zu befürchten wagen. Spannend wäre es schon, wie die Sportler aussehen würden, wenn man einfach alles freigäbe. Den 100-Meter-Lauf würde wahrscheinlich das monströse Retorten-Baby gewinnen, das den Lauf auch überlebt. Denn sieben von acht Olympia-Finalisten würde wahrscheinlich schon am Start einfach explodieren ...

Für alle Doping-Sünder sollte man bereits nach der ersten positiven Testung einen lebenslangen Zwangs-Wechsel in eine eigene Zombie-Klasse in der jeweiligen Sportart aussprechen. Denn wer einmal dopt, dem glaubt man nicht – mehr. Kommt er nach der Sperre zurück und fährt hinterher, heißt es: „Na klar, ohne Doping geht wohl nix!“ Kommt er zurück und fährt wieder allen davon oder zumindest vorne mit, heißt es: „Na klar, der ist schon wieder gedopt!“ Also ab mit Dopern in eine eigene Zombie-Klasse, in der sie sich nach Herzenslust als Pharmaindustrie-Versuchskaninchen austoben können. Und endlich gäbe es zahlreiche neue Sponsoren wie Johnson & Johnson, Pfizer, Novartis, Ratiopharm, Roche, Bayer, Baxter und viele mehr.

Aber zurück von der bösen Welt des verseuchten Spitzensports zum jungfräulichen Weißen Kenianer, der noch nicht einmal ahnt, dass er zu diesem einsamen Krieger der Herzen werden wird. Noch schlummert der Kämpfer in ihm tief und fest. Wir waren vor dem Ausflug in Sachen (Sport)-Weltverbesserung bei der Klärung der Helmfrage. Natürlich hatte er in den 1980ern die Anfänge des aufkommenden Mountainbike-Trends brav wie von der Sportartikelindustrie befohlen mitgemacht und sich einen Bike-Helm gekauft, um von den örtlichen Jägern in der Obersteiermark beim Quer-durch-den-Wald-radeln nicht mit einem Hirsch verwechselt zu werden.

Ausgerüstet mit einem 20 Jahre alten Vereins-Rad-Dress, ebenso alten Rennradschuhen, dem Look-Pedal-Prototyp und einem damals modernen Porozell-Pepi (= Radhelm) ging es mit einem Stahlross aus den 70er Jahren mit einer nicht gerade fürs Bergauffahren geeigneten Übersetzung und mit einer heldenhaften Zweifach-Kurbel zur ersten Radausfahrt.

Doch bereits zu Beginn des Ausdauerkarriere-Comebacks sah er sich mit dem wohl größten Grundproblem eines jeden ambitionierten Amateursportlers – der mindestens 40 Stunden in der Woche als sein eigener Sponsor dem regenerationsfeindlichen Broterwerb nachgehen muss – konfrontiert. Unser „Patient“ war noch dazu ein besonders „schwieriger Fall“, denn er hatte auch dem gesellschaftlichen Zwang nach Frau und Kindern nachgegeben. Das Problem der Probleme lautet: Zeitmanagement! Vor allem am Wochenende, wenn man schon einmal den Mühlen der Arbeitswelt entkommt, fällt einem die eigene Familie in den Rücken und fordert zeitliche Zuwendung ein. Wie unsportlich! So wird jedes Training ein halbfauler Kompromiss – fast ein Stehlen der Zeit vom Familienkonto – und das Familienzeitkonto würde er in Zukunft noch öfters überziehen, mitunter tief in die roten Zahlen stürzen müssen – und sogar seine Frau immer wieder anflehen, den Kreditrahmen doch noch ein wenig mehr auszudehnen. Als Zinsen würde er Dienste wie Geschirrspüler ausräumen, Müll-Hinaustragen und Staubsaugen anbieten.

Also wurde bereits die erste Radausfahrt intrafamiliär zeitoptimiert. Sprich Frau und Kind wurden in die Familienkutsche gesetzt und er ritt mit dem Stahlesel los. Das gemeinsame Ziel ihrer Träume: Die Schwiegereltern!

Ein Sonntag bei den Schwiegereltern kann auch ohne Radeinheit zur Challenge werden, aber wenn man nach 15 Jahren erstmals wieder in die Pedale tritt und sich dann gleich die Strecke Bruck-Eisenerz (ca. 50 km) mit dem lieblichen Präbichl vornimmt, grenzt das an Größenwahn. Nein, es schießt sogar deutlich über Größenwahn hinaus. Wobei Größenwahn das falsche Wort ist, vielmehr meine ich die Erkenntnis, dass Zeit wirklich relativ ist. Und zwar relativ gemein, hinterhältig und unerbittlich. Dabei handelte es sich nicht einmal um eine Erstbefahrung des Präbichls. In der Jugend stand er des Öfteren auf dem Trainings-Speiseplan. Der Berg, sprich vielmehr ein Hügel, den er im zarten Alter von 16 Jahren als schmächtiger, pickeliger Junge mehrmals bezwungen hatte, konnte doch jetzt – gefühlt gerade einmal einige Wochen später – für ihn als ausgewachsenes Mannsbild in seinen besten Jahren und vor Kraft strotzend, kein Problem sein. Auch die Tatsache, dass er nun knapp 30 Kilogramm mehr wog als damals, wurde nicht ignoriert, sondern vielmehr als Vorteil gewertet, schließlich handelte es sich bei dem Mehrgewicht zu 99 Prozent um reine Muskelmasse, die ihm am Berg sicherlich neue, ungewohnte zusätzliche Power verleihen würde.

Die ersten 15 Kilometer ging es noch flach zum Einrollen dahin. Er kam sich richtig schnell vor, nur das von gepolsterten Autositzen verwöhnte Hinterteil meldete sich schon nach einer schwachen halben Stunde. Gerade als er sich fit und unbesiegbar zu fühlen begann, sorgte aufkommender Gegenwind ziemlich schnell dafür, dass er auf den Boden der Tatsachen, sprich unter 30 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit, zurückgeholt wurde. Bereits nach 15 Kilometern begannen sich die hügeligen Ausläufer des Präbichls langsam aber doch deutlich spürbar aufzustellen. Mit Gegenwind, nicht mehr ganz so geschmeidigen 15 km/h und ziemlich eckigem Tritt stampfte er wie ein Raddampfer die langen, flachen Geraden, die sonst beim Autofahren stets ein wenig zum Rasen einluden, dahin. Auch das Tempo passte sich dem eines längst in die Jahre gekommenen Mississippi-Raddampfers an. Diese langen Geraden wuchsen sich plötzlich zu fast endlosen Steigungen aus, kleine Hügelchen mutierten zu Alpenpässen, der Gegenwind schwoll zu einem ausgewachsenen Orkan an. Die angeblich so reichlich vorhandenen, überschüssigen Kraftreserven waren längst verschossen, die Oberschenkel schon bei der ersten auch optisch erkennbaren Steigung aufgegangen wie Germteig. Schön, wenn sich so ein Muskel aufbläst wie ein Luftballon. Allerdings – wenn man nicht gerade auf der Bühne der Mister-Universum-Wahl steht, sondern versucht mit einem Drahtesel nach Eisenerz zu reiten, wenig hilfreich. Bananen oder Müsliriegel hatte er natürlich keine mit und Gels schmierte er sich zu diesem Zeitpunkt höchstens in seine schon zunehmend schütter werdenden Haare. Und so hieß es bereits vor dem Präbichl: „Flasche leer“ und damit ist nicht die mit Wasser gefüllte Trinkflasche gemeint. Wasser in der Trinkflasche! Ein schwerer Fauxpas eines naiven Unwissenden, der den osmotischen Sog damals noch für die Hausstaubsaugeranlage des Raumschiffs Enterprise hielt.

Und da stellte sie sich auch schon auf wie die Eiger-Nordwand, die erste lange Steigung des Präbichls, die man in ihrer ganzen Schönheit erblickt, sobald man im verwinkelten Ort Vordernberg um die letzte Kurve biegt. Der Präbichl ist ein Gebirgspass (1226 Meter Seehöhe), der die Eisenerzer Alpen vom Hochschwab trennt. Der Pass verbindet das Erzbachtal mit der Gemeinde Eisenerz und das Vorderbergertal mit der Gemeinde Vordernberg. Soweit die nüchternen Infos, die die allwissende Wikipedia von sich gibt. Was Wikipedia verschweigt ist, dass Vordernberg sicher eine der trostlosesten Gemeinden Österreichs ist, die man nüchtern nur schwer erträgt – auch optisch, zumindest den Teil, den man beim Durchfahren der schmalen, verwinkelten Straße sieht. Wenn man die bedrückende Enge endlich hinter sich hat, tut sich ein beeindruckender Blick auf den doch recht imposanten Präbichl auf. Die Planer der Straße über den Präbichl dürften sehr geradlinige Menschen gewesen sein, denn im Gegensatz zu den meisten Bergstraßen geht es schnurgerade, einfach den Berg hoch. Vielleicht waren Serpentinen damals aber gerade aus. Die Bergstraße ist auch nicht in ein Tal eingebettet oder schlängelt sich durch Wälder, nein, man fährt quasi die Außenhülle des Berges hoch, was natürlich dazu führt, dass man Wind und Wetter gnadenlos ausgeliefert ist. Im Winter sind meterhohe Schneeverwehungen auf der Fahrbahn keine Seltenheit und in der anderen Jahreshälfte bläst einen schon einmal der Seitenwind von der Straße oder man ist einem Platzgewitter oder gar Hagelschauer schutzlos ausgeliefert.

Nun lag also die erste endlos ansteigende Gerade des Präbichls vor ihm. Positiv war die Situation für das mittlerweile schon schwer rebellische Hinterteil, denn bereits am Fuße der Steigung ging es unfreiwillig aus dem Sattel in den Wiegetritt. Auch im Wiegetritt sprang der Radcomputer – es dürfte sich um das erste digitale Modell der Neuzeit gehandelt haben – viel zu schnell und unaufhaltsam auf die einstellige Anzeige. Der Rettungsanker war schnell geworfen, wobei man eine 41-25 Übersetzung8 nicht unbedingt als Rettungsanker für einen Normalsterblichen bezeichnen kann.

Die Rettung wollte sich nicht so recht einstellen, vielmehr fühlte es sich an als müsste er einen Anker den Berg mit hochziehen. Und die erste Steigung wollte nicht enden, der Wiegetritt wurde immer mehr zum ausgefuchsten Gleichgewichtstraining. Laut stöhnend und (noch) leise fluchend stemmte er sich gegen die drohende Schmach, gegen das Unaussprechliche gegen die größten erdenklichen aller Niederlagen. Nein, er würde sein Rad nicht den Berg hochschieben. Er packte seine Steherqualitäten aus, mit freiem Auge war nicht mehr wirklich zu erkennen ob er sich noch vorwärts bewegte. Er hievte bei jedem Tritt sein gesamtes Körpergewicht – und davon hatte er reichlich – von einer Seite auf die andere, um das Pedal noch irgendwie wieder runter zu drücken. Und dann fast ein kleines Wunder. Er bewegte sich doch. Irgendwie. Und endlich wurde es flacher, zumindest flach genug, dass er wieder ein wenig ins Fahren kam. Doch das kurze Flachstück ist vor allem kurz, und der nächste Wiegetritt-Kampf im Schritttempo folgte schneller, als es seinem hochroten Kopf und seinem rasenden Herz lieb war.

Der Puls war schon seit langem das einzige, das noch schnell war – das Herz pochte wie verrückt und versuchte irgendwie noch Blut in die längst blaue Muskulatur zu pumpen. Im Kopf war schon länger kein Blut mehr angekommen. „Aufi! Aufi!“ war der einzige Gedanke, „Nur nicht absteigen!“ der zweite und zu mehr reichte es auch nicht mehr. Irgendwie quälte er sich bis zu einer Doppel-S-Kurve, deren flache Kehren wieder etwas Erholung brachten. Diese zwei schmucken Serpentinen, die ihn nun retteten, dürften im Sonderangebot gewesen sein, sonst hätte man die Straße sicher geradeaus weiter gebaut. Danach wartete zwar das letzte aber dafür auch steilste Teilstück des verflixten Mistbichls, und starker Gegenwind begrüßte ihn am Ausgang der Kurve, grinste ihm hinterfotzig ins Gesicht: „Geht’s noch? Siehst schon ziemlich mies aus, Alter!”

So nicht, dieser arrogante Berg würde ihn nicht in die Knie zwingen. Sicher nicht! „Ist das alles, was du drauf hast?“, schrie er in den beginnenden Nieselregen. Nein, war es nicht, es begann noch während des Widerhalls seines Verzweiflungsschreies, wie zum Hohn aus Kübeln zu schütten. Mittlerweile war er gefühlte sechs Stunden unterwegs, siebeneinhalb (wie gesagt, das Hirn war längst unterversorgt) davon bergauf gegen den Wind. Dafür war es alles, was er zurzeit drauf hatte. Noch einmal verlagerte er sein ganzes (Über-) Gewicht auf das linke Pedal, geistig stand er schon mit beiden Beinen auf diesem verflixten Pedal wie auf dem 3-Meter-Brett eines Sprungturms. versuchte es irgendwie noch einmal nach unten zu drücken. Schon längst hatte es mit Radfahren im herkömmlichen Sinne nichts mehr zu tun. Es erinnerte ihn vielmehr ans Bankdrücken mit 100 kg in der Folterkammer – ein Kampf um jeden Zentimeter, bei dem man sich noch so sehr anstrengen kann, die Hantelstange sackt immer weiter ab, bis sie auf der Brust liegt und man sie an sich selbst herunterrollen darf – unter großen Schmerzen mit gebrochenem Stolz, nur weil keiner die japsenden Hilferufe hört. Zurück zum Martyrium am Berg. Da plötzlich für einen Moment war er zur Salzsäure erstarrt, ein Update des sterbenden Galliers, ein Standbild, ein malerisches Stillleben.

Und dann: „Baum fällt!“

Im letzten Moment siegte der Überlebensinstinkt noch knapp, aber doch über den Stolz. Irgendwie brachte er das längst taube Bein im letzten Moment aus dem Look-Prototyp, doch auch ein Sturz hätte nicht schmerzhafter sein können als der Augenblick, in dem der Radschuh den Boden berührte. Ein dumpfes Klack, das die totale Niederlage unweigerlich bekundete. Wie der weichgeprügelte Kopf eines Schwergewichtsboxers beim K. o. knallte die Schuhsohle auf den nassen Asphalt. Er hing in den Seilen, klammerte sich mit beiden Händen am Stahlross fest, schnaufte tief und schwer durch und begann leise vor sich hinzuwimmern. Gott sei Dank regnete es noch immer, sodass keiner sehen konnte, dass er Tränen in den Augen hatte, als er jämmerlich schluchzend sein Rad den Berg hochschob.

Letztendlich waren es nur ein paar Hundert Meter gewesen – aber die schmerzliche Niederlage ließ sich nicht schön reden. Der malerische Rundblick von der Passhöhe auf die umliegenden Berge konnte ihm heute ebenso gestohlen bleiben wie die beeindruckenden Abbaustufen des Erzberges, die zeigen, zu welchen Leistungen der Mensch im Stande ist und dass der Mensch wirklich Berge versetzen kann. Ihn hingegen hatte heute der Präbichl schmerzlich versetzt und hatte ihm sein aktuelles Leistungsniveau, wenn man überhaupt von Leistung und Niveau sprechen konnte, aufgezeigt. Auch die ebenfalls großteils schnurgerade Abfahrt, die Höchstgeschwindigkeiten zuließ und im Normalfall für jede Menge willkommenen Adrenalinausstoß sorgte, war heute eine Qual. Wie ein begossener Pudel traf er nach der wenig erwärmenden, feuchtfröhlichen Abfahrt am ganzen Körper zitternd bei den Schwiegereltern ein.

Unterzuckerung und Kälte schüttelten seinen Körper um die Wette. Als strahlender Held wollte er vor Frau und Sohnemann bei den Schwiegereltern einreiten. Anerkennende Kommentare wie: „Du bist wirklich die ganze Strecke mit dem Rad gefahren“ mit einer lässigen Handbewegung und einem siegessicheren „Es war leichter als ich dachte“ herunterspielen. Stattdessen stand er da wie ein Häuferl Elend, zusammengekrümmt wie ein altes Mutterl und zitternd wie ein überzüchteter Zwergpinscher. Am liebsten hätte er den um zwei Köpfe kleineren Schwiegervater gefragt: „Kannst du mich bitte in den zweiten Stock hinauftragen? Kann mich die Schwiegermutter heiß baden und dann trockenlegen? Gibt’s a warmes Supperl? Kann mich bitte jemand erschießen und von meinem Leid und meiner Schmach befreien?“ Er schaffte es schließlich doch selbst irgendwie die Stiegen hoch und in die Dusche, bevor er sanft auf der schwiegerelterlichen Couch entschlummerte, um sich an den angeregten Familiendiskussionen nur mehr mit dem einen oder anderen Grunz- oder Schnarchgeräusch zu beteiligen.

Doch seine Zeit mit heroischen Familien-Ankünften sollte noch kommen. Und es sollte die schlimmste, aber nicht letzte Niederlage am Präbichl gewesen sein. Der Präbichl sollte ihm bis zum heutigen Tag als heimtückischer Erzfeind erhalten bleiben. Wettertechnisch sollte der Berg Jahre später noch einen drauf setzen und ihn noch ein zweites Mal zum Absteigen zwingen. Aber das ist eine andere, nicht ganz so traurige Geschichte ...

3 Bianchi ist ein italienischer Fahrzeughersteller, der mittlerweile in schwedischem Besitz ist. Bianchi gehört zu den Pionieren der Fahrradhersteller und stellte in der Anfangszeit ausschließlich Fahrräder her.

4 Miguel Indurain ist ein ehemaliger spanischer Radrennfahrer. Er zählt mit fünf Siegen bei der Tour de France, zwei Siegen beim Giro d’Italia, je einem Olympiasieg und einer Weltmeisterschaft im Einzelzeitfahren sowie einem Stundenweltrekord zu den erfolgreichsten Radrennfahrern der Geschichte.

5 Spitzname, den die Presse Miguel Indurain aufgrund seiner Dominanz bei der Tour de France gab.

6 Der Begriff Peloton (von franz.: pelote = Knäuel) bezeichnet im Straßenradsport das geschlossene Hauptfeld der Fahrer.

7 Ein Besenwagen ist ein Fahrzeug, das bei Straßenradrennen hinter dem Fahrerfeld fährt und die Teilnehmer aufnimmt, die das Rennen aufgegeben haben. Teilnehmer, die auf Grund von Erschöpfung, Krankheit oder einer Verletzung in den Besenwagen einsteigen, müssen dabei ihre Startnummer abgeben.

8 41 Zähne am vorderen Zahnkranz, 25 am hinteren – eher ungeeignet zum Bergfahren, wenn man kein Profi ist.

Der Weg frisst das Ziel

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