Читать книгу Für mich bist du ein Wunder - Andi Weiss - Страница 10
ОглавлениеLeid und Sinn
Als ich noch als Psychotherapeutin praktiziert habe, suchte einmal eine junge Frau Hilfe bei mir mit den alarmierenden Worten: „Mich will doch keiner mehr! Ich bringe mich um!“ Was war passiert? Ihr Gesicht war nach einem schweren Auffahrunfall, bei dem sie mit voller Wucht gegen die Windschutzscheibe ihres Autos geprallt war, zerschnitten und entstellt. Mehrere Operationen und Hauttransplantationen waren wenig erfolgreich verlaufen. Ihr Mann hatte sich daraufhin von ihr getrennt.
Welch ein Leid! Ich konnte es ihr gut nachfühlen, doch Mitleid wäre das Letzte gewesen, das ihr genützt hätte. So haben wir geistig miteinander gerungen. Gerungen um eine Versöhnung mit dem Unabänderlichen, um eine neue Einstellung, um eine Sichtweise, die es ihr erlauben würde, zu sich und zu ihrem Leben (trotzdem) Ja zu sagen. Dabei war ich vorsichtig und zurückhaltend. Man darf nicht mit plumpen Tröstungen kommen, wenn man selbst keine analoge Leidbewältigung vorzuweisen hat. Die Achtung vor dem leidenden Menschen gebietet es, eher wenig als zu viel zu reden.
Doch irgendwann erschien ein erstes, zartes Lächeln auf dem gemarterten Gesicht der jungen Frau. Es war der Beginn einer aufkeimenden Zuversicht, und es geschah, nachdem ich ihr folgende Überlegung angeboten hatte: „Mit diesem Schicksalsschlag, dem Verlust der Schönheit Ihres Gesichts, haben Sie zugegebenermaßen viel verloren. Aber Sie haben ein präzises ‚Messgerät‘ erworben. Wann immer Sie jemanden kennenlernen, können Sie ihn mühelos ‚testen‘, ob er die menschliche Qualität besitzt, ein echter Freund zu sein, oder ob er an unwichtigen Dingen und Äußerlichkeiten hängt und klebt. Sie haben gleichsam einen ‚Geigerzähler‘ in der Hand, mit dem Sie wertvolles Metall suchen können, nur dass es sich in Ihrem Fall um charakterstarke Menschen handelt, die Sie orten können. Ihr Mann zum Beispiel hat diesen Test nicht bestanden. Nicht Ihre äußeren Mängel waren daran schuld, sondern seine inneren Mängel, die Sie ohne Ihr Handikap vielleicht erst sehr viel später erkannt hätten. Wenn Sie nun wieder einen lieben Freund suchen und etwas länger warten müssen, um einen zu finden, dann deshalb, weil Sie Ihre Zeit nicht mit flüchtigen Bekanntschaften verschwenden müssen, wie es andere Frauen oft tun, die kein Instrument besitzen, das ihnen anzeigt, ob sie um ihrer selbst willen geliebt werden oder nicht. Sie hingegen haben die Möglichkeit, dies schnell festzustellen. Denn wer Sie wahrhaftig und aufrichtig mag, der wird sich nicht an Äußerlichkeiten stoßen, im Gegenteil: Er wird Sie wegen Ihrer Tapferkeit bewundern und wegen Ihres Leides umso inniger behüten und beschützen. Wer Sie hingegen wegen Ihrer Narben meidet, der hätte sich sowieso nicht für eine Gefährtenschaft geeignet. Geben Sie den Glauben an eine innige Beziehung nicht auf! Gütige und wertvolle Menschen gibt es eben wenige. Aber es gäbe auch nicht mehr, wenn Sie die Schönheit einer Filmdiva hätten; nur würden Sie sie dann kaum unter Ihren Mitmenschen erkennen. Durch Ihren Unfall haben Sie die Gabe erhalten, ‚die Spreu vom Weizen zu trennen‘, und das kann unter Umständen vorteilhafter sein als die makellosesten Gesichtszüge, die doch in ein paar Jahrzehnten verwelken.“
Das Lächeln, das bei diesen Worten über die entstellten Züge meiner Patientin huschte, war der Startschuss für einen neuen Lebensmut. Es dauerte nicht lange, und sie unternahm wieder Ausflüge und bewegte sich ungezwungen in Gesellschaft anderer jungen Leute, die sie – zu ihrer und meiner Überraschung – fast ausnahmslos herzlich und unkompliziert in ihrer Gemeinschaft aufnahmen – ganz so wie sie war. Mit dieser Erfahrung wuchsen ihr Selbstbewusstsein und ihr Lebensmut.
Die obige Geschichte habe ich bei einem meiner Vorträge auf einem Kongress erzählt. Danach kam eine unförmig dicke Frau auf mich zu und bedankte sich überschwänglich bei mir. Sie sagte, sie leide an einer Drüsenerkrankung und könne ihr Gewicht nicht kontrollieren. Sie habe deswegen die grässlichsten Minderwertigkeitsgefühle. Doch ab sofort werde sie diese abstellen und ihren Körperumfang als „Testinstrument“ betrachten, das sie befähige, ihre Mitmenschen besser einzuschätzen. Wer sie wegen ihres Übergewichts ablehne, der dürfe sie ruhig verlassen. Der fehle ihr nicht. Wer sich ihr jedoch trotz ihres Übergewichts freundschaftlich zuwende, der habe sie wirklich gern. Auf den könne sie bauen. Dieser Gedanke helfe ihr ungemein …
Meine Erfahrung ist, dass sich viele Menschen unnötige Selbstwertprobleme machen, nur weil sie einem Schönheitsideal nicht entsprechen. Frauen leiden jahrzehntelang an einem zu kleinen Busen, an dünnen Haaren, an kurzen Beinen, an einer krummen Nase usw. Männer leiden jahrzehntelang an einer kleinen Statur, an einer „Hühnerbrust“, an schlaffen Armmuskeln, an einer frühen Glatze usw. Dabei kommt es im Leben auf solche Attribute wenig an. Man liebt das Wesen einer Person, ihre positiven Eigenschaften, ihr sonniges Gemüt, ihre kleinen Eigenheiten und speziellen Talente. Im besten Fall liebt man die Person selbst, erschaut sie mit den „Augen der Seele“ in ihrer Einzigartigkeit und Einmaligkeit. Was die physischen Augen dann sehen – ihre Haare, Haut, Figur etc. – tritt zurück. Natürlich ist ein harmonischer Anblick immer erfreulich, und jeder vernünftige Mensch wird alles tun, um sich gepflegt und geschmackvoll zu präsentieren, doch das, worauf es in dauerhaften Beziehungen ankommt, ist auf höherer Stufe angesiedelt.
In diesem Zusammenhang haben es zwei Personengruppen extrem schwer und zwar die bildschönen Frauen und die reichen Männer. Sie werden umschwärmt und begehrt. Aber leider wissen sie nie, ob bei einer Annäherung seitens einer anderen Person sie gemeint sind oder ihre hübschen Gesichtszüge bzw. ihre dicken Brieftaschen. Nie können sie sicher sein, dass sie selbst geliebt werden; dass das geliebt wird, was sie sind, unabhängig von dem, was sie haben bzw. zu bieten haben. Ähnlich schwer haben es berühmte Leute, weshalb ihr Privatleben häufig von Beziehungskrisen durchgeschüttelt wird. Sie sind nicht zu beneiden.
Ein anderer Aspekt ist, ob man sich selbst gefällt. Narben im Gesicht, wie sie meine Patientin hatte, tun bei jedem Blick in den Spiegel weh. Das ist keine Frage. Auch für Frauen, deren Brüste wegen Krebsbefall amputiert werden mussten, ist der Anblick des nackten Körpers im Spiegel oft schwer zu ertragen. Was da noch helfen kann, ist einzig und allein die tiefe Überzeugung, dass zum Menschsein mehr dazugehört als der körperlich-seelische Organismus, der unser Menschsein ermöglicht. Eigentliches Menschsein zeichnet sich in seiner geistigen Dimensionalität ab, in seiner „Gotteskindschaft“, wie man es religiös ausdrücken würde. „Die Eltern geben bei der Zeugung ihre Chromosomen an ihre Kinder weiter – aber sie hauchen ihnen nicht den Geist ein“, hat mein einstiger Lehrer Viktor E. Frankl geschrieben. Dank dieser Geistigkeit ist der Mensch in der Lage, mit äußeren und inneren Gegebenheiten auf persönliche Weise umzugehen und sein Leben selbständig zu gestalten. Es wohnt aber auch die Wertefühligkeit, Gläubigkeit und Sehnsucht nach Sinn in ihm, die nichts anderes ist als eine zarte „Rückerinnerung“ des Geschöpfs an seinen Schöpfer. Wer ein solches Menschenbild hat, der weiß sich in seinem innersten Kern heil und unzerstörbar, weiß sich „urangenommen“. Da fällt dann beides leichter: ein eventuelles Nichtangenommensein seitens irgendwelcher Mitmenschen, wie auch die Selbstannahme trotz irgendwelcher körperlicher Defekte.
Prof. h.c. Dr. Elisabeth Lukas, emeritierte Hochschuldozentin, Jahrgang 1942, Perchtoldsdorf bei Wien