Читать книгу Für mich bist du ein Wunder - Andi Weiss - Страница 7
ОглавлениеKeine Herzensverhärtung feststellbar
Wenn man bei ihnen im dritten Stock klingelte, bewegten sich parterre die Gardinen. Schritte schlurften herbei, die schrundige Holztür des abgerockten Mehrfamilienhauses öffnete sich, eine grimmige Frau musterte einen geringschätzig und keifte dann ins Treppenhaus hinauf: „Euer Westbesuch ist wieder da!“
Wenn ich – etwa alle eineinhalb Jahre – das junge Theologiestudentenpaar im Osten Berlins besuchte, unterhielten wir uns oben in ihrer Mansardenwohnung im stickig warmen Geruch aus Braunkohle-Ofen, Plastik-Bodenbelag und F-6-Zigaretten, nur leise und lieber bei laufendem Rasierapparat oder Fön. Die Bude war verwanzt. Eine Concierge als Spitzel im Hauseingang genügte der Staatssicherheit nicht.
Das Wunderbare an diesen Freunden in der DDR: Man konnte mit ihnen offen über die gegenseitige Schenkerei sprechen: Natürlich freuten sie sich über Kaffee, Südfrüchte, schicke Klamotten, verbotene Bücher und Schallplatten. Aber: Der staatlich verordnete Mangel machte sie zu artig dankbaren Kindern und mich zum gönnerhaften West-Weihnachtsmann. Diese schiefe Ebene der Beziehung rückten wir gemeinsam radikal waagerecht. Dass ich unter westdeutschen Bedingungen keineswegs reich und sie gemessen am Niveau ostdeutscher Lebenshaltungskosten keineswegs arm waren – das mussten wir einander nicht beteuern, das sahen wir ein in Gesprächen über Neid, Gier, Statussymbole, Stolz, Ehrgefühl, Scham, Arroganz, Unterwürfigkeit. Es waren geradezu pfingstliche Verständigungswunder, politische Versachlichungswunder, persönliche Ehrlichkeitsmirakel. Es gab bewegende Gebete bei Tisch und berührende Gottesdienste in der Kirche. Als sie nach Ungarn in Urlaub fuhren, war ich mir sicher: Das wird ein Fluchtversuch. Sie wollen über Österreich rauskommen. Nein, der nächste Anruf kam wieder aus der Jungen Gemeinde in der gefährlich brodelnden und bröckelnden DDR. Ein Treuewunder, ein Solidaritätswunder, ein Mutwunder:
Immerhin hatten am 4. Juni 1989 die regierenden Kommunisten in Peking rund 3.000 Demonstranten mit Panzern niedergewalzt, und es war nicht ausgeschlossen, dass die SED-Chefs in Berlin dasselbe tun würden.
Dann fiel die Mauer. Dann fiel die Ostmark. Dann fiel die Treuhand ein und über alles her. Dann fielen die Masken. Und in vielen Kirchen fiel vieles aus. Opfer und Mittäter waren schwer zu trennen, Wendeverlierer und Wendegewinner gab es in denselben Familien.
Mir fielen die Vorurteile auf: Einst hochwillkommene Weihnachtsmänner aus dem Schlaraffenland waren jetzt beargwöhnte Raubritter aus dem Heuschreckenland. Einst geachtete Widerständler gegen die SED waren jetzt die ersten Übersiedler mit Reihenhaushälfte in Westfalen. Manche Friedensbeter und Kerzen-Demonstranten von 1989 richteten sich in heimlichem Selbstmitleid ein. Oder richteten ihre Enttäuschung gegen alle Wessis, die ja keine Ahnung hatten und nicht mitreden konnten und besser zu Hause geblieben wären und überhaupt…!
Im dritten Stock klingeln musste ich nicht mehr: Die Mansarde war nach Grundsanierung durch einen Investor unbezahlbar geworden für unsere Freunde. Die Stasi-Frau parterre war Sachbearbeiterin in einem Berliner Bezirksamt geworden, war also quasi in ihrer Branche geblieben. Die Junge Gemeinde gab es mangels junger Leute nicht mehr.
Das Wunder? Es begegnete mir in jenen DDR-Christen, die sich gerade nach dem Wendewunder der Herzensverhärtung widersetzten. Für sie, für etliche unserer Freunde „drüben“, fiel mir zehn Jahre nach dem Mauerfall ein Text ein. Johannes Nitsch hatte ihn vertont und Christine Rösch, Diakoniepfarrerin in Radebeul bei Dresden, gesungen:
Wir mussten uns so oft verweigern,
zunächst und allererst dem Neid.
Man wusste uns den Frust zu steigern
und auch die Minderwertigkeit.
Und jeden Tag „was willste machen“
und jedes Jahr „so ist’s nun mal.“
Da klang es bitter, unser Lachen.
Die alten Witze klangen schal.
Sich der Erwartung nicht zu beugen,
stets arm und dankbar dazusteh’n,
vorm großen Mann den Kopf zu neigen
und dabei auch noch aufrecht gehn
war meistens schwierig, manchmal quälend.
Ein Hin und Her aus Stolz und Gier.
Das strengte an. Man fühlt sich elend.
Daran lief manche Freundschaft leer.
Wir mussten uns oft widersetzen
den Lügen und der Kumpanei
und jenen Ängsten, die uns hetzten:
Die große Chance sei vorbei.
Als nichts mehr ging und viele gingen,
gab Gott uns Kraft, nach Haus zu fahr’n
und nicht den Abgesang zu singen,
nein, auch die Hoffnung zu bewahr’n.
Wir weigerten uns auch zu glauben,
das Leben werde dadurch gut,
dass man sie schnappt, die sauren Trauben
und falschen Hasen aus dem Hut.
Dem faulen Zauber sich zu sperren,
dass nur wer hat, auch etwas ist –
fällt schwer unter den neuen Herren,
seit Habgier eine Tugend ist.
Lasst Euch die Herzen nicht verhärten
zur Zeit der Überheblichkeit.
Was wertvoll war, wird Gott bewerten
mit Gnade und Barmherzigkeit.
Dass Euch die Seele nicht verkrustet,
schafft Christus selbst, der in Euch wohnt,
von dem Ihr ahntet oder wusstet,
dass jeder Tag mit ihm sich lohnt.
Andreas Malessa, Theologe, Hörfunkjournalist, Buchautor, Jahrgang 1955, Hochdorf bei Stuttgart, www.andreas-malessa.de