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Die Liebe spricht für sich

Auf den ersten Blick wirkt die Mutter von Caro ein bisschen so, wie ich mir als Kind eine Hexe vorgestellt habe. Tiefliegende, dunkle Augen unter der gerunzelten Stirn fixieren mich misstrauisch. Sogar das spitze Kinn passt in mein Bild. Nur der Besen fehlt. Dafür hat sie aber eine hohe, schrille Stimme. Diese bohrt sich in mein Ohr, während sie alle Schandtaten und Verfehlungen von Caro aufzählt und allen Ärger, den sie andauernd und immer und immer wieder mit ihrer Tochter hat. Diese sitzt still da und blickt aus dem Fenster. Einige Male – zu Beginn war sie noch wütend geworden – hatte sie versucht, sich zu verteidigen. Inzwischen hat sie aufgegeben. Vorübergehend. Gerade erzählt die Mutter, Caro quäle nun schon den Hund, sie schlage ihn und trete nach ihm. Ich sehe Caro an. Sie schaut weg. Tränen füllen ihre Augen. „Kein Wunder, wenn ich sie dann mal härter anfasse. Ich kann nicht mehr. Ich kann für nichts garantieren. Das nächste Mal schmeiße ich vielleicht den Stuhl nach ihr.“ Eine wütende, verzweifelte Hexe. Ohne Besen zum Glück. Wir vereinbaren, dass es eine Pause braucht. Nach vielen gescheiterten Versuchen des Zusammenlebens wollen beide erst mal Ruhe voneinander. Caro geht vorübergehend in eine Einrichtung, in der Kinder wohnen, die in der selben oder einer ähnlichen Situation sind. Sie kommt weiterhin jede Woche zu mir, sie wirkt entlastet. Es geht ihr gut. Heute trifft sie zum ersten Mal in der Therapiesitzung auf die Mutter. Wir haben eine gemeinsame Stunde vereinbart. Wie Fremde sitzen sie sich gegenüber. Die Mutter ist gekränkt. „Da geht’s dir jetzt wohl besser, weil du da alles darfst, oder?“ Jetzt ist gut, Frau Hexe. Wir sind immerhin heute hier, um „Psychokram“ zu machen. Also: Auf geht’s! Ich habe ein neues Spiel. Es heißt Gefühlspantomime. Einer zieht eine Karte, verdeckt. Ich erläutere: „Darauf sehen Sie ein Bild von einem Menschen, der irgendein Gefühl ausdrückt. Das spielen Sie nach. Und wir müssen raten, was es ist. Sie fangen an, okay?“ „Okay.“ Die Hexe zieht „glücklich“. Immerhin mimt sie so, dass wir es erraten. Und sogar noch lachen. Es läuft gut. Ich ziehe „wütend“. Auch meine Darbietung kommt gut an, das Gefühl scheint aber unter den Anwesenden auch bekannt zu sein. Jetzt kommt Caro. Sie nimmt die Karte. Sie spielt. Und spielt. Was macht sie denn da? Steht in der Ecke und guckt traurig zu ihrer Mutter. Spielt sie überhaupt noch? Es dauert ewig. Keiner sagt was. Irgendwann sage ich: „Ich komm nicht drauf.“ Ihre Mutter, ganz leise und ruhig, sieht sie an und flüstert: „Ich weiß es“. Caro wartet. Die Mutter flüstert: „Vermissen?“ Caro nickt. Ich bin raus. Lange sitzen beide aneinander geschmiegt, ohne zu sprechen. Die Liebe spricht für sich.

Martina Weiss, Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche, Jahrgang 1978

Für mich bist du ein Wunder

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