Читать книгу Robin Gibb und die Bee Gees - André Boße - Страница 6
ОглавлениеDass ihre Söhne Barry, Robin und Maurice über ein besonderes gesangliches Talent verfügten, entdeckte Barbara Gibb an einem Samstagnachmittag im Jahr 1957. Wie so oft war Großvater Gibb zu Gast in der Mietwohnung von Sohn Hugh und dessen Familie in Manchester, um sich ein Cricket-Match im Fernsehen anzuschauen. Als Barbara die Wohnungstür öffnete, hörte sie laute Musik. „Soll ich den Jungs sagen, dass sie das Radio leiser drehen sollen?“, rief sie ihrem Schwiegervater zu. „Das wird nichts nützen“, entgegnete der, „das ist nicht das Radio, das sind die Jungs, die da singen!“ Ungläubig folgte Barbara Gibb dem Gesang bis ins Kinderzimmer. Was sie da hörte, klang nicht nach ein paar Kids, die singen. Dafür klang es einfach zu gut. Zu ausgefeilt. Zu harmonisch. Doch da saßen ihre drei Söhne auf dem Bett und sangen Popsongs – und zwar formvollendet im harmonischen Dreiklang!
Großvater Gibb war weniger überrascht als seine Schwiegertochter, schließlich hatte er die erstaunlichen Gesangseinlagen seiner drei Enkel schon öfter gehört; sie waren gewissermaßen der Soundtrack zu seinen Cricket-Nachmittagen vor dem Fernseher. Dann versammelten sich Barry (geboren am 1. September 1946) und die Zwillinge Robin und Maurice (geboren am 22. Dezember 1949) im Spielzimmer, stülpten leere Konservendosen über Haarbüsten und sangen so gut in ihre „Mikrofone“, dass ein jeder den Eindruck bekommen konnte, diese Stimmen gehörten Profis. Für ihre Gesangseinlagen mussten die Brüder nicht einmal alle zugleich in einem Raum sein: Es schien, als unterstützten sich ihre Stimmen in traumwandlerischer Sicherheit gegenseitig – auch wenn der eine im Wohnzimmer, der andere im Bad und der dritte in der Küche weilte. „Zwischen den dreien gab es von Anfang an etwas ganz Besonderes“, beschreibt Barbara Gibb die Beziehung der Brüder.
Heute etwas mit Begeisterung zu machen und morgen schon die Lust daran zu verlieren, ist ein übliches Verhalten von Kindern, da muss man nur die Millionen Eltern fragen, die ihren Söhnen und Töchtern Klavierunterricht verordnet oder ein Haustier geschenkt haben. Doch Robin, sein Zwillingsbruder Maurice und der gut drei Jahre ältere Barry blieben der Musik treu. Regelmäßig versammelten sich die drei Brüder im Kinderzimmer, spielten Popstars – und sangen bereits wie ebensolche. Ihr Vater Hugh wird sich beim Anblick seiner Söhne manches Mal in ihnen wiedererkannt haben, denn auch er – geboren 1916 in Manchester – träumte als Jugendlicher den Traum eines Lebens ohne die Zwänge des üblichen beruflichen Alltags. Er war ein musikalischer Freigeist, der keinerlei Drang verspürte, wie die meisten Männer in der Fabrik zu arbeiten, am Freitag mit dem Wochenlohn nach Hause zu kommen und die Hälfte davon schon am Wochenende in den Pubs zu vertrinken. „Ein solches Leben war damals normal, und ein anderer Ablauf war in den Augen der Leute nicht erwünscht“, erinnerte er sich später. „Ein Musiker zu sein bedeutete dagegen, das Leben eines Vagabunden zu führen. Aber genau das war es, was ich wollte!“
Also rüstete sich Hugh Gibb als junger Mann mit einem Schlagzeug aus und wurde Drummer – trotz aller Vorbehalte aus Familie und Nachbarschaft. Zu dieser Zeit war das gar keine schlechte Berufswahl, denn mit Beginn des Zweiten Weltkriegs hatten Unterhaltungsorchester in England Hochkonjunktur. Die britische Bevölkerung verlangte nach Zerstreuung, und selbst die Regierung fand, ein wenig beschwingte Musik würde den Briten in dieser dunklen und schrecklichen Zeit guttun. 1940 gründete Hugh Gibb „The Hugh Gibb Orchestra“. Er verschaffte seiner Gruppe, in der er das Schlagzeug spielte, ein regelmäßiges Engagement in den Mecca Ballrooms der britischen Firma Mecca, die überall im Land ihre legendären Tanzveranstaltungen organisierte.
Im Jahr 1941 verguckte sich Hugh Gibb an einem dieser Abende in die damals 20 Jahre alte Barbara May Pass. Weil er befürchtete, das Mädchen könne den Saal verlassen, bevor er mit seiner Band fertig war, forderte er einen seiner Schlagzeugschüler auf, die Drums zu übernehmen. Und so tanzte Hugh Gibb zu den Klängen seines eigenen Orchesters zum ersten Mal mit seiner späteren Frau – fraglos eine Geschichte wie aus einem romantischen Bee-Gees-Song. Auch Barbara war eine gute Sängerin, doch Hugh Gibb nahm sie nicht in seine Band auf. „Ein Musiker in der Familie ist genug“, sagte er streng. Was diese Worte wirklich wert waren, wird er vielleicht schon Ende der Fünfzigerjahre geahnt haben, als seine Jungs noch keine Teenager waren – und trotzdem schon so herzzerreißend schön im Dreiklang sangen.
Hugh Gibb hatte zwei Möglichkeiten, mit der Leidenschaft seiner Söhne umzugehen: Er konnte seine Jungs entweder so schnell wie möglich von der Musik wegbringen und ihnen stattdessen die Notwendigkeiten eines „normalen“ Lebens vermitteln. Oder sie fortan fördern, wie es im fernen Amerika zeitgleich und über jedes sinnvolle Maß hinaus ein Mann namens Murry Wilson mit seinen Söhnen Brian, Dennis und Carl tat, die später als die Beach Boys bekannt werden sollten. „Wir waren aber nicht so eine Art von Familie“, erinnert sich Robin, angesprochen auf die Wilsons und die Jacksons, auf diese Familien, die sich zu regelrechten Musik-Unternehmen entwickelten. „Unser Vater verstand zunächst gar nicht, woher wir dieses Wissen um den Harmoniegesang überhaupt hatten. Es hatte uns ja niemand das Singen beigebracht. Aber auch später war er keiner dieser bestimmenden Show-Business-Dads, die ihre Kinder auf die Bühne zwingen. Im Gegenteil, meine Eltern waren am Anfang eher besorgt, weil sie nicht wussten, wo all das enden würde und ob sie es unterstützen sollten oder nicht.“
So selbstbewusst die drei Brüder auf ihrer fiktiven Bühne im Kinderzimmer gewesen sein mögen: Auf den Straßen und in der Schule hatten sie es bedeutend schwerer. Die Zeiten waren hart, und als die Gibbs 1955 nach einigen Jahren auf der Isle Of Man, wo Hugh Gibbs Orchester engagiert gewesen war, nach Manchester zurückkehrten, besorgte sich ihr Vater zusätzlich zu seinen abendlichen Gigs gleich zwei Brotjobs als Verkäufer in einem Fernsehladen sowie als Vertreter für Kühlschränke, da das Einkommen als Orchesterleiter nicht mehr ausreichte. Auch Barbara Gibb ging arbeiten, schließlich galt es eine sechsköpfige Familie zu ernähren (die drei Jungs hatten noch eine ältere Schwester, Lesley). Die Brüder waren daher oft unbeaufsichtigt – und stellten dabei allerhand Unfug an. Robin zum Beispiel entwickelte eine regelrechte Obsession für Feuer. Nichts war vor seinen Zündeleien sicher, einmal erwischte ihn sogar die Polizei, als er eine alte Holzbaracke in Brand steckte. Später schätzt Robin seine Kindheit so ein: „Besonders in Manchester gab es zu dieser Zeit viele überdrehte Kids auf der Straße. Das lag an der Umgebung, und wir waren als Kinder ein typisches Produkt dieser Stadt. Aber das Gute an unserer Kindheit war, dass wir schon in jungen Jahren ein großes Ziel verfolgten – und das war die Musik. Wir machten zwar gelegentlich Stress, aber wenn es hart auf hart kam, dachten wir doch: Wir wollen keinen Ärger, wir wollen Musik machen.“
Nach und nach begriff Hugh Gibb, wie ernst Jungs mit der Musik meinten. Ganz ohne sein Zutun übten Barry, Robin und Maurice an der Perfektion ihres Harmoniegesangs – und träumten sehr zielstrebig davon, entdeckt und berühmt zu werden. Schon bald reichte ihnen daher das Kinderbett nicht mehr als Bühne. Die Gibbs wollten echtes Publikum! Einen ersten Eindruck davon, wie es ist, vor richtigem Publikum und mit echten Mikrofonen statt mit Haarbürsten zu singen, bekamen die Jungs bei einer Vormittagsvorstellung im „Gaumont“-Kino in Manchester. Als Pausenfüller zwischen den Filmchen mit Dick & Doof oder den Kleinen Strolchen bot man Kindern hier die Gelegenheit, zu den Klängen ihrer Lieblingsschallplatte zu posieren – eine Art Vorläufer der Mini-Playback-Show. Eine Chance wie gemacht für die Brüder Gibb! Nur dumm, dass einer der Brüder auf dem Weg zum Kino die Schallplatte zerbrach, die man sich ausgesucht hatte: Wake Up Little Susie von den Everly Brothers, eine Single, die die große Schwester Lesley kurz zuvor zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Plötzlich fehlte das Playback zu den Posen. Doch Wegrennen galt nicht, wie sich Robin später erinnert: „Barry hatte eine Gitarre mitgebracht, um beim Posieren echter zu wirken. Also schlug er vor, dass wir auf der Bühne tatsächlich singen sollten.“ Gesagt, getan – und den Manager des Kinos überzeugt: Er gab den Jungs einen Schilling Gage, und, wichtiger noch: Er lud sie ein, in der nächsten Woche wiederzukommen.
Neben diesen ersten Engagements stellten sich die Brüder – oft begleitet von zwei Freunden, die zu ihren Stimmen klatschten und damit den Rhythmus vorgaben – an eine belebte Straßenecke der Stadt und sangen ihre Lieder. Barbershop-Songs wie Lollipop, ein Hit von den Chordettes, die frühen Singles von Elvis Presley oder Stücke von den Everly Brothers, zwei amerikanischen Brüdern, die ihren Traum bereits erfüllt hatten und in den Jahren 1957 und 1958 große Popstars waren: Bye, Bye Love, Wake Up Little Susie oder All I Have To Do Is Dream. Und weil die Everly Brothers in Gegensatz zu den Gibb Brothers nur zu zweit waren, wurden Barry, Robin und Maurice kreativ und erfanden eine dritte Stimme dazu. So lernten die drei sehr schnell, wie es gelingen kann, Harmonie zu erweitern – eine Kunst, die später die großen Balladen der Bee Gees kennzeichnen sollte.
Doch ihre Vorbilder fanden die Gibbs nicht nur in Amerika, auch in England starteten die ersten Popkarrieren: Tommy Steele, das erste Teenager-Idol Großbritanniens, beeindruckte auch die drei Schuljungen aus Manchester. Die späten Fünfzigerjahre waren die Anfangstage der Popkultur – und die Gibbs, obwohl noch nicht einmal in den Teenagerjahren, waren ungeheuer fasziniert von der Idee, ein Teil dieser Kultur zu werden. Wichtig dabei: ein cooler Bandname (zunächst nannten sie sich The Rattlesnakes, kurz danach tauften sie sich in Wee Johnny Hayes & The Blue Clats um), die richtigen Gesten und Posen sowie das Talent, Melodien mit Herz und Seele zu singen. Weniger wichtig: echte Musikkenntnisse. „Uns hat niemals jemand Noten beigebracht“, so Robin Gibb. „Wir können das bis heute nicht. Ich könnte es morgen lernen, aber dafür gibt es keinen Grund.“ Statt Musikunterricht zu nehmen, lernten die Brüder ihr Melodie- und Harmonieverständnis von den Liedern, die im Radio oder auf dem Plattenspieler ihrer Eltern liefen. „Unser Hobby war es, im Radio die Stücke der damaligen Stars zu hören und uns dann zu überlegen, wie deren nächster Hit klingen könnte. So haben wir trainiert, ohne dass es uns bewusst war“, beschreibt Robin Gibb die Arbeitsweise der drei. Vater Hugh hörte daheim viel Musik: Opern, aber auch Big-Band-Sound aus Amerika. Zudem hatten es ihm die Mills Brothers angetan. Die vier aus den USA waren Meister des Harmoniegesangs und nahmen seit Ende der Zwanzigerjahre erfolgreiche Platten auf.
Bei ihren Auftritten im Kino zwischen den Filmen bekamen die Brüder Gibb oft zu spüren, dass Kinder ein gnadenloses Publikum sind: Während ihrer zumeist rund zehn Minuten langen Gigs auf der Bühne machten sich die Mitglieder einiger lokaler Kinderbanden den Spaß, die jungen Musiker auszubuhen und zu beschimpfen, denn die Kunst des vokalen Dreiklangs war auf den rauen Straßen von Manchester nur wenig wert. Die Brüder gierten daher danach, ihre Lieder endlich vor einem erwachsenen Publikum singen zu dürfen – und zwar nicht vormittags im Kino, sondern abends in einer Bar, vielleicht sogar einem Nachtclub. Da kam es gelegen, dass Vater Hugh sich mittlerweile festgelegt hatte: Er wollte seine Jungs fördern, statt ihr Talent verkümmern zu lassen. 1957 und 1958 gastierte sein Tanzorchester im Russell Street Club in Manchester, und an einem Abend im Jahr 1958 schmuggelte er seine drei Söhne durch den Hintereingang in den Club und integrierte sie ungefragt in das Programm.
Der Clubbesitzer Ernie Derbyshire sah zu seinem Erstaunen, dass die Kinder mit ihren Stimmen das Publikum begeisterten, und statt Ärger für Vater Gibb gab es sogar ein bisschen Geld für dessen Söhne. Also entschloss sich Hugh, seine Jungs weiterhin zu unterstützen – und zwar nicht nur als Türöffner, der seine noch viel zu jungen Söhne in einen Nachtclub schleuste, sondern auch als Schlagzeuger. Doch sein Einfluss auf die noch sehr junge Karriere von Barry, Robin und Maurice war viel größer, als er es damals wohl selber dachte. Der erfahrene Orchesterleiter und Schlagzeuger führte seine Jungs in die Welt des Entertainments ein und brachte ihnen Regeln und Verhaltensweisen bei, die sich vor allem Robin sehr genau merkte. Eine eiserne Regel: „Wenn du auf der Bühne stehst, musst du lächeln – egal, wie dreckig es dir geht.“ Zudem hielt Hugh seine singenden Söhne bewusst auf dem Boden der Tatsachen. Ein Lob vom Vater war so selten wie ein englischer Sommer ohne Regen; wenn der Beifall besonders laut und lang war, pflegte er lieber die Applaudierenden zu loben: „Das war ein tolles Publikum heute Abend.“
Wollte man eine musikalische Karriere beginnen, war Manchester dafür ein geeigneter Ort. Doch abseits der Auftritte im Russell Street Club war das Leben der Familie Gibb wenig rosig. Es gab finanzielle Probleme, und das typisch englische Wetter schlug Hugh und Barbara Gibb aufs Gemüt. Die vermeintliche Antwort auf all diese Probleme lag weit weit weg von Manchester: Down Under, am anderen Ende der Welt. Und so siedelte die mittlerweile siebenköpfige Familie (der jüngste Sohn Andy war im März 1958 zur Welt gekommen) im Sommer 1958 nach Australien über, wo Vater Hugh den heute seltsamen klingenden Beruf eines „Busch-Fotografen“ annahm und in abgelegenen Dörfern und Siedlungen im Westen von Australien Bilder vom Alltagsleben von Familien machte, die zuvor noch nie einen Fotoapparat zu sehen bekommen hatten.
„Teenager denken immer nur an das Hier und Jetzt. Die Zukunft spielt für sie keine Rolle“, hat Robin Gibb einmal gesagt. So kam es, dass die Brüder Gibb nicht weiter über das sinnierten, was sie in der neuen Heimat erwarten mochte, sondern die lange Überfahrt von England nach Australien nutzten, um weiter an ihrer Karriere zu basteln. Unter dem Namen Barry & The Twins unterhielten sie die Passagiere am Bord des Dampfers mit ihren Songs – zunächst wieder einmal, ohne den Eltern Hugh und Barbara davon zu berichten. „Bettzeit für die Jungs war neun Uhr abends, danach hatten Kinder an Deck nichts mehr zu suchen“, erinnert sich Barbara. „Als Hugh und ich eines Abends aus der Bar kamen, sahen wir auf dem Oberdeck eine größere Menschenmenge. Neugierig schauten wir nach, was los war: Da standen unsere drei Söhne in Pyjamas und sangen ihre Lieder.“ Den Gibbs dürfte in diesem Moment die Erkenntnis gekommen sein, dass die Familie zwar England verlassen hatte – die Träume ihrer drei Söhne, als Popstars die Welt aus den Angeln zu heben, waren jedoch mit an Bord.