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Sackgassen und tote Winkel im nationalen Geschichtsbild

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Gewöhnlich ist das Verständnis der Schweizer Geschichte in einer nationalen Perspektive gefangen. In einem eigentlichen Tunnelblick sucht dieses Verständnis in der Vergangenheit nach dem langen Weg von der alten Eidgenossenschaft zum Bundesstaat von 1848, der mit seinen drei staatspolitischen Grundpfeilern des Föderalismus, der Souveränität und der Neutralität als Vollendung eidgenössischer Staatsbildung vorgestellt wird. Historische Tatsachen, die sich nicht in dieses Bild der föderalistischen, souveränen und neutralen Schweiz fügen, gehen nicht in die nationale Erinnerungstradition ein.

Föderalismus: Ein hervorragender Erinnerungsort des nationalen Geschichtsbildes ist das Parlamentsgebäude in Bern. In den Arkadenzwickeln des Ständeratssaals finden sich Jahreszahlen, die nach dem Willen des Bauherrn die wichtigsten «politischen, für die staatsrechtliche Ausgestaltung der mittelalterlichen und modernen Schweiz massgebenden Abmachungen» vorstellen sollen.

Neun Jahreszahlen im Ständeratssaal von 1903 symbolisieren die föderalistische Bundesideologie5


Die gerade Linie von den Verträgen des Mittelalters zu den Verfassungen des 19. Jahrhunderts suggeriert, der Wille der Kantone zur Integration neuer Mitgliedstaaten und zum immer engeren staatlichen Zusammenschluss sei die treibende Kraft der Nationalgeschichte gewesen. Sie blendet aus, dass die Erweiterung der 13-örtigen Eidgenossenschaft zur 19-örtigen Eidgenossenschaft (Aufnahme der Kantone St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt 1803) allein der Vermittlung Bonapartes (1769–1821) zu verdanken war und die Aufnahme der Kantone Wallis, Neuenburg und Genf 1814/15 und damit die Bildung der 22-örtigen Eidgenossenschaft erst nach massiven Interventionen der europäischen Grossmächte glückte.

Souveränität: Die Schweizer Historiker des 19. Jahrhunderts richteten ihre Erzählung von der Entstehung der nationalen Souveränität an den Jahreszahlen 1499 und 1648 aus. Sie machten aus dem sogenannten Schwabenkrieg 1499 einen Freiheitskrieg der Eidgenossen, die mit ihrem Sieg faktisch vom Reich unabhängig geworden seien. Quer zu dieser Deutung steht allerdings die Tatsache, dass sich die Kantone auch nach 1499 noch von jedem neuen Kaiser ihre Reichsprivilegien bestätigen liessen, ein letztes Mal von Kaiser Ferdinand I. (1503–1564) im Jahr 1559. Noch wesentlich länger, bis ins 17., teilweise gar 18. Jahrhundert, brachten die eidgenössischen Obrigkeiten den doppelköpfigen Reichsadler an öffentlichen Gebäuden an.

Die Erzählung vom zweistufigen Prozess zur Unabhängigkeit vom Reich sieht im Westfälischen Frieden von 1648 den Durchbruch zur formellen Souveränität der Eidgenossenschaft. Auch sie blendet Tatsachen aus, die nicht recht zum unbedingten Souveränitätswillen der Orte passen: Der eidgenössische Gesandte Johann Rudolf Wettstein (1594-1666) verhandelte in Westfalen zuerst gar nicht um die Loslösung vom Reich, sondern um die Zusage des Kaisers, keine Basler Kaufleute mehr vor Reichsgerichte zu zitieren. Erst der französische Gesandte auf dem Friedenskongress flüsterte Wettstein die Idee ein, er solle um die Souveränität verhandeln. Der Basler Bürgermeister betrieb von nun an die formelle Klärung und völkerrechtliche Absicherung einer faktischen Unabhängigkeit, und dies zunächst gegen den Willen der katholischen Orte, die den uneindeutigen, gewohnheitsrechtlichen Zustand lieber so belassen hätten, als ihn durch unsichere diplomatische Verhandlungen zu gefährden. Frankreichs diplomatische Unterstützung war allerdings nicht uneigennützig. Es band fortan die aus dem Reich ausgeschiedenen Kantone umso enger an sich. König Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715, König ab 1643) mischte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als eigentlicher Protektor über die Eidgenossenschaft wesentlich stärker in die Angelegenheiten der Orte ein, als dies Kaiser und Reich jemals getan hatten.

Neutralität: Die Nationalgeschichte schildert auch die Entstehung dieser zentralen Maxime schweizerischer Aussenpolitik gerne als ein Stück in zwei Akten und hat hierfür die Jahreszahlen 1515 und 1815 ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Sie deutet die Niederlage bei Marignano 1515 als heilsame Lektion, die den Eidgenossen die Grenzen ihrer Macht aufgezeigt habe. Aus der Einsicht in ihre aussenpolitische Handlungsunfähigkeit hätten diese sich damals aus der europäischen Grossmachtpolitik zurückgezogen. Marignano habe sie zur Vernunft, sprich zur Neutralität gebracht. Doch blendet auch diese Sicht entscheidende Aspekte aus: Gleichzeitig mit ihrem Verzicht auf die Rolle als europäische Grossmacht knüpften die Orte über Soldallianzen engste Beziehungen zu den Grossmächten Europas. 1521 schlossen sie mit Frankreich jenes Bündnis, das bis zur Entlassung der Schweizer Regimenter in französischen Diensten 1792 das Rückgrat der eidgenössischen Aussenbeziehungen bildete. 1815 – 300 Jahre nach Marignano – hätten die Grossmächte auf dem Wiener Kongress, so will es die Meistererzählung zur Neutralität weiter, die ewige, bewaffnete Neutralität der Schweiz auch völkerrechtlich anerkannt. Was gemeinhin als späte Sanktionierung einer alten eidgenössischen Praxis durch den Kongress dargestellt wird, war nüchtern besehen eine massive Einschränkung der aussenpolitischen Souveränität der Schweiz und zugleich die Voraussetzung dafür, dass die Grossmächte die weitere Existenz der Eidgenossenschaft befürworteten.

Den drei nationalgeschichtlichen Erzählungen ist eines gemeinsam: Sie stellen die Geschichte des Föderalismus, der Souveränität und Neutralität der Schweiz als besondere Leistung und alleiniges Verdienst der Eidgenossen dar. Kriegerische Tapferkeit, höhere Einsicht, freiwillige Selbstbeschränkung, der Wille zur nationalen Einigkeit, die Fähigkeit zum Ausgleich und derlei politische Tugenden mehr hätten letztlich zum Erfolg schweizerischer Staatsbildung geführt.

Gegen diese einseitige, allzu selbstgefällige und vielfach schlicht falsche Sicht der Dinge nimmt diese Darstellung eine transnationale Perspektive ein. Sie fokussiert konsequent auf die Verflechtung des Landes mit dessen räumlichem Umfeld und bettet die eidgenössischen Kleinstaaten in grenzüberschreitende Kräftekonstellationen ein. Französische Historiker bezeichnen diesen transnationalen Ansatz als «histoire croisée», die anglo-amerikanischen Kollegen sprechen von «entangled history». Letztlich setzen diese Konzepte eine Binsenwahrheit der Handlungs- und Kommunikationstheorie um, wonach Individuen, Gruppen und grössere Gemeinschaften ihre Identität nicht autonom aus ihrer Selbstrepräsentation heraus entwickeln, sondern dies immer im Austausch mit sowie in Abgrenzung zu Anderen beziehungsweise Anderem tun. Dies gilt auch für Nationen und Staaten, die nicht als isolierte Einheiten existieren, sondern immer in Verflechtungszusammenhängen, die nicht statisch, sondern als dynamische Prozesse in Raum und Zeit zu denken sind.

Die Geschichte der Schweiz als die Geschichte ihrer Beziehungen zu Europa zu betrachten heisst, die isolierte Nabelschau aufzugeben. Die Verflechtungen des Landes und seiner Bewohner mit Europa und der Welt sind nicht als Beziehungen zu einem Äusseren und Fremden zu begreifen, sondern als entscheidender Faktor für die Gestaltung der Verhältnisse im Lande selber, die ohne deren Berücksichtigung unverständlich blieben.

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