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Identitätsbildung und Alteritätserfahrung: die Gründung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert
ОглавлениеSeit wann kann sinnvollerweise von einer Eidgenossenschaft mit Beziehungen zu einem weiteren Umfeld die Rede sein? Die Frage setzt die Existenz eines Gebildes voraus, das sich selber als etwas Eigenständiges betrachtete und auch von aussen als solches wahrgenommen wurde.
Die historische Forschung hat schon lange die Vorstellung von der Gründung der Eidgenossenschaft am 1. August 1291 oder auf dem Rütli am Jahreswechsel 1307/08 verabschiedet. 1291 schlossen drei Gemeinden in der Innerschweiz ein Landfriedensbündnis ab, ohne damit einen Staat machen zu wollen. Um 1470 wurde erstmals die heroische Gründungserzählung vom Rütlischwur und dem tapferen Freiheitskampf der Waldstätte gegen adelige Vögte aufgezeichnet, und knapp 100 Jahre später datierte der Glarner Gelehrte Aegidius Tschudi diese Geschehnisse erstmals auf den Jahreswechsel 1307/08. Nachdem der Schweizerische Bundesrat in den 1890er-Jahren den 1. August offiziell zum Nationalfeiertag erklärt hatte, verschmolzen die beiden ursprünglich eigenständigen Erzählungen im Geschichtsbild der breiten Bevölkerung zur irrigen Vorstellung, am Nationalfeiertag vom 1. August gedenke man jeweils des Rütlischwurs aus dem Jahr 1291.
Die entscheidenden Schritte zur Ausbildung einer unverwechselbaren eidgenössischen Identität erfolgten im 15. Jahrhundert. Im Begriff «Eidgenossenschaft» verdichten sich fundamentale Strukturmerkmale der politischen Organisation und Kultur der Schweiz, deren Wurzeln ins Spätmittelalter zurückreichen. Als politischer Akt impliziert der geschworene Zusammenschluss mehrerer zu einer Genossenschaft zweierlei: Der Eid stiftet zwischen eigenständigen Parteien einen neuartigen politischen Zusammenhang. Eine Föderation setzt voraus, dass sich die Parteien als politisch handlungsfähige Partner anerkennen, die ihre politischen Beziehungen autonom gestalten können. Bündnisse stiften Beziehungen zwischen Parteien, die für die Wahrung gemeinsamer Interessen näher zusammenrücken, dabei aber grundsätzlich ihre Eigenständigkeit bewahren wollen.
Nun gab es im Spätmittelalter in Europa nicht nur die eine (später Schweizerische) Eidgenossenschaft, vielmehr wimmelte es geradezu von Bündnissen. In einer Zeit starker machtpolitischer Konkurrenz, als die Machtinteressen unzähliger Herrschaftsträger zusammenstiessen, schien es Königen, Fürsten, Adeligen, Klöstern und Gemeinden ratsam, sich auf viele Seiten hin abzusichern. Bündnisse schufen politische und militärische Sicherheit. Zugleich setzten sie im Machtbereich der Bündnispartner den Landfrieden durch, das heisst sie stellten auf dem Weg vertraglicher Vereinbarung Rechtssicherheit und Gewaltfreiheit her in einer Zeit, die noch keinen Staat als Träger des legitimen Gewaltmonopols kannte.
Im nachmals schweizerischen Raum besass die bündische Bewegung ein starkes kommunales Fundament. Die sogenannten Länder – grössere ländliche Gerichtsgemeinden wie Uri oder Schwyz – waren im Spätmittelalter ebenso wie die Städte des Mittellandes im Wettlauf um Allianzpartner sehr aktiv. Mit ihren Bündnissen wollten die Städte und Länder im 13. und 14. Jahrhundert allerdings keinen Staat gründen. Erst die nationalpatriotische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat aus der Vielzahl der Bündnisse der Städte und Länder im Spätmittelalter einige wenige ausgewählte zu eigentlichen schweizerischen Staatsgründungsakten stilisiert und die entsprechenden Urkunden zu sogenannten «Bundesbriefen» erhoben. Sie verkannte dabei die prinzipielle Offenheit der damaligen Macht- und Herrschaftslage und verkürzte in nationalgeschichtlicher Perspektive die komplexen Bündnisverhältnisse des Spätmittelalters zu einer Gründungsgeschichte, für die die sogenannten Eintritte der Kantone in den Bund die verfassunsgsgeschichtlichen Meilensteine auf dem langen Weg zum Bundesstaat des 19. Jahrhunderts bildeten.
Von welchem Zeitpunkt an verdichteten sich im schweizerischen Raum die offenen Herrschaftsverhältnisse, und warum entwickelte sich aus den Landfriedensbündnissen einiger Gemeinden die eine Eidgenossenschaft, die sich sowohl nach ihrem Selbstverständnis als auch in der Wahrnehmung von aussen als eigenständiger politischer Verband profilierte?
Die eigentliche Gründungszeit der Eidgenossenschaft ist das 15. Jahrhundert. Damals behaupteten sich die Kommunen – allen voran die Städte Bern, Zürich und Luzern – in der territorialpolitischen Konkurrenz gegen den Adel und insbesondere gegen Österreich-Habsburg als ihren schärfsten Rivalen. Nach dem Sieg der Waldstätte über ein österreichisches Heer bei Sempach 1386 führte die Eroberung des Aargaus – der alten habsburgischen Stammlande mit der namensgebenden Habsburg und den Klöstern Muri und Königsfelden als den beiden Hausklöstern und Grablegen der Habsburger – 1415 eine entscheidende Verdichtung eidgenössischer Herrschaft herbei. Die Eidgenossen teilten ihre gemeinsamen Eroberungen im Aargau – so wie später auch jene im Thurgau und im Tessin – nicht unter sich auf, sondern behielten sie als Untertanengebiete in kollektiver Verwaltung. Als «Gemeine Herrschaften» wurden sie fortan bis zum Ende des Ancien Régime reihum von Landvögten aus den beteiligten Kantonen verwaltet. Die hohe Bedeutung der Gemeinen Herrschaften für den Zusammenhalt der Eidgenossenschaft lässt sich daran ablesen, dass die gemeinsame Verwaltung auch nach der Glaubensspaltung fortgeführt wurde. Wie sehr die Verhältnisse unter den verbündeten Orten im 15. Jahrhundert ihre frühere Offenheit verloren und die Handlungsfreiheit der Gemeinden weniger wurde, musste die Stadt Zürich im sogenannten Alten Zürichkrieg (1436–1450) erfahren: Die übrigen Orte zwangen die Limmatstadt in einem blutigen Krieg dazu, ihr Bündnis mit Habsburg-Österreich aufzulösen und den Beziehungen zu den Eidgenossen den unbedingten Vorrang vor anderen Bündnissen einzuräumen.
Bald nach dieser Festigung des eidgenössischen Bündnisgeflechts wurde um 1470 erstmals die eidgenössische Gründungserzählung aufgezeichnet. Mit der heroischen Erzählung vom Widerstand der drei tapferen Länder am Vierwaldstättersee gegen die Willkür des Adels reagierten die Eidgenossen auf Vorwürfe Habsburg-Österreichs und der habsburgischen Kaiser, die die Eidgenossen als Zerstörer des Adels, als Rebellen gegen deren natürliche Herren und als meineidige, gottlose Feinde der ständisch-christlichen Gesellschaftsordnung brandmarkten. In ihrer Replik auf diese antieidgenössische Propaganda stellten sich die Eidgenossen als tugendhafte, gottesfürchtige, bescheidene Bauern dar («frume, edle puren»), deren sich Gott als Werkzeug bediente, um den tyrannischen, pflichtvergessenen Adel zu bestrafen. In ihren Schlachtensiegen über Habsburg und das Reich erblickten die Eidgenossen Urteile Gottes zugunsten eines auserwählten Volkes. Dieses moralisch höchst anspruchsvolle Eigenbild schrieb sich tief in das nationale Geschichtsbild ein. Die historische Forschung gab es erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zaghaft auf, während es im Geschichtsbild der breiten Bevölkerung bis heute fortlebt. Die erstmals im sogenannten Weissen Buch von Sarnen (um 1470) fassbare eidgenössische Gründungserzählung zeugt von der sich festigenden Identitätsrepräsentation der Eidgenossenschaft. Die Zurückweisung der antieidgenössischen Propaganda ging Hand in Hand mit der Formulierung einer Identitätskonstruktion, die nichts weniger als die politische Eigenständigkeit rechtfertigte.
In jener Zeit, 1479, verfasste der Einsiedler Mönch Albrecht von Bonstetten (um 1442/43–1504/05) eine dem venezianischen Dogen, dem Papst und dem König von Frankreich gewidmete landeskundliche Beschreibung der Eidgenossenschaft. Diese früheste Beschreibung der Grenzen der Eidgenossenschaft situierte das Land topografisch im Herzen Europas und erklärte es zum «punctus divisionis Europe», zum Trenn- und Mittelpunkt des Kontinents.6
Schliesslich klärte die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert unter dem Einfluss der europäischen Mächtepolitik ihren Standort im Kreis der grossen Herren. Im Vorfeld der Burgunderkriege bereinigte sie mit der sogenannten Ewigen Richtung 1474 ihr Verhältnis zu Österreich-Habsburg. Die Habsburger verzichteten auf ihren früheren Herrschaftsbesitz im nunmehr eidgenössisch gewordenen Raum und sicherten sich dafür die militärische Unterstützung der Eidgenossen gegen Herzog Karl den Kühnen von Burgund (1433–1477, Herzog 1465–1477), ihren gemeinsamen Gegner. Die Schlachtensiege der antiburgundischen Allianz katapultierten die Eidgenossen auf die Bühne der Grossmachtpolitik und steigerten – angesichts der damals enorm wachsenden Nachfrage der Mächte nach Söldnern – schlagartig deren Attraktivität als Krieger und Bündnispartner.
In diese Zeit fiel auch die Klärung des Verhältnisses der Orte zum Reich. Kaiser und Reich waren im Spätmittelalter die entscheidende Legitimationsquelle für die wachsende Autonomie der Städte und Länder. Die Kaiser aus den Dynastien der Wittelsbacher und Luxemburger – beide Rivalen der Habsburger um die Kaiserwürde – bedachten die eidgenössischen Städte und Länder mit grosszügigen Privilegien. Sie stärkten damit deren Macht und politischen Gestaltungsspielraum. Das Reich war im 14. und 15. Jahrhundert aber nicht nur die entscheidende Quelle für die Legitimierung der Herrschaftsgewalt der Orte. Als Reichsoberhaupt lieferte König Sigismund (1368–1437, römisch-deutscher König seit 1411) den Eidgenossen 1415 mit der Verhängung der Reichsacht über Herzog Friedrich IV. von Österreich (1382–1439) auch die willkommene Rechtfertigung für die Eroberung des habsburgischen Aargaus und damit für die Möglichkeit, sich auf Kosten der Habsburger als Vormacht im Mittelland festzusetzen.
Die Eidgenossen waren dem Reich so sehr verbunden, dass sie am Ende des 15. Jahrhunderts sogar Krieg gegen dieses führten. Diese Feststellung ist weder unsinnig noch ironisch gemeint. An der Spitze des Reichs kam es am Ende des 15. Jahrhunderts zu Reformen und zur Schaffung neuer, zentraler Reichsinstitutionen. Als Reichsangehörige hätten auch die Eidgenossen die neuen Gremien anerkennen und mitfinanzieren müssen. Sie verweigerten jedoch ihre Beteiligung an der Weiterentwicklung der Reichsinstitutionen und hielten an ihrem traditionellen Reichsverständnis fest. Mit ihrem militärischen Sieg über König Maximilian I. (1459– 1519, römisch-deutscher König seit 1486) im Jahr 1499 klammerten sich die Eidgenossen zwar von der Reichsreform aus, ohne damit aber vom Reich unabhängig werden zu wollen. Vielmehr hielten sie bis ins 17. Jahrhundert, einige gar noch länger, an ihrem Bekenntnis zum Reich fest.
Im Hinblick auf eine Schweizer Geschichte in den Kategorien von Verflechtung und Abgrenzung bleibt festzuhalten, dass sich die eidgenössische Identitätsvorstellung im 15. Jahrhundert aus zwei Abgrenzungen speiste: zum einen aus der militärischen Behauptung gegen die herrschaftspolitische Konkurrenz von Habsburg und Burgund, zum anderen aus der propagandistisch-diskursiven Behauptung gegen die Stigmatisierung als gottlose Rebellen. Identitätsbildung und Alteritätserfahrung waren eng miteinander verschränkt.