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DAS SCHLEICHENDE GIFT

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Vor Empörung riss es mich vom Schreibtischsessel hoch. Wie konnten die Kindergärtnerinnen so etwas zulassen? Die Männer mit dem weißen Lieferwagen direkt vor dem Kindergarten. Rumänisches Kennzeichen. Die kleinen Kinder vertrauensselig, angelockt, kommen zum hüfthohen Zaun. Wo war die Aufsicht? Den Zorn der jungen Mutter, deren Posting ich auf Facebook las, konnte ich nachfühlen. Sie und ihre Kinder wohnten in meiner Nachbarschaft. »Wenn ich meine Kleinen im Kindergarten abgebe«, schrieb sie offensichtlich wutentbrannt, »erwarte ich, dass sie beschützt werden. Was da hätte passieren können, nicht auszudenken.«

Zu ihrem Posting gab es eine ganze Reihe von Kommentaren: »Als Frau traue ich mich sowieso kaum noch aus dem Haus. Aber wenn es um Kinder geht, sofort die Polizei rufen.«

»Die Polizei ist doch machtlos«, kommentierte ein Mann, den ich ebenfalls aus der Nachbarschaft kannte. »Ich habe einen Cousin bei der Polizei. Der kann ein Lied davon singen. Die Kinder werden nach Osteuropa gebracht. Organmafia. Es wird alles immer schlimmer!«

Als ich diese Zeilen las, war ich noch jung und gerade meiner Ortsgruppe auf Facebook beigetreten. Ich wohnte damals in einem kleinen Ort in Deutschland. Etwa 20.000 Einwohner, alles recht überschaubar. Eigentlich war ich auf Facebook, um mich mit anderen Menschen über mein damaliges Hobby – Autotuning – auszutauschen. Der Ortsgruppe war ich eigentlich nur beigetreten, weil ich neugierig war und wissen wollte, was die Menschen in meiner Nachbarschaft beschäftigte. Dass da praktisch vor meiner Haustür beinahe Kleinkinder entführt worden waren, um ihnen die Organe zu entnehmen, erschütterte mich tief. Aufgewühlt lief ich vor dem Computer auf und ab. Ja, so naiv war ich damals.

Aber nach ein paar Minuten kam mir die Sache dann doch komisch vor. Was war eigentlich passiert? Da hatte ein weißer Lieferwagen vor dem Kindergarten geparkt. Männliche Besatzung, rumänisches Kennzeichen, soll schon mal vorkommen. Hatten die Männer irgendetwas Auffälliges getan, um die Kinder zum Zaun zu locken, etwa Süßigkeiten angeboten? Davon war keine Rede. Wie kam die junge Mutter eigentlich darauf, dass es da eine Entführungsabsicht gegeben hatte? Woher wollte sie eigentlich so genau wissen, dass die Kindergärtnerinnen nicht ohnehin ein Auge auf die Kinder auf der Spielwiese gehabt hatten? Und wieso waren mir diese ganzen Ungereimtheiten nicht sofort aufgefallen?

Ich setzte mich also, naiv wie ich bei meinen ersten Gehversuchen auf Facebook war, wieder an den Computer und begann zu recherchieren. Das war mein erster Faktencheck.

Zum allerersten Mal in meinem Leben recherchierte ich, ob die Aussagen von irgendwelchen Menschen im Internet überhaupt der Wahrheit entsprechen konnten. Gut, zugegeben, meine Recherche war noch recht unbeholfen. Über die Eingabe von passenden Schlagworten in eine Suchmaschine wollte ich herausfinden, ob in unserem Ort wirklich eine versuchte Kindesentführung mit einem weißen Lieferwagen gemeldet worden war. Heute würde ich diese einfache Suche gar nicht mehr als Recherche bezeichnen. Doch wie ich heute mit ein wenig Abstand weiß, war mein Ansatz zumindest vom richtigen Impuls getragen: Bei dramatischen Inhalten kurz zurücklehnen und die Sache nüchtern prüfen. Nur so lässt sich einer Falschmeldung überhaupt auf die Spur kommen.

Das Ergebnis meiner Nachforschungen in diesem Fall war erschütternd. Nicht nur in unserem Ort hatte eine versuchte Kindesentführung mit Hilfe eines weißen Lieferwagens aus Rumänien angeblich stattgefunden, sondern laut Social-Media-Posting in unzähligen anderen Orten. An meinem ersten Eindruck zeigt sich, wie unbedarft mein Vorgehen war. Immerhin konnte ich dieses Suchergebnis nicht so recht glauben.

Also suchte ich weiter und kam dann doch recht schnell zu dem Schluss, dass diese gesamte Geschichte nichts anderes als ein Schauermärchen sein konnte, welches von Ort zu Ort weitererzählt wurde. Überall waren angeblich Rumänen im weißen Lieferwagen, aber nirgends gab es Meldungen über konkrete Kindesentführungen. Trotzdem gab es überall dieselben Reaktionen. Eltern waren verunsichert, schimpften über Schulen, Erzieher oder die Polizei. Also überall dasselbe Ergebnis, obwohl nirgendwo wirklich ein Kind mit einem weißen Lieferwagen entführt worden war.

Erst viel später wurde mir klar, warum gerade diese Geschichte über die vermeintliche Kindesentführung im weißen Lieferwagen in vielen Städten und Ortschaften so leicht Verbreitung findet. Diese Geschichte, die zunächst völlig unpolitisch klingt, hat tatsächlich einen handfesten politischen Kern. Wie ich mittlerweile weiß, steckt hinter diesen Gerüchten um Kindesentführer aus Südosteuropa tatsächlich ein brutales politisches Motiv. Doch dieses bemerken die meisten Fake-Weiterverteiler gar nicht, da sie in ihrer eigenen Gefühlslage gefangen sind.

Diese Befangenheit bekam ich recht schnell zu spüren. Hat schon mal irgendwer einer Mutter widersprochen, die Angst um ihre Kinder hat und aus diesem Grund eine Falschmeldung glaubt? Möchte sich jemand einer Löwin entgegenstellen, die ihre Jungen in Gefahr sieht? In meiner Naivität schrieb ich ihr, dass die Geschichte eine Art Kettenbrief sein dürfte, der bereits an verschiedenen Stellen auf Facebook zu finden sei.

Ihre erste Antwort war nahezu ein Schlag ins Gesicht: Wie könne ich sie nur als Lügnerin darstellen und ob ich es gut finden würde, dass Kinder entführt werden?

Klassischer Fall. Der Überbringer der Nachricht wird zum Schuldigen gemacht und als das Böse dargestellt, womit er sich für den weiteren Gesprächsverlauf disqualifiziert. Doch ich ließ nicht locker und verlinkte ihr Presseberichte der Polizei aus anderen Orten, die bereits beschrieben, dass es sich um eine Falschmeldung handelte. Die Polizei! Das musste doch wirken. Schon wieder einer meiner naiven Gedanken. Nein, auch mit einer Pressemitteilung der Polizei im Gepäck war die junge Löwin nicht zu überzeugen. Ich fragte sie, ob sie denn den Lieferwagen gesehen und einen Entführungsversuch beobachtet hätte. Das hatte sie jedoch nicht. Die Angaben hätte sie von ihrer Freundin bekommen und die würde sie ja nicht belügen. Ihre Freundin hätte das auf Facebook gepostet und da könnte ich das ja lesen.

Zu meinen zehn Minuten Recherche kamen mittlerweile fünfzehn Minuten Streitdialog, der nun kurz vor seiner Auflösung stand: Die Freundin hatte mittlerweile das Posting gelöscht. In diesem Moment fanden meine Argumente auf einmal einen Zugang zu der jungen Mutter. Die Kombination aus sachlicher Recherche, einer nüchternen Pressemitteilung der Polizei und der nicht mehr existenten Warnung ihrer Freundin konnten die junge Frau überzeugen, dass es doch keinen Entführungsversuch vor unserem Kindergarten gegeben hatte. Wir konnten uns versöhnlich noch einen schönen Tag wünschen. Jedoch blieb ein schaler Nachgeschmack, als sie zum Schluss schrieb:

»Es ist ja zum Glück nichts passiert, aber besser einmal zu viel gewarnt als zu wenig!«

Genau an dieser Stelle errang die Falschmeldung am Ende doch noch einen ganz kleinen, heimlichen Sieg. Eine gewisse manipulative Botschaft ist hängengeblieben: Wir haben Glück gehabt, dass nichts passiert ist. Beinahe wäre es passiert. Daher ist es gut, wenn wir einander warnen. So als müssten wir ständig in berechtigter Angst leben.

Damit hat die junge Frau ihr Verhalten vollends gerechtfertigt. Die Manipulation hat bei ihr gewirkt. Diese Manipulation, dieses Einpflanzen der Grundangst und des Misstrauens, beeinflusst uns in unserem Verhalten. Solche Verhaltensmanipulationen finden an vielen Stellen auf Social Media statt. Es ist eine schleichende Manipulation, die wir anfangs gar nicht bemerken. Leider bemerken viele Menschen auch weiterhin nicht, was da eigentlich mit ihnen passiert. Bis es zu spät ist. Bis Angst und Misstrauen zu ihrer Grundhaltung geworden sind. Diese Grundhaltung bildet eine gewaltige Hürde in der Kommunikation. Rationale Argumente können diese Hürde kaum noch überwinden.

Angriff auf die Demokratie

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