Читать книгу Angriff auf die Demokratie - Tom Wannenmacher, Andre Wolf - Страница 8
WAS ICH MIR MIT DIESEM BUCH VORNEHME
ОглавлениеMein Treffen mit Nadine ist nun genau ein Jahr her. Wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen, auch nicht mehr gesprochen. Vieles hat sich verändert in den letzten zwölf Monaten, vieles ist jedoch gleichgeblieben. Draußen liegt wieder ein grauer Schleier am Himmel. Das Jahr neigt sich dem Winter zu. Es war bisher kein angenehmes Jahr, sondern ein Jahr mit vielen Irritationen und einer völlig neuen globalen Situation.
Seit Anfang des Jahres hat das Coronavirus uns alle im Griff. Das Coronavirus und vor allem die Maßnahmen dazu. Gesellschaftlich hat sich einiges verändert. Das Virus und die Maßnahmen haben zu einer Radikalisierung sehr vieler Menschen beigetragen. Der enorme Anstieg an Falschmeldungen auf Social Media ist unübersehbar.
Ein messbarer Indikator für diesen Anstieg sind die eingehenden Fragen der Nutzer auf unserer Website. Kurz erklärt: Wer sich die Arbeit bei Mimikama so vorstellt, dass wir das Internet nach Falschmeldungen durchsuchen, liegt falsch. Das können wir unmöglich leisten, das übersteigt unsere Ressourcen bei weitem. Bereits vor Jahren haben wir einen anderen Weg eingeschlagen. Wir haben unsere Leserinnen und Leser gebeten, uns Falschmeldungen oder Fragestellungen zu Inhalten auf Social Media zu senden. Diese Anfragen beantworten wir dann entweder per Mail oder in Form von Artikeln auf unserer Website.
Anhand der Menge der Anfragen zu bestimmten Themen können wir die Menge an Falschmeldungen relativ gut einschätzen. Bei gleichartigen Fragestellungen können wir sogar die Verbreitung einer Falschmeldung einschätzen. Zum Vergleich: Zu ruhigen Zeiten enthält unser Posteingang ca. 120 Anfragen am Tag. Da ist alles bunt gemischt. Von Fake-Shops im Internet bis hin zu Virenanhängen in E-Mails. Auch Hinweise auf Fake News und Verschwörungsmythen bekommen wir per Mail.
Nach Anschlägen oder Katastrophen können wir einen kurzfristigen, jedoch starken Anstieg der Anfragen an uns beobachten. Das ist typisch und damit rechnen wir mittlerweile bereits. Im Fahrwasser solcher Vorfälle tauchen häufig Falschmeldungen auf, die Unsicherheit schaffen. Dann haben wir über einen Zeitraum von zwei bis vier Tagen einen Anfragestrom von ungefähr 200 Anfragen am Tag.
Dann kam Corona. In den ersten Wochen hatten wir eine Sondersituation, die nicht nur kurzfristig angedauert hat. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen explodierte die Menge der Anfragen an uns auf über 450 Anfragen am Tag. Sie waren größtenteils monothematisch, sodass wir die Schwerpunkte der Falschmeldungen auf Social Media gut erkennen konnten.
Es waren nicht nur Falschmeldungen. Vor allem die Verbreitung von Verschwörungsmythen hat dazu geführt, dass Menschen sich von Fakten abwenden, ihren Blick auf unbewiesene Mythen richten und sich radikalisieren. In unzähligen Diskussionen bin ich damit konfrontiert. Wissenschaft zählt häufig nicht mehr viel, Meinungen überwiegen vielfach. Meinungen, die leider allzu oft auf falschen Angaben basieren oder aus Verschwörungsmythen resultieren.
Auch an mir selbst habe ich Veränderungen bemerkt. Ich bin nicht mehr so offen und kommunikativ, wie ich es vor einem Jahr noch war. Oder vor zwei Jahren. Der viele Hass und die vielen Lügen haben mich verschlossener gemacht. So habe ich mir während der Lockdown-Phasen angewöhnt, abends teilweise stundenlang zu laufen. Ich laufe alleine, um mit mir und auch meinen Gedanken ins Reine zu kommen. Vieles, was in diesem Buch steht, habe ich in diesen Stunden bereits in meinen Gedanken geschrieben.
In diesen Stunden habe ich mich häufig gefragt, wie es soweit kommen konnte. Eine wichtige Rolle spielen dabei natürlich Social Media als Trägermedien. Social Media sind zu einem Ort geworden, an dem nahezu alle Menschen in unserem Umfeld teilnehmen. Mit Social Media meine ich nicht allein den Dinosaurier Facebook oder das eitle Twitter, sondern alle Plattformen, auf denen Menschen digital miteinander kommunizieren. Denn das zeichnet Social Media aus. Auch WhatsApp und YouTube gehören dazu. Wer von sich behauptet, bei Social Media nicht mitzumachen, übersieht wahrscheinlich die eine oder andere Plattform. Social Media sind im Internet mittlerweile allgegenwärtig.
Aber Social Media allein sind nicht die Ursache für die Radikalisierung. Sie sind lediglich die Plattformen, auf denen immer mehr Menschen radikale Inhalte versenden und empfangen. Daher ist die Frage berechtigt, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Menschen sich auf einmal durch Falschmeldungen und Mythen radikalisiert haben. Auch in meinem Freundeskreis habe ich bemerkt, dass einige Menschen tatsächlich überzeugt sind von völlig schwachsinnigen und skurrilen Mythen.
Seit mittlerweile über sieben Jahren übe ich die Tätigkeit des Faktenprüfens aus. Dabei konnte ich beobachten, dass die Falschmeldungen zunehmend politisch motiviert sind. Ich kann mich noch recht gut an das Jahr 2014 erinnern. Es war im Februar, als ich zum ersten Mal eine Falschmeldung entlarvt habe, die Rechtsextreme verbreitet haben. Im Grunde war das nicht schwer. Es ging um die »Eingliederungshilfe«. Rechtsextreme haben behauptet, allen Flüchtenden würden über 2.000 € »Eingliederungshilfe« zustehen. Doch das ist Unsinn. Sie haben den Begriff absichtlich falsch interpretiert. Bei dieser Eingliederungshilfe handelt es sich um eine finanzielle Unterstützung für Menschen mit wesentlicher körperlicher oder geistiger Behinderung. Sie hat also nichts mit Asylbewerbern zu tun. Dennoch war dieser Artikel wichtig: Zu diesem Zeitpunkt habe ich zum ersten Mal bemerkt, wie Manipulation von Menschen mithilfe von bewusster Fehlinterpretation eines Begriffes funktioniert.
Seitdem ist mir die stetig zunehmende Intensität aufgefallen, mit der Rechtsextreme Social Media nutzen, um manipulative Inhalte und Desinformationen zu verbreiten. Doch wer sind diese »Rechtsextremen«? Wir müssen uns von dem alten Bild des Skinhead-Springerstiefel-Nazis verabschieden. Nein, den finden wir auf Social Media kaum vor. Wir haben es mit einer ganz anderen Gruppe von rechtsextremen Aktivisten zu tun. Sie wissen sich gut im Netz und auf Social Media auszudrücken. Bei der Mehrzahl lässt sich eine mittlere oder höhere Bildung vermuten. Diese Gruppe beinhaltet vor allem Männer, jüngere und ältere gleichermaßen. Sie treten meist rechthaberisch und verbal aggressiv auf und nutzen bewusst die Probleme und Ängste der Bevölkerung, um ihre Ideologien darin einzubetten.
In der rechtsextremen Ideologie ist die Ungleichheit das zentrale Element. Die Vorherrschaft gebühre einer durch Biologie und »Rassenzugehörigkeit« oder »Kultur« bestimmten Gruppe. Diese müsse zum Besten aller Menschen die anderen beherrschen und naturgemäß die Gleichwertigkeit aller Menschen ablehnen. Um die Herrschaft über die Minderwertigen zu etablieren oder zu schützen, seien auch Gewalt und Unterdrückung legitim.
Mit diesem Selbstverständnis agiert auch die Neue Rechte. Neue Rechte, das ist ein Sammelbegriff für intellektuelle, zumeist männliche Konservative. Sie lehnen demokratische Werte ab und versuchen, mit ihren Schriften und Ideologien das demokratische System zum Sturz zu bringen. Sie wissen, dass sie strategisch vorgehen müssen. Der grobe Umsturz hat keine Priorität, weil er einstweilen zu wenig Chancen auf Erfolg hat. Daher konzentriert sich die Neue Rechte auf kulturelle und mediale Vorbereitung des Umsturzes. Daran arbeiten sie beharrlich und erfolgreich seit vielen Jahren.
Sie präsentieren ihre Ansichten als »normal«, obwohl dahinter menschenverachtende Ideologien stecken. Wenn sie diese Inhalte über alltägliche Themen vermitteln (wie eben mit einem weißen Lieferwagen), entstehen Anknüpfungspunkte zu Menschen in der Mitte der Gesellschaft. Viele sind Männer wie Nadines Ex-Mann Stephan, ursprünglich eher konservativ und mit ausgeprägtem Ego, dann aufgrund sozialen Abstiegs oder einer anderen Lebenskrise radikalisiert. In ihrer Wut werden sie zum harten Kern der neuen rechtsextremen Szene.
Ebenfalls eine Rolle spielen die Social-Media-Auftritte von Politikern der rechtspopulistischen Parteien. Die Accounts von deren Spitzenpolitikern sind von enormer Wichtigkeit. Das konnten wir beispielsweise beim Bruch zwischen HC Strache und der FPÖ erkennen. Beide Seiten haben Anspruch auf Straches reichweitenstarken Facebook-Account erhoben. Auch die Löschungen der Social-Media-Auftritte von US-Präsident Trump haben gezeigt, wie wichtig Social Media für die Politik der Rechtspopulisten sind. Über Social Media haben sie eine direkte Verbindung zu ihrem Wahlvolk, ohne von den Medien abhängig zu sein.
Durch diese direkte Verbindung können die parlamentarischen Arme der Rechtsextremen ungefiltert für die stetige Ausweitung des Sagbaren sorgen. Provokationen beherrschen die Veröffentlichungen von Rechtspopulisten und Extremisten. Damit schaffen sie eine moralische Desensibilisierung. Was 2015 vielleicht noch als skandalös galt, können heute die meisten Menschen nur mehr müde belächeln.
Aber es sind nicht nur Falschmeldungen und Provokationen, die schleichend den Diskurs vergiften. Auf Social Media greifen die Rechtsextremen vorzugsweise jene Menschen an, die sich gegen Falschmeldungen zur Wehr setzen oder sich für die Werte der Demokratie einsetzen. Angesichts von Untergriffen aller Art schwindet die Diskussionsfähigkeit auf Social Media. Gerade wenn es um politische Themen geht, steht nicht mehr der Kompromiss oder die Arbeit an einer Lösung im Vordergrund. Stattdessen verwenden die Rechtsextremen Lügen und menschenverachtende Strategien, um ihre Gegner zum Schweigen zu bringen.
Diese Vorgänge, die ich in diesem Buch im Detail erläutern werde, zeugen von einem recht beängstigenden Comeback der extremen Rechten. Mehr als 75 Jahre nach Ende des Dritten Reiches treten Rechtsextreme wieder offen in der Mitte der Gesellschaft auf. Sie halten Reden auf Demonstrationen. Sie waren beim Sturm auf das Kapitol in den USA dabei. Ich habe das Gefühl, je weiter wir uns zeitlich vom Holocaust und dem Dritten Reich entfernen, desto lauter werden Rechtsextreme. Über Social Media dringen sie mit ihren Botschaften in den letzten Jahren immer massiver in die Mitte der Gesellschaft ein.
Dies gelingt ihnen umso besser vor dem Hintergrund der Coronakrise, die uns alle in eine völlig neue Situation gebracht hat. Die Angst ist allgegenwärtig. Angst vor gesundheitlichen Problemen, Angst vor wirtschaftlichen Folgen. Dazu kommt die diffuse Angst vor vielerlei Dingen, die Mythen und Falschmeldungen den Menschen nahebringen. Ja, viele Menschen haben Angst. Die Rechtsextremen nutzen Angst und auch Frust als starke Emotionen, um Menschen auf Social Media und darüber hinaus zu manipulieren.