Читать книгу Der Mann, der Jan war - Andrea Draisbach - Страница 3
Kapitel 1 Ausstieg
ОглавлениеMit einem gellenden Pfiff wies der Zugführer darauf hin, dass sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Die grauen Türen schnappten leise zu und das laute Zischen ließ den Zug nun vorwärts rollen. Mit seinem nächsten Atemzug hatte der ICE den Bahnhof bereits wieder verlassen.
Jetzt war er alleine. Die Fahrgäste, die den Zug hier verlassen hatten, waren bereits zu ihrem nächsten Ziel geeilt. Doch er? Er hatte kein Ziel. Jedenfalls keines, das er jetzt erreichen konnte. Er war noch auf der Suche danach. Doch er brauchte dafür nicht in den nächsten Zug zu steigen. Vielleicht fand er es hier, vielleicht auch nicht. Denn im Grunde genommen suchte er sich selbst!
Und er wollte sich wieder finden! Um jeden Preis!
Sein Gepäck bestand aus einer kleinen Reisetasche, die man auch als Rucksack umfunktionieren konnte. Mit leichtem Gepäck wollte er reisen, das hatte er sich vorgenommen, und je länger die Zugfahrt gedauert hatte, desto leichter wurde sein Gepäck im Grunde genommen. Er ließ es hinter sich, seine Vergangenheit, seine Erinnerungen, sein altes Ich! Dort, wo er in den Zug eingestiegen war, am letzten Bahnhof seiner Erinnerung, hatte ihm Justin neue Papiere zugesteckt. Das war ein letzter Freundschaftsdienst, für eine Gefälligkeit, die er ihm noch schuldig geblieben war. Und jetzt war genau der richtige Augenblick gewesen, diesen einzulösen.
Die Kehrmaschine auf dem Bahnsteig dröhnte jetzt einsam und fuhr ihm entgegen. Das war wahrscheinlich der Moment, den Schritt in sein neues Ich hier zu beginnen.
Der Mann, der sich jetzt Jan nannte, stieg die Treppenstufen hinauf. Stufe um Stufe zog er sich hinauf in ein Leben, das er nun in der Hand hatte. Nur sich selbst musste er ab jetzt Rechenschaft abgeben, niemandem sonst. Das erste Mal seit vielen Jahren war er nur er selber und nicht derjenige, den man auf Schritt und Tritt verfolgen musste und beschützte, nur weil er berühmt war. Das hatte er jetzt hinter sich gelassen. Ab jetzt war er nur noch einer von vielen. Jan atmete durch und stand am oberen Treppenende. Langsam schritt er durch die Bahnhofshalle. Einige Leute kamen ihm hektisch entgegen, sahen ihn neugierig an und verschwanden wieder aus seinem Gedächtnis. Auch sie schienen ihn im Bruchteil einer Sekunde wieder aus ihrem Gedächtnis gelöscht zu haben, denn keiner kam auf ihn zu, um nach einem Autogramm zu fragen oder um ein Foto zu bitten.
Das Zittern seines Körpers verriet Jan, dass er noch nicht wirklich dazu bereit war, sein altes Leben aufzugeben. Noch immer nahm es Besitz von ihm. Das wollte er jetzt sofort ändern. Kleidung alleine reichte dazu nicht. Ein neuer Haarschnitt musste her und eine neue Haarfarbe dazu.
Schnurstracks steuerte er auf den Taxistand zu, als er den Bahnhof bereits verlassen hatte. Er nahm das erstbeste Taxi, das dort stand, riss die Tür auf und ließ sich auf die Rücksitzbank fallen. „Zu Ihrem Friseur bitte!“, wies er den Taxifahrer an, der sich nicht lange darum bitten ließ. Es stand ihm nicht zu, seine Fahrgäste nach dem Warum zu fragen. Er brachte nur die Menschen von A nach B und somit war sein Dienst damit erledigt!
Jan konnte jetzt nur hoffen, dass sein Umstyling dazu beitrug, seine neue Identität auch anzunehmen und diese in seinem Kopf ankam.
Dass er gerade noch daran gedacht hatte, wer er war, als er in den Zug einstieg, fröstelte ihn. Das hatte er jetzt ein für alle Mal abgehakt. Er wollte und konnte es nicht mehr. Damit war er fertig. Der Frust saß tief. Jeden Tag die gleiche Leier, tagein, tagaus. Für alles, was er tat, musste er Rechenschaft ablegen, musste einer Öffentlichkeit gefallen, mit dem Strom schwimmen und Termine um jeden Preis einhalten, egal, ob es die Gesundheit zuließ oder es ihm gerade passte. Fußball und Sofa waren ebenso Fremdworte wie Anonymität und einsame Spaziergänge, die er allzu oft versäumte.
Der ohrenbetäubende Lärm Hunderter von Musikboxen und das Einbrennen Tausender von Lichtern auf seiner Haut hatten ihm Narben zugefügt, die jetzt den Schmerz- und Stresspegel einfach überschritten hatten. Seine Seele war verbrannt und er war nicht mehr bereit, dies noch eine einzige Minute lang zu akzeptieren!
Das Taxi hielt an und der Fahrer beugte sich nach hinten zu ihm herum. „Acht Euro, Sir und bei meinem Friseur ist wenig los. Sie haben Glück!“. Mehr sagte er nicht. Jan nickte. Er zückte einen Zehn-Euro-Schein aus seinem edlen Portemonnaie und reichte ihm das Geld.
„Stimmt so!“, sagte er. Dann stieg er aus und das Taxi fuhr davon. Jan atmete aus.
Durch die Scheiben des kleinen Friseurladens konnte Jan erkennen, dass nur wenige Männer auf den Stühlen saßen, um sich die Haare schneiden zu lassen. Die meisten Männer, die seine Konzerte besuchten, waren sowieso nur Begleitpersonen ihrer Partnerinnen, die sich dann oft kreischend dazu hinreißen ließen, seiner Musik zu folgen. Das Dröhnen der Musik allerdings übertönte ihren Schrei. Jan drückte den Türgriff nach unten und trat ein. Eine kleine Glocke ertönte.
Der Friseur, der ihm am nächsten stand, sah ihn an und musterte ihn. „Ich bin gleich für dich da!“, flötete er. „Nimm schon mal Platz!“ Dann wandte er sich wieder seinem bisherigen Kunden zu und lächelte ihn an. Jan sah sich um. Jemanden gleich mit Du anzusprechen, das war ihm neu. Aber vielleicht machte man das hier so. Der Ort war nicht gerade groß und ihm war es im Grunde genommen auch egal.
Der Friseurladen war geräumig, wenngleich er klein aussah. Ein türkischer Barbier, der jeden mit Du ansprach, statt einer hier weitläufigeren Höflichkeitsformel. Das machte vieles einfacher, wenn man gleich mit jedem per Du war. Ein angenehmes Ambiente, wie Jan fand. Hier könnte er jetzt öfter herkommen, wenn er denn in der Stadt bliebe. Das allerdings würde sich erst noch zeigen.
Große Spiegel erleichterten den Friseuren hier die Arbeit. Sie schienen viele zu sein. Das nahm Jan wenigstens an, denn mehrere Kunden konnten hier gleichzeitig bedient werden. Vielleicht war heute nicht der meist besuchte Tag hier oder es lag an der Uhrzeit, dass hier nicht viel los war. Für Jan war es unerheblich. Er wollte nur schnell einen anderen Haarschnitt und anders aussehen.
Der Friseur kam auf ihn zu und legte seine Hand auf Jans Schulter. „Ich habe dich hier noch nie gesehen? Wirst du jetzt einer meiner Stammkunden?“, wollte er direkt wissen. Jan zuckte die Schultern. „Nur schneiden?“, fragte der Friseur skeptisch und bewunderte Jans dickes Haar. „Daraus lässt sich ordentlich was machen. Was hast du vor?“ Jan sah den Friseur durch den Spiegel an. Er hatte etwas Freundliches, Kumpelhaftes. Jan blieb ihm eine Antwort zunächst schuldig. „Ich will einfach anders aussehen!“, sagte er, ohne sich im Klaren darüber zu sein, was er damit eigentlich meinte. Die Augen des Friseurs sahen Jan jetzt anders an. Er durchbohrte ihn regelrecht. „Ok!“, sagte er. „Vertraust du mir?“, wollte er jetzt wissen und legte auch die zweite Hand auf Jans Schulter.
In diesem Moment hatte Jan begriffen, dass der Friseur ihn durchschaut hatte. Vielleicht hatte er öfter solche Kunden, die einfach eine neue Identität suchten. Vielleicht hatte er das auch schon erlebt. Bestimmt sogar, überlegte Jan und nickte. Der Friseur begann, sein Werk zu formen... „Wird es Zeit, dass du das tust?“, fragte er, während er Jan eindringlich ansah. Jan senkte den Kopf ein wenig. Doch der Barbier nickte. „Ich helfe dir. Ich weiß, wovon du sprichst!“ Mit einer einladenden Handbewegung winkte er einen seiner Kollegen heran und verständigte sich in seiner Muttersprache mit ihm, ohne zu ahnen, dass Jan seinen Worten folgen konnte. Jan hörte zu, ohne eine Miene zu verziehen. Er vertraute dem Friseur, warum auch immer.
Eine gute Stunde später hob der Friseur den Spiegel hinter Jan und zeigte ihm auch dort sein Meisterwerk. Die neue Haarfarbe prägte nun seinen Stil. Seine Haare waren glatt, kurz und die Haarfarbe aschblond. Völlig untypisch für Jan. Aber jetzt war es geschehen und jetzt konnte er den Schritt in ein unbekanntes Leben beginnen. Hier und so würde ihn keiner erkennen. Definitiv nicht!
Der Friseur föhnte ihm die letzte Strähne, schnipselte noch eine Haarspitze ab und zog das Tuch von Jan herunter, das seine Schultern bis jetzt vor den vielen Farbtupfern und Haarspitzen geschützt hatte. „Fertig!“, murmelte er. „Brauchst du sonst noch was?“, wollte er wissen. Jan zögerte. Er konnte ihm nicht seine ganze Lebensgeschichte erzählen. Dann steckte der Friseur ihm seine Karte entgegen und sagte: „Nur für den Fall!“ Jan nickte.
„Macht 28 Euro!“ Jan gab ihm dreißig Euro und dankte ihm. Der Friseur verabschiedete ihn und sah ihm nach. „Hoffentlich bringst du das zu Ende, was du jetzt angefangen hast!“, flüsterte er und war nachdenklich. Ein tiefer Seufzer lief Jan nach. Dann ging der Friseur zurück in seinen Laden und war wieder in seiner Welt verschwunden.
Was fängt man in einer Stadt an, die man nicht kennt, die einen noch nicht aufgenommen hat und wo man noch nicht weiß, wie man die Nacht verbringt? Jan seufzte. Nun war er ein Fremder in einer Stadt und sich selber auch fremd. Sein Spiegelbild hatte nichts mehr mit dem Menschen zu tun, der heute Morgen in den Zug eingestiegen war und der hier strandete. Doch jetzt musste er den Schopf bei den Hörnern packen und den zweiten Schritt tun. Er musste eine Bleibe suchen und einen Job bekommen. Jan blieb stehen und überlegte. Er hatte einen Job, das hieß: Er hatte ihn bis gestern. Heute wollte er diesen Job nicht mehr. Doch nun tat sich ein neues Problem auf. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er nicht mehr mit der EC-Karte zahlen konnte. Man würde ihm auf die Schliche kommen und ihn finden. Das konnte er also vergessen und auch sein Handy musste ausbleiben. Es hatte GPS und vielleicht war er versucht, den ein oder anderen Kontakt anzurufen, wenn ihm danach war. Diese Möglichkeit wollte er auf keinen Fall ausprobieren. Deshalb hatte er sein Handy auch ganz bewusst zu Hause gelassen!
Ein neues Leben hieß jetzt eine neue Identität. Und die hatte er jetzt in seinem Pass.
Er seufzte und sah sich um. Dort war eine Bushaltestelle. Diese konnte er ansteuern. Und dann? Wohin wollte er? Er hatte keine Ahnung. Aber vielleicht sprach ihn ein Ort auf diesem Fahrplan dort an.
Jan überquerte die Straße und wandte sich der Bushaltestellen-Karte zu. Nach und nach studierte er die Haltestellen und die Orte, die ihm völlig fremd waren. Das war also auch keine Lösung. Frustriert setzte er sich auf die Bank an der Haltestelle und überlegte. Doch nur einen Augenblick später hielt ein Auto. Die Autofahrerin kurbelte das Fenster herunter. „Der Bus kommt heute nicht, junger Mann!“ Jan sah auf. „Aha“, sagte er kurz und beachtete sie nicht weiter. Doch die Autofahrerin gab so schnell nicht auf und sprach ihn erneut an.
„Kann ich Sie vielleicht mitnehmen? Suchen Sie etwas?“, wollte sie jetzt wissen. Jan stand auf. Irritiert trat er an den Wagen heran und beugte sich zu ihr ans Fenster. Jan sah eine ältere Dame, die ihn freundlich angrinste. Er schätzte sie auf Ende fünfzig. Ihre Haare standen ihr strubbelig zu Berge, aber es stand ihr. Ihr Gesicht war ein einziges Lächeln und das war ihm sehr sympathisch. Zunächst wollte er ihr überhaupt keine Beachtung schenken, schließlich hatte er Probleme genug. Aber sie war ja diejenige, die ihn ansprach. Daher fand er es nur fair, dass er ihr eine Antwort gab.
„Eigentlich bin ich selber Taxifahrerin, aber wenn jetzt kein Fahrgast mehr zusteigt, dann habe ich theoretisch frei! Und ich hoffe, dass sich das auch nicht mehr ändert!“, sagte sie lächelnd. Der junge Mann tat ihr leid. Sie spürte instinktiv, dass dieser junge Mann Hilfe brauchte. „Ich wollte eigentlich...“, sagte Jan kurz. Dann aber holte er tief Luft. „Ich weiß nicht!“ Die Dame wies ihn an, einzusteigen, was Jan schließlich tat. Eigentlich war er nicht so unvorsichtig. Aber bei ihr vermutete er keine Gefahr und außerdem: Er hatte nichts zu verlieren. Und hier in dieser Stadt erst recht nicht!
„Wo wohnen Sie?“, fragte die Dame, die jetzt wieder losfuhr. Jan sah aus dem Fenster. „Ich bin gerade angekommen!“, sagte er. Die Dame nickte. Sie hatte eine gute Menschenkenntnis und er tat ihr leid. „Haben Sie ein Hotelzimmer gebucht oder hat man Sie versetzt?“, fragte sie vorsichtig. Doch Jan wusste nicht, was er antworten sollte. Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie weiter. Wenn er ihr keine Angaben machte, wo sie ihn absetzen konnte, dann musste er eben mit ihr fahren. Sybille zuckte mit den Schultern. Dann sah sie ihn von der Seite an und flüsterte: „Ich habe gerade eine Wohnung zu vermieten. Die könnten Sie bekommen!“, sagte sie. Jan sah zu ihr hin. „Sie kennen mich doch gar nicht und wissen nichts von mir!“, antwortete er eilig. Doch die Dame lächelte. Sie hatte also recht. Wahrscheinlich hatte er Hals über Kopf seine Tasche gepackt und die häusliche Wohnung verlassen. Warum auch immer! Das kannte sie schon! Dann ergänzte sie: „Aber ich kenne eine Menge Menschen und bin schon etwas älter. Viele Menschen steigen in Taxis und du weißt genau in diesem Moment, wie sie ticken, wenn sie wieder aussteigen!“ Jan nickte. Wahrscheinlich hatte sie recht. Viele Menschen machten sich gar keine Mühe zu sehen, wer ihnen eigentlich gegenüber saß. Aber bei dieser Taxifahrerin war das wohl anders. Wie viele Menschen waren wohl schon bei ihr ein- und ausgestiegen?
Viele Menschen waren grundverschieden, aber Sybille wusste, wie diese Menschen tickten. Ansonsten hätte sie ihn wohl kaum mitgenommen. Vielleicht hatte er ihr leidgetan. Vielleicht aber auch nicht. Auf jeden Fall war er froh, dass er jetzt jemanden hatte, der ihm für einen kurzen Moment Sicherheit geben konnte. Und erkannt hatte sie ihn wohl auch nicht! Er atmete durch. Die Ampel, an der sie noch eine Weile gehalten hatten, schaltete jetzt auf Grün um. Sein Leben ging also weiter!
Jan sah aus dem Fenster, in eine Stadt hinein, die er nicht kannte. Wahrscheinlich hatte sie recht, überlegte er. Und vielleicht würde sie mehr über ihn erfahren, wenn er aus dem Taxi ausgestiegen war. Sie würde wissen, wie er tickte und was ihn bedrückte. Auch wenn er das vielleicht im Moment gar nicht wollte! Er musste jetzt sowieso erst einmal überlegen, wie viele Baustellen er selber hatte und welche er zunächst wieder ins Reine bringen musste. Anderes musste warten. So viel Zeit hatte er im Moment nicht.
Ohne Jan zu fragen, bog sie in die nächste Straße ein und verließ die große Stadt. „Ich wohne etwas außerhalb in einem kleinen Häuschen auf dem Dorf“, sagte sie. „Dort können Sie erst mal ein wenig ausspannen!“ Jan nickte. „Dankeschön!“, sagte er. „Danke!“ Die Dame lächelte, während sie den Blinker betätigte. Er sah traurig aus, fand sie. Und außerdem fand sie es schön, wenn jetzt wieder jemand in ihrem Haus wohnte. Zwar kannte sie ihren Fahrgast nicht, doch sie hatte gleich gespürt, dass er ein großes Herz hatte und jetzt vielleicht ihre Hilfe brauchte. Es sollte wohl alles so sein! Ein Lächeln überzog ihr Gesicht. Sie nickte.
Vielleicht konnte sie ihm wirklich helfen, denn er hatte ihr schon längst geholfen, indem er in ihr Taxi eingestiegen war.
Ihr Handy klingelte und mithilfe der Freisprechanlage nahm sie den Anruf entgegen.
„Taxi 24, Sibylle“, sagte sie. „Was gibt es?“ Gekratzt aber dennoch verständlich fragte der Anrufer nach dem aktuellen Stand des Taxis. Sibylle erklärte kurz, dass sie noch einen Fahrgast habe, dann würde sie ihren Dienst beenden und das Taxi mit nach Hause nehmen. Der Anrufer bestätigte ihre Angaben und klinkte sich aus dem Gespräch aus. „Ich habe Feierabend!“, sagte Sibylle zu ihrem Fahrgast, der immer noch teilnahmslos durch die Gegend schaute. Sie sah in den Rückspiegel und glaubte, ein erleichtertes Atmen gesehen zu haben.
„Ich zeige Ihnen alles und dann gibt es erst mal Mittagessen!“ Sibylle machte eine kurze Pause. „Essen Sie Kartoffelsuppe?“, wollte sie wissen. Jan nickte. „Wie heißen Sie übrigens?“ Erschrocken sah Jan sie an. „Sie kennen…, äh, ich. Jan!“, sagte er eilig. „Sagen Sie einfach Jan zu mir!“.
Der Mann, der sich jetzt Jan nannte, wurde feuerrot. Zunächst war er erstaunt, dass seine Taxifahrerin ihn überhaupt nicht erkannte. Bisher war er immer der Meinung gewesen, dass jeder, der Musik ein wenig liebte, seinen Namen in Kombination mit seiner Musik schon irgendwo einmal gehört haben musste! Dann aber besann er sich, dass er sein Äußeres inzwischen verändert hatte und jetzt doch ein wenig anders aussah als noch vor wenigen Minuten. Wahrscheinlich blickte sie ihren Fahrgästen nicht genau in die Augen und so konnte sie ihn in diesem kurzen Moment wohl doch nicht einordnen. Außerdem war sie nicht gerade der Typ Zuhörer, die seine Musik mochten. Zwar war sie kein Teenager mehr, aber sie war bestimmt noch keine fünfzig Jahre alt! Dessen war er sich sicher!
„Ok, Jan!“, sagte sie. „Ich heiße Sybille und außerdem sind wir gleich da!“ Dann hörte Jan den Blinker des Taxis erneut und Sibylle drosselte die Geschwindigkeit des Wagens. Mit einem kurzen Schlenker fuhr sie auf den Hof eines Grundstückes und parkte ihr Taxi neben dem Haus.
Schon als sie durch die Hofeinfahrt fuhren, konnte er auf das kleine Haus sehen, das von zwei großen Walnussbäumen umrankt war. Schützend hatten sie sich vor das Haus gestellt, damit Wind und Wetter ihm nichts anhaben konnten. Kleine, bunte Blumenkästen zierten die wenigen Treppenstufen vor dem Eingang. Zwei Porzellanfiguren ergänzten das fröhliche Willkommensbild. „Gehört Ihnen das Haus?“, fragte Jan. „Es ist schön!“ Sybille nickte. „Ja. Klein, aber mein!“, sagte sie scherzhaft.
Mit Schwung zog sie den Schlüssel des Taxis ab und stieg aus. Dann öffnete sie ihm die Tür. „Wir sind da!“, sagte sie deutlich. Jan stieg aus. Sein erster Eindruck wurde bestätigt. „Es ist wirklich ein nettes kleines Haus“, erwiderte er. Sibylle nickte wortlos und ging in Richtung Haustür. „Bringen Sie ihren Koffer mit!“, sagte sie. Jan nickte. Dann ging er hinter ihr her. Sie schloss die braune Haustür auf und ein heller, freundlicher Flur trat zum Vorschein. Jan lächelte. „Ein schönes Haus“, wiederholte er und schloss die Tür hinter sich. Sibylle war bereits in der Küche verschwunden und warf den Schlüssel auf den Tisch. Jan zog im Flur die Schuhe aus und kam in die Küche. „Sie können oben wohnen!“, sagte sie. „Ich habe oft Schichtdienst und wenn Sie hier wohnen wollen, müssten Sie mir ein wenig zur Hand gehen!“ Dann drehte sie sich zu Jan herum.
Sie sah in seine Augen. Er hatte etwas Jugendliches und war bestimmt schüchtern. Es würde ihm sicherlich guttun, hier ein paar Tage zu wohnen, überlegte sie. Jan nickte. „Selbstverständlich!“, sagte er. „Wie Sie wollen!“ Sibylle hob den Finger. „Nein, wie DU willst!“, grinste sie. Dann zog sie Jan einen Stuhl unter dem Tisch hervor. „Jetzt wird gegessen!“ Sie stellte den Herd an und ging zum Kühlschrank. „Einen Saft?“, wollte sie wissen. Jan nickte. „Gerne!“, sagte er. Sibylle stellte Gläser auf den Tisch und reichte Jan die Flasche aus dem Kühlschrank.
Während sie den Tisch deckte, schenkte Jan ihnen beiden etwas zu trinken ein und sah sich in der Küche um. „Sie wohnen hier richtig hübsch!“, sagte er. Sibylle lächelte und teilte Besteck und Suppenteller aus. Dann holte sie Brötchen aus dem Brotkorb und stellte eine Flasche Maggi auf den Tisch.
Jan blickte aus dem Fenster. „Der Blick durch die Blätter der Bäume auf den Hof ist richtig toll!“, sagte er. Sibylle antwortete nicht. Sie nickte nur.
Jan sollte zunächst aufatmen, Sicherheit spüren und das Gefühl haben, reden zu können. Sie wollte ihn unterstützen und spürte, dass es jetzt sicher besser war, keine Fragen zu stellen. Er würde schon auf sie zukommen, wenn er etwas auf dem Herzen hatte.
Sein Blick richtete sich immer noch aus dem Fenster. Er dachte nach und Sibylle rührte in der Suppe, die jetzt langsam begann, heiß zu werden.
„Fahren Sie nur Taxi?“, wollte er nach einer Weile wissen. Sibylle holte zwei Topflappen aus der Schublade, legte sie um die Henkel des Topfes und hob diesen auf den Tisch. „Fertig!“, sagte sie, ohne auf seine Frage zu antworten. Dann legte sie die Topflappen zurück in die Schublade und schloss diese. „Vorsichtig, heiß!“, sagte sie zu Jan. Jan nahm die Suppenkelle, die Sybille bereits auf den Tisch gelegt hatte und goss zunächst ihr in den Teller. „Sie sagen mir bitte, wie viel Sie, äh, du möchtest!“, bat er leise. Sibylle nickte. „Ja!“, sagte sie kurz angebunden. Dann hob sie die Hand. „Danke, reicht!“, wehrte sie ab. Anschließend schöpfte Jan Suppe auf seinen Teller.
„Die Suppe riecht total gut!“, lächelte er. „Ich habe so etwas schon lange nicht mehr gegessen!“ Seine Augen sprachen Bände. „Ich hoffe, sie schmeckt dir!“, sagte Sibylle lächelnd. Jan nickte und lächelte zurück. Dann wurde es still am Tisch und beide widmeten sich ihrem Essen.
Sibylle sah Jan beim Essen zu. Er schien Appetit zu haben und atmete ruhig ein und aus. Es war wohl ein Wink des Schicksals, dass sie gerade dort vorbeifuhr, wo Jan anscheinend auf sie gewartet hatte. Denn eigentlich hätte sie gar nicht in diese Straße hineinfahren sollen. Sie war nur in Gedanken gewesen und hatte zu spät bemerkt, dass sie falsch abgebogen war. Aber das Schicksal irrte sich nicht! Es sollte wohl so sein! Sibylle nickte bestätigend.