Читать книгу Der Mann, der Jan war - Andrea Draisbach - Страница 6
Kapitel 4 Erinnerungen
ОглавлениеDer kleine Wagen mit den beiden Insassen bahnte sich jetzt einen Weg in die Innenstadt. Sybille kannte hier jeden Stein und jeden Weg. Man konnte ihr hier nicht mehr so schnell etwas vormachen und auch jede Baustelle, die über Nacht aufgebaut worden war, konnte sie geschickt und zeitschnell umfahren. Dies war für sie kein Hindernis.
Sie kannte Schleichwege, von denen selbst Eingefleischte jahrelang nichts geahnt hatten und manchmal umkurvte sie auch Wege, die scheinbar aus dem Nichts auftauchten und die einen dann in eine völlig andere Richtung lenkten.
Sybille hatte sich während des Umziehens genug Gedanken darüber gemacht, wie sie Jan am besten die Stadt zeigen wollte. Er sollte die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt nicht wie ein Tourist erkunden. Die konnte er gegebenenfalls im Internet recherchieren. Sie würden sowieso zwangsläufig an der ein oder anderen davon vorbeikommen. Aber vielleicht konnte sie seinem Gewissen ein wenig auf die Sprünge helfen. Sie konnte ihn beeinflussen, konnte erfahren, wie er so war und wo er sich am Wohlsten fühlte.
Die Fahrtroute hatte sie bereits festgelegt. Nur an einigen Punkten musste sie abwarten, wie Jan reagierte. Es konnte schließlich sein, dass der junge Mann, der ihr im Moment immer noch sehr positiv gewogen war, plötzlich zu einem Monster mutierte. Aber sie hatte zur Not immer Pfefferspray dabei. Zu wehren wusste sie sich. Das hatte sie schon einige Male ausprobieren müssen und war jedes Mal unbeschadet mit dem Leben davongekommen. Warum also sollte es jetzt anders sein? Dennoch hatte sie es vermieden, das Radio anzuschalten. Bewusst hatte sie mitverfolgt, dass er in der Küche das Radio mehrfach ausgeschaltet hatte. Zunächst glaubte sie an ein Verbrechen, einen Banküberfall, einen Raub oder Sonstiges. Für eine Flucht war er, einfach gesagt, zu alt. Aber dennoch konnte er ein dunkles Geheimnis haben, das hinter seiner Fassade steckte.
Sybille ließ das Radio dennoch aus. Sie wollte nicht unnötig Stress verursachen, wenn es überhaupt keinen Grund dafür gab. An manchen Tagen war ihr das Radio auch zuwider. Sie brauchte ihre Ruhe, um klare Gedanken zu fassen und vielleicht brauchte Jan das schlichtweg genauso. Jetzt sollte er dazu auch sein Recht haben. Und ihr machte es nichts aus, die Stille im Taxi zu genießen. Sie war schließlich laut genug!
Jan sah aus dem Fenster und betrachtete die Landschaft und Architektur dieser Stadt. Sie war nicht anders als andere Städte auch. Außer vielleicht, dass sie nicht ganz so grau und steril wirkte wie manche dieser Hochburgen. Wo Anonymität und Hektik das Leben beherrschten, in dem sich keiner mehr um den anderen kümmerte und Nachbarn nichts mehr voneinander wussten. Er fand das schlimm und war dankbar dafür, dass er in anderen Verhältnissen aufgewachsen war. Familie war für ihn alles und so wollte er auch die Zukunft gestalten. Betonklötze waren ihm zuwider und auch die High Society war nicht sein Faible. Für ihn waren familiäre Atmosphäre und Bodenständigkeit die wichtigsten Zugaben, die man einfach haben musste.
Sybille passte sich dem Verkehrsfluss an und schaukelte Jan durch die Gegend. Sie wollte, dass er es genoss, wenn er ein wenig Ablenkung hatte. Er sollte spüren, wie es war, dass man achtsam war auf sich selbst. Das Leben genießen ohne Luxus zu haben. Frei zu sein ohne Einsamkeit. Es gab so viele Dinge, die man im Leben falsch machen konnte, wenn man es nicht bewusst wahrnahm. Dennoch wollte sie ihm selbst auf die Schliche kommen. Vorsichtig, Schritt für Schritt, und so, dass sie ihm helfen konnte, falls er sich öffnen musste, weil sein Druck zu groß wurde.
Zunächst führte der Weg durch die großen Straßen dieser Stadt, Sie wollte eine gewisse Route ansteuern, wo es einfach sinnvoller war, zunächst ein wenig zügiger voranzukommen, ohne zu rasen. Allerdings vermied Sybille bewusst, dass sie zum Ausgangspunkt des Geschehens, dem riesigen und schnelllebigen Bahnhof, kamen. Das würde sie erst auf dem Heimweg machen. Sybille wollte Jan keinem Stress aussetzen. Es würde ihm sicherlich nur den Tag verderben, wenn er daran denken musste, was der Anlass dazu gewesen war, dass er hier gestrandet war.
Inzwischen hatte sich Jan an Sybilles Fahrweise gewöhnt und entspannte sich. Er war neugierig auf diese Stadt, die er nicht kannte. Eigentlich war er immer schon ein offener Typ gewesen, der gerne Neues ausprobierte und dem positiv entgegensah. Doch diesmal hatte er sich in eine Situation hinein katapultiert, aus der er wohl lange nicht mehr herauskommen würde beziehungsweise es gewiss auch nicht wollte! Bisher hatte er sich zudem auch keine Gedanken über die Folgen seines Handelns gemacht! Von jetzt auf gleich, und das mit einem Schlag, auszusteigen, dazu gehörte nicht nur Mut, sondern auch ein Plan! Und den hatte er nicht!
Noch nie war er einer solchen Situation ausgeliefert gewesen und noch nie hatte er es auch nur im Entferntesten in Erwägung gezogen, solch einen Schritt zu wagen! Aber er hatte es getan!
Das, was er nie für möglich gehalten hätte, war jetzt eingetreten. Er hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen und beendet, was bis dahin sein ganzer Lebensinhalt gewesen war.
Jetzt saß er in Sybilles Taxi. Er war nun in ihr Leben eingetreten und sie hatte ihm die Hand gereicht, um ihn wieder auf den richtigen Weg hinzuweisen. Jan hoffte zumindest, dass sie ihm dahingehend einen Rat geben konnte. Den Weg beschreiten musste er schon alleine!
Das Ruckeln des Taxis führte ihn wieder in die Gegenwart zurück.
Viele Häuser zogen an den beiden vorbei. Imposante Bauwerke, alte Fassaden zwischen einer eigentlich sonst so modernen Industriestadt. Hin und wieder warf Sybille Anekdoten der einzelnen Gebäude ein, hielt hier und da kurz für eine Erklärung und fuhr dann weiter. Jan machte hier und dort gedanklich für sein Gedächtnis ein Foto, ergänzte aber auch ab und an Sybilles Geschichten. Das tat er aber nur dann, wenn er sich dabei sicher sein konnte, dass Sybille nichts von seiner wahren Identität daraus schlussfolgern konnte. Nichtsdestotrotz hatte er bislang überhaupt noch nicht herausgefunden, ob sie ihn überhaupt kannte. Sicherlich hatte sie seine Musik während ihrer Dienstzeit im Taxi bestimmt schon des Öfteren gehört. Vielleicht hatte sie auch die eine oder andere Melodie mitgesummt, während sie in der Küche stand. Aber bisher hatte sie keinerlei Anstalten gemacht, in ihm den Musiker zu sehen, der jetzt in ihrem Taxi saß.
Jan klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete sich in dem kleinen, zirka zehn Zentimeter langem Spiegel. Sybille sah für einen Moment zu ihm herüber.
„Dein Haar sitzt und du siehst gut aus!“, sagte sie kichernd. Jan grinste. „Danke!“, sagte er eilig. Dann klappte er die Blende wieder nach oben.
Die Fahrt war ungezwungen und er genoss sie sichtlich. Er musste sein Ziel nicht deshalb erreichen, weil er dort einen Termin hatte, sondern weil er dorthin wollte. Einfach so und nur, weil er es wollte!
Eine einfache Fahrt, einfach mal so, um Neues zu sehen, hier und da kurz zu verweilen, aber ohne Druck haben zu müssen, Dinge abzuarbeiten, weil man acht Termine in zwei Stunden gepackt hatte.
Dankbar sah er Sybille an. „Danke!“, sagte er leise. Sybille stutzte. „Wofür? Für die kleine Auszeit jetzt gerade?“ Jan nickte. Sybille war in diesem Moment bewusst, dass sie das Richtige getan hatte. Jan brauchte diese Zeit. Er hatte einen enormen Druck und sie begriff, dass er es jetzt genoss, Zeit für sich zu haben. Nachdenklich fuhr sie weiter. Sie musste herausfinden, wer ihr Fahrgast war, wer ihr neuer Mitbewohner war, wer JAN war! Und sie hatte auch schon eine Idee!
Jan stöhnte leise. Zwischen Flughafen und Hotelzimmer hatte er meistens die Konzertdaten mit seinem Manager und seiner Assistentin besprochen, Gespräche mit Crew-Mitgliedern gehalten, ohne das Wesentliche dieser Stadt zu sehen, in der er sich gerade befand. Meistens konnte er sich in der Hotelmappe erkundigen, die in seinem Zimmer lag beziehungsweise, die sich in seiner Garderobe befand, was es in der Stadt Besonderes gab und wodurch sich diese von den anderen hervorhob.
Ab und zu bekam er ein wichtiges Präsent dieser Stadt überreicht. Jan schüttelte den Kopf. Vieles davon hatte er verschenkt und nur ein oder zwei Sachen behalten. In einem so stressigen Beruf, wie er ihn hatte, war es sehr unwahrscheinlich, dass er ein weiteres Mal in diese Stadt kommen würde. Und dennoch hatte er an jeden seiner Auftritte eine andere Erinnerung. Es gab eigentlich keinen einzigen, der dem anderen glich!
Doch hier war alles anders. Sybille zeigte ihm die Schönheiten dieser Stadt und ließ die Stadt auf ihn wirken. Sie erzählte nicht zum tausendsten Mal die Geschichten, die man im Internet darüber lesen konnte. Sie ließ ihn erst spüren und fühlen. Dann entwickelte sie die Geschichte so um ihn herum, wie sie in dieser Situation für ihn passte. Das hatte sie schon einmal getan. Damals, als dieses junge Mädchen in ihr Auto stieg, total verheult und triefend nass durch den Regen, der auch ihre Seele unter Wasser gesetzt hatte.
Und jetzt war es eben Jan. Sie war zwar nicht die Mutter der Nation. Aber vielleicht war sie die Frau, die diesen beiden jungen Menschen einfach auf den richtigen Weg zurückhelfen musste. Und das tat sie in diesem Augenblick wieder!
Sybille fuhr raus aus der Stadt. Jan schwieg. Er schaute aus dem Fenster und hing seinen Gedanken nach. Im Moment war da nur ein einziges Durcheinander. Er wollte und konnte auch gar keinen klaren Gedanken fassen. Wie sollte er einen Neuanfang wagen, wenn er noch nicht einmal mit dem alten Leben abgeschlossen hatte? Ein Seufzer entglitt ihm.
Die Sonne hatte inzwischen ihren Höhepunkt erreicht und versteckte sich bereits hinter den ersten Baumwipfeln. Sybille wusste genau, wohin sie wollte. Der Ort hatte eine kleine Anhöhe, von der aus man einen herrlichen Blick auf fast die ganze Stadt hatte. Vielleicht konnte sie ihm dort ein wenig auf die Sprünge helfen. Dort gab es auch einen Baum, an dem sich schon oft die Geister geschieden hatten. Die einen sahen ihn positiv, die anderen haderten mit ihm. Hier würde sie Jan auch hinführen. Er brauchte einfach Zeit, um alles zu reflektieren und warum sollte er sich diese Zeit nicht nehmen dürfen?
Die Straße wurde enger und die Häuser weniger. Mehr und mehr Bäume säumten die Allee, durch die sie jetzt fuhren.
„Wohin willst du?“, fragte Jan schließlich. Sybille lächelte. „Du solltest diese Stadt mal aus einer anderen Perspektive sehen. Hier ist alles viel oberflächlicher und wird unwichtiger. Man hat von dort einen herrlichen Ausblick auf alles. Das musst du dir einfach ansehen!“ Jan nickte. Er liebte Aussichtspunkte. Dort konnte man unbeschwert auf das Ganze sehen.
Sybille steuerte den Wagen über eine schmale geteerte Straße, die jetzt nur noch einbahnig war. Wenn hier ein Lkw entgegenkam, dann konnte einem schon mal mulmig werden. Für zwei war hier einfach kein Platz! Doch nicht umsonst war sie schon lange Jahre Taxifahrerin. Zur Not schob sie ihn einfach ein wenig zur Seite. „Wir sind gleich da. Und anschließend essen wir erst mal was!“, sagte Sybille. Als sie die kleine Anhöhe erreicht hatten, konnten sie schon den Parkplatz sehen, der kreisförmig angelegt worden war. Einige Autos hatten hier gut Platz und zum Wenden reichte es auch für einen Lkw.
Sybille lenkte das Auto auf eine freie Parkbucht am seitlichen Ende des Zaunes, der die Parkplatzmarkierung darstellte. „So, hier können wir parken!“, sagte sie. „Wir gehen jetzt noch ein Stück und dann können wir von oben herrlich auf die große Stadt blicken!“
Jan nickte und stieg aus. Frische Waldluft schlug ihm entgegen. Er schloss die Augen und atmete einfach nur noch tief ein und aus. Ruhe und nur das Rauschen der Blätter drang an sein Ohr. Herrlich, so frei zu sein, dachte er. Sybille grinste. „Hey, wir sollten jetzt doch noch ein wenig laufen!“, sagte sie. „Das tut unseren Beinen und unserem Kreislauf sowieso gut. Jan sah sie an. „Klar. Kein Problem!“, sagte er grinsend. „Dann los.“
Sybille ging schnurstracks den Weg nach oben, während Jan mehr oder weniger hinter ihr her schlich. Zwar versuchte er, mit ihr mitzuhalten, allerdings hatte er die Hände hinter seinem Rücken verschränkt und hing seinen Gedanken nach.
Sybille sah ein, dass es sicherlich noch eine ganze Weile dauern würde, bis er aus seiner gedanklichen Ausweglosigkeit heraus kam. Aber sie wollte ihn darauf vorbereiten und jetzt war die beste Gelegenheit dazu, ihm ein wenig die Sonne auf seinem Weg zu zeigen.
Nach wenigen Metern hatten sie endlich die Anhöhe erreicht und das Blattwerk gab einen fantastischen Blick auf diese große Stadt frei. Einige Türme säumten den Horizont und wiesen die Industrie in ihre Schranken. Kleine Fachwerkbauten passten sich gut in das Ortsbild der historischen Altstadt ein. Neue, architektonisch anmutende Bauten waren in das Ortsbild verschachtelt und setzten imposante Akzente. Nichts war hier dem Zufall überlassen worden und unschöne Schandflecke konnte man aus dieser Perspektive nicht erkennen. Auch die gewaltige gotische Kirche hatte hier ihren angestammten Platz und dominierte das Geschehen zwischen Altertum und Neuzeit. Auf unschöne Betonbrücken oder Hochhaus-Burgen hatte man hier gekonnt verzichtet und auch die Einkaufspassagen waren in alte Häuser eingebunden und schmiegten sich dem Ortskern an. Der Fluss trennte zwar die beiden Stadtteile voneinander, doch kleinere Brücken in bunten Holztönen harmonierten mit dem Ambiente dieses ländlichen Idylls.
Jan war fasziniert, wie harmonisch hier alles mit allem korrelierte. Sybille sah sein erstauntes Gesicht. „Hier können Generationen übergreifend überleben und passen sich immer wieder dem Ortsbild an. Vieles wird neu, vieles wird anders, vieles bleibt erhalten und wird doch angepasst!“, sagte sie mit leiser Stimme. Jan nickte nur. „Das stimmt!“, sagte er. „Man muss die Gunst der Stunde nutzen, um Veränderungen herbeizuführen, die zum Zeitpunkt passen und sich harmonisch umgestalten lassen!“ Er lehnte jetzt beide Hände an eine kleine Erhebung, welche die Aussichtsplattform von dem Abgrund trennte. Rotes Gestein war hier porös geworden und dennoch war es fest und bruchsicher.
Wie eine wärmende Decke legten sich die Strahlen der Sonne um die beiden.
Der Anblick dieser weiten Landschaft ließ einfach nichts anderes zu, als im Schatten der kühlenden Bäume hier im Selbst zu sein.
Sybille ließ Jan einen Moment lang gewähren, bevor sie ihm einiges zum Ort erzählte. Sie wollte ihn nicht mit Dingen behelligen, die ihn wahrscheinlich sowieso nicht interessierten. Warum auch? Einen Reiseführer zu spielen, war für sie zuwider. Dennoch war es nicht unmöglich, ihn ein wenig zu unterhalten. Schließlich konnte Bildung nicht schaden. Sibylle begann von den Anfängen zu erzählen, als sie hier aufschlug, zitierten berühmte Persönlichkeiten diese Stadt. Sie erläuterte Jan, wo sie hier wann etwas Tolles unternehmen konnten. Sie berichtete von geheimen Orten, die man unbedingt als „Insider“ gesehen haben sollte und stellte Stoppschilder auf, dort, wo man am besten seine Finger davon ließ.
Jan hatte sich in seiner Körperhaltung kaum bewegt und doch nahm er jedes Wort wahr, das Sybille ihm entgegensetzte.
„Eine imposante Stadt“, sagte er schließlich. „Lebendig und doch ausgeruht!“ Sybille nickte. Passender hätte sie es auch nicht sagen können. „Möchtest du noch eine Weile bleiben oder wollen wir schon gehen?“, fragte sie vorsichtig. Jan streckte sich. „Nein. Kein Problem. Lass uns gehen. Wenn mir mal wieder danach ist, dann können wir, oder kann ich auch mal alleine, hier wieder herkommen!“, sagte er eilig und trat mit ihr den Rückweg an. Sybille war zufrieden. Nun konnte sie Teil zwei einleiten.
„Lass uns doch noch ein Stück laufen!“, sagte Sybille. Vielleicht kommt dann beim Laufen der Appetit!“ Jan nickte. Vielleicht machte ihm das auch zeitgleich den Kopf frei.
Der Waldboden knirschte unter ihren Schuhen und schweigend gingen sie ein Stück weit nebeneinander her. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und erst nach einer ganzen Weile fand Sybille wieder das Wort. „Hast du die Bäume schon einmal genauer betrachtet?“, fragte sie. Jan nickte. „Als Kind schon. Wenn ich auf ihnen herumgetollt bin oder runterfiel!“ Sybille musste jetzt doch ein wenig lachen. „Ich hoffe, du hast dir nichts dabei gebrochen!“, sagte sie mitleidig. Doch Jan schüttelte den Kopf. „Nein. Der Laubhaufen darunter war einigermaßen weich und die Baumwurzel federte den Sturz ab. Nur eine Rippe war angeknackst. Aber das war kaum der Rede wert!“, meinte er. Sybille war erleichtert.
Dann schwiegen sie wieder. Jan hatte keine Lust auf Fragen, die sie ihm vielleicht jetzt gerne gestellt hätte. Dennoch wusste er, dass er irgendwann darauf antworten musste. Doch jetzt konnte er sie nicht beantworten.
Der Weg machte eine Biegung und Sybille wies Jan an, den rechten Weg zu nehmen. „Der Weg führt automatisch zum Parkplatz zurück!“ Jan nickte. Dann blieb Sybille unverhofft stehen und sah nach oben. Jan hielt irritiert an. „Was ist?“, fragte er. Doch Sybille brauchte nichts zu sagen. Sie starrte auf einen bestimmten Baum, der jetzt auch Jans Augenmerk traf.
Zwei Bäume waren hier fast auf Kniehöhe miteinander verwachsen. Eine stolze Eiche hatte die Birke, die neben ihm stand, mit in sich aufgenommen. Nun wuchsen beide in die Höhe. Jan war fasziniert von dieser biologischen Symbiose.
„Was empfindest du dabei?“, fragte Sybille Jan leise. Jan sah sie an und verstand nicht. Sie ging einige Schritte weiter. Dann winkte sie ihn zu sich heran. „Schau dir die Bäume mal aus meiner Richtung an!“, sagte sie. Jan kam näher und beäugte sie von der anderen Seite. „Von hier aus sehen sie ganz anders aus als von der Stelle, an der du sie noch gerade eben betrachtet hast!“ Jan überlegte. Als er neben Sybille stand, hatte er das Gefühl, dass die Birke von der Eiche nach oben gestemmt wurde, damit sie nicht unterging. Sie wurde von ihr gehalten und gestützt. Doch wenn er einige Schritte zur anderen Seite ging, dann hatte er das Gefühl, dass die Eiche die Birke in die Tiefe riss, um ihr den Garaus zu machen. Wie konnte die Natur nur so grausam sein?
Eilig trat er wieder zu Sybille heran. Den Anblick von der anderen Seite ertrug er nicht. Spontan traten Tränen in Jans Augen und er musste schlucken. „Wie kann das denn sein?“, fragte er sie, doch Sybille zuckte die Schultern. „Ich komme schon seit Jahren hierher und überlege das Gleiche wie du!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah immer noch nach oben. „Aber seit Jahren halten die beiden zueinander, einer im anderen. Und doch ist es ein wahrliches Naturphänomen, was du hier siehst. Es ist eine ambivalente Beziehungskiste!“ Jan nickte. Der Blick war ihm vorhin unangenehm gewesen. Er hatte immer noch Mühe, diese für ihn unwirkliche Szene zu verarbeiten. Warum bedrückte ihn die Szene eines Baumes so sehr? Er atmete tief durch und sah sich auf dem Weg um, einfach um eine andere Kopfszene zu schalten. Aber so einfach war das dann doch nicht. Sybille hatte ihn getroffen!
Sie spürte, dass Jan durcheinander war und er jetzt schleunigst sein Adrenalin herunterfahren musste. „Lass uns gehen!“, sagte sie eilig und schob Jan jetzt vor sich her, der immer noch Schwierigkeiten damit hatte, das gerade Gesehene zu verarbeiten.
„Lust auf einen Kaffee?“, fragte Sybille. Jan nickte stumm. Wenn er rauchen würde, dann bräuchte er jetzt unbedingt eine Zigarette. Aber er fand nichts an diesen rauchigen Glimmstängeln, von denen nur die Umwelt Schaden davontrug! Seine Laster waren andere. Aber Kaffee ging immer, wenngleich auch das sehr unangenehme Folgen für sein Herz-Kreislauf-System haben konnte!
„Häng nicht deinen Gedanken nach. Wir werden jetzt irgendwo schön Kaffee trinken und im Park noch ein wenig abhängen. Was meinst du?“, fragte sie. Jan nickte erneut. Er wollte jetzt nicht antworten. Das, was gerade passiert war, wollte er nicht noch einmal erleben. Doch sein Gewissen ließ ihn nicht los. „Warum hast du mir diesen Baum gezeigt? Ich bin sowieso schon durcheinander und weiß, dass ich gerade keinen Fuß vor den anderen kriege!“ Sybille sah ihn vorwurfsvoll an und sofort bereute Jan seine Frage ihr gegenüber. Kleinlaut ergänzte er. „Tut mir leid, Sybille. Ich wollte dich nicht kränken!“ Sybille nahm Jan an beiden Schultern. „Dass dieser Baum von zwei Seiten her zu betrachten ist, passt genau in deine Situation!“, sagte sie mit ruhiger Stimme.
„Man hat dir gerade den Boden unter den Füßen weggezogen!“ Jan schluckte.
„Andererseits ist da jetzt jemand, der dich stützt und dir wieder Halt bietet, um weiterzumachen!“ Jan sah sie an und wusste, dass sie recht hatte. „Ja!“, brachte er nur hervor. „So“, sagte Sybille. „Jetzt aber wird es Zeit für einen Kaffee und nächste Woche wissen wir mehr!“ Dann schob sie ihn weiter.
Jan war erleichtert, dass er Sybille hatte. Sie rückte ihm seinen Weg wieder in die richtige Richtung. Wie konnte er glauben, dass er in einer Woche wusste, was sein Leben jetzt mit ihm vorhatte? Wortlos und doch sichtlich zufrieden schlenderten die beiden den Weg entlang. Sie genossen die sommerlichen Temperaturen und das schöne Wetter. Nur das Knirschen ihrer Schuhe war zu hören. Und vielleicht hier und da einer der Waldbewohner, der ihnen zusah, wie sie zurück zum Auto liefen.
Kurz bevor sie wieder am Taxi ankamen, hielt Jan plötzlich inne. Man hatte hier vor Kurzem erst den Rasen gemäht. Er liebte diesen Geruch und ging gerne barfuß durch das frisch gemähte Gras. Anschließend quietschte es herrlich, wenn er sich die Sandalen anzog. Langsam entspannte er sich und sog er den Duft des frisch gemähten Grases ein.
Sybille lächelte. Das, was jetzt in ihm vorging, konnte sie so gut nachvollziehen. Es gab eben Dinge, die jeder liebte und bei denen auch jeder die gleichen Empfindungen hatte. Wie gerne würde sie ihm jetzt ein Glas Johannisbeersaft mit Eiswürfeln reichen. Doch alles, was es hier in der Nähe zum Anbieten gab, war frischer Apfelsaft. Frisch gepresst wäre es in Ordnung gewesen, doch eigentlich lag er zu schwer im Magen!
Jan wusste nicht, an was er zuerst denken sollte. An die Folgen der Vergangenheit, die jetzt die anderen ausbaden mussten, ohne ihn. Oder sollte beziehungsweise durfte er sich jetzt schon Gedanken über seine Zukunft machen, die bereits an die Tür geklopft hatte?! Doch hatte er das nicht vor einigen Jahren schon einmal erlebt?
Sein Blick schweifte ab und er dachte an Jan. Diesen jungen Mann, dem er jetzt seine Identität zu verdanken hatte. Und in diesem Moment wusste er nicht, ob er ihm gerecht werden würde!