Читать книгу Der Mann, der Jan war - Andrea Draisbach - Страница 5

Kapitel 3 Der Mann mit der neuen Identität

Оглавление

Ein ungewohntes Licht ließ Jan an diesem Morgen erwachen. Der kleine Radiowecker, den Sybille ihm gestern Abend noch gegeben hatte, zeigte 4:30 Uhr. Verdammt früh. Doch er war es gewohnt. Sein altes Leben wollte es so. Dann dachte er an gestern. Sein Gehirn suggerierte ihm jede Menge Fragezeichen. Gedanken kreisten dahingehend, ob er so einfach von der „Oberfläche“ verschwinden konnte? Wie verschwindet ein Mensch von jetzt auf gleich spurlos?

Spuren von Unsicherheit und Selbstzweifel ergriffen ihn. Vieles von dem, was er getan hatte, ließ ihn im Unklaren darüber, ob es richtig war, was er gestern getan hatte. War seine Flucht nach vorne die richtige Entscheidung und: Hatte er keine andere Möglichkeit gehabt?

Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich auf die Bettkante und sah sich im Zimmer um. Er hörte die Stille schreien. Sie schrie nach ihm und doch konnte er lächeln. Seine Musik, die tosenden Menschen, all das war gestern. Heute war er hier. Er erwachte in einem fremden Bett und konnte atmen. Das war genau der Augenblick, nach dem er sich gesehnt hatte. Doch wie lange würde er andauern? Was war in einer Stunde?

Fahles Licht drängte sich durch die geöffneten Schlitze des Rollos. Jan ließ sich zurück ins Bett fallen und hing seinen Gedanken nach. Aber es ging ihm gut dabei. Er hatte kein schlechtes Gewissen, obwohl es noch recht früh war. Dann setzte er sich wieder auf und sah sich im Zimmer um. Es war liebevoll dekoriert, hatte ein warmes Feeling und jeder konnte sich dort wohlfühlen. Es war eigentlich so, als wäre es genau für ihn gemacht gewesen. Jan seufzte. Woher wusste sie, dass er kam? Jan schüttelte irritiert den Kopf. Das konnte sie überhaupt nicht wissen! Vielleicht erwartete sie Gäste. Vielleicht aber auch nicht!

Er erhob sich und ging ins Bad. Bewusst vermied er es, in den Spiegel zu schauen. Erst musste er duschen. Dann vielleicht!

Das warme Wasser tat ihm gut. Seine Gedanken flossen einfach von ihm ab. Er dachte an das, was er zurückgelassen hatte. Was würden die anderen wohl jetzt tun? Würden sie nach ihm suchen? Bestimmt hatte sein Handy schon tausendmal geklingelt. Doch er hatte es in seiner Schublade liegen gelassen. Es war abgeschaltet und seinen Code, um es zu öffnen, kannte keiner. Warum auch! Er konnte nur hoffen, dass sie nicht die Polizei riefen und nach ihm suchen ließen. Das wäre fatal gewesen. Ansonsten hätte er auch hier nicht mehr vor die Tür gehen können. Jeder würde ihn sofort erkennen. Doch dann fiel ihm ein, dass er sein komplettes Äußeres verändert hatte.

Seine Klamotten waren legerer, seine Haare waren jetzt weiß und sein Haarschnitt auch komplett anders. Vielleicht sollte er sich während der Tage, die er hier zubrachte, einen Bart wachsen lassen. Mit gesenktem Kopf dachte er darüber nach, während er das Wasser über den Rücken laufen ließ. Wie lange wollte er dieses Spiel spielen? Abrupt drehte er den Wasserhahn zu. Er wusste es nicht. Heute noch nicht und morgen nicht gleich!

Jan trat aus der Dusche und erblickte sein Spiegelbild. In seinen Augen sah er immer noch sich. Doch das Drumherum war jemand völlig anderer. Würde er sich erkennen, wenn er sich jetzt selbst begegnete? Wahrscheinlich nicht. Der Barbier hatte ganze Arbeit geleistet und Sybille hatte ihm das Gefühl gegeben, hier anonym zu sein. Ein tiefer Atemseufzer entglitt ihm. Heute war er Jan. Was morgen war, … war jetzt egal.

Er rieb sich trocken und zog seinen Jogginganzug an, den er aus dem Rucksack heraus kramte. Die weißen Turnschuhe stellte er zunächst ans Bett. Nur in Socken ging auch. Das Haus war warm und sauber. Dann ging er leise die Treppe herunter. Er hatte vergessen, wie viel Uhr es war. Jetzt brauchte er zunächst einen Kaffee.

Jan saß noch immer am Frühstückstisch, als Sybille in die Küche kam. Er hatte bereits Kaffee und Eier gekocht. Zwei Tassen standen auf dem Tisch und auch zwei Frühstücksgedecke. Sybille seufzte. „Ich konnte nicht mehr schlafen“, sagte Jan. Sybille nickte. „Kein Problem! Vor dem ersten Kaffee brauche ich eh kein Frühstück!“, brummelte sie und tätschelte Jan den Rücken. Sybille setzte sich und Jan goss ihr unaufgefordert eine Tasse Kaffee ein.

„Milch?“, fragte er. Sie nickte. Jan schien wirklich schlecht geschlafen zu haben. Tiefe, dunkle Ränder hatten sich über Nacht unter seinen Augen gebildet. So etwas geschah nur durch zu viel Alkohol oder Schlafentzug. Hier war es Letzteres! Schließlich war Jan vor ihr zu Bett gegangen! Sybille überlegte, ob sie Jan jetzt fragen sollte, was ihn bedrückte, doch er kam ihrer Frage zuvor. „Vielleicht heute Abend!“, sagte er, ohne auf eine einleitende Frage zu warten. „Du hast ein Recht darauf!“ Er machte eine Pause und legte seine Hände um die wärmende Tasse. „Danke!“, murmelte er. Sybille nickte. „Ok“, sagte sie. Um das Thema zu wechseln, deutete sie auf das Fenster. „Die Tageszeitung hängt noch draußen. Bitte sei so nett und hol sie rein!“ Jan nickte. Er stand auf, trank noch schnell im Stehen einen Schluck Kaffee. Dann verschwand er. Das Klappern der Zeitungsbox war zu hören und schon nach gefühlten zehn Sekunden beeilte er sich, um mit der Zeitung in der Hand wieder in der Küche zu sein. Meistens bekam er die Zeitung mit dem Frühstück auf seinem Tablett ins Hotelzimmer. Ab und zu sicherte er sie sich aber bereits morgens schon zum Frühstück im Speisesaal in der Lobby. Hier brauchte er sie nur mit Sybille zu teilen.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sybille grinste, als er die Zeitung vor sie auf den Tisch legte. „Ausnahmsweise darfst du zuerst reinschauen!“, sagte sie. „Schließlich musst du wissen, wo du wohnst und wer dir hier begegnet!“ Die letzten Worte trafen Jan. Mit weit aufgerissenen Augen fragte er: „Wer wird...!“ Sein Atem stockte. Sybille hatte ihn erschreckt und bemerkte jetzt seine Reaktion. In Windeseile korrigierte sie sich. „Keine Sorge! Hier wirst du einer unter vielen sein!“ Jan stieß hörbar die Luft aus. „Ich frage nicht!“, sagte sie, neigte ihren Kopf und sah ihm tief in die Augen. „Doch ich hoffe, dass du mir irgendwann etwas erzählst!“ Jan nickte. Wortlos schenkte Sybille ihm noch einen Kaffee ein. Jan umfasste seine Tasse erneut und Sybille sah ihn an. Sie lächelte. Als Jan den Kopf hob, sah er ihr Lächeln. Sie verstand ihn - warum auch immer!

Schweigend saßen sich jetzt beide gegenüber und tranken ihren heißen Kaffee. Jan atmete wieder ruhiger und auch Sybille war froh, dass sie diese Hürde genommen hatten. „Deckst du bitte gleich den Tisch? Dann können wir frühstücken!“ Gelee und Marmelade sind im Eckschrank, Butter und Wurst an üblicher Stelle. Dann stand Sybille auf.

„Ich bin gleich wieder da!“, sagte sie. „Und danke, dass du Eier gekocht hast! Die hatte ich schon lange nicht mehr! Dankeschön!“ Dann ging sie hinaus. Jan nickte zufrieden und atmete tief ein und aus. Er vertraute ihr. Er war sich sicher, dass sie ihn nicht verraten würde! Doch noch wusste sie nichts von ihm. Würde sie ihn überhaupt kennen, wenn sie erfuhr, wer er wirklich war? Noch lange würde er sich diesem Thema wohl stellen müssen!

Jetzt schmunzelte er doch ein wenig. Vielleicht wollte sie ein Extra-Ständchen von ihm, ein á capella-Konzert! Das konnte sie bekommen! Er mochte sie!

Während sich Jan noch intensiv mit der Zeitung beschäftigte, hatte Sybille bereits Brötchen geholt und Cornflakes auf den Tisch gestellt. Jan sah auf. Sie lächelte. Und er war dankbar dafür.

Als Sybille noch ihren Lieblingskäse aus dem Kühlschrank holte, schnitt ihr Jan bereits das Brötchen auf. Er freute sich immer, wenn er anderen „zuarbeiten“ konnte. Man hatte das früher auch immer für ihn getan. Jetzt war er an der Reihe und konnte es zurückgeben. Sybille sah ihm dabei zu, sagte aber nichts. Dann begannen beide zu frühstücken. „Es hat schon lange keiner mehr an meinem Tisch gesessen“, sagte Sybille. Jan nickte wortlos. Sie sah, dass er nachdachte. Seine Gedanken waren laut am Tisch und so nahm sie das Gespräch auf. „Ich will nicht bohren, aber hast du schon einen Plan?“ Jan sah sie an. Sein Blick starrte ins Leere. Er schüttelte den Kopf. Das hatte sich Sybille bereits gedacht. „Schau einfach in die Zeitung. Lass diese Woche einfach erst mal sacken. Kein Problem. Vielleicht sagst du mir dann einfach, was du dann machen möchtest und ob ich dir helfen kann, einen Job zu besorgen!“ Sybille hielt kurz inne. „Oder hast du einen Job?“ Mit weit aufgerissenen Augen sah er sie an. Sybille senkte ihren Blick auf den Tisch. „Tut mir leid. Ich frage nicht weiter!“, sagte sie. Doch Jan wusste, dass er ihr zumindest ein Stück entgegenkommen musste. „Im Moment habe ich keinen Job!“, murmelte er. „Aber natürlich will ich was tun!“, warf er gleich hinterher. „Dass du nicht auf dem Bau gearbeitet hast, sehe ich selbst!“, sagte sie. „Verkauf mich nicht für dumm! Wir werden sehen, was Ende der Woche ist!“ Dann stand sie auf. Sie hatte es falsch angefangen. Was erwartete sie eigentlich nach so kurzer Zeit von ihm? Wahrscheinlich hatte er aus einer Torschlusspanik heraus gehandelt! Da stand ihm noch nicht der Kopf nach Zukunft!

Als sie den Kühlschrank wieder öffnete, sagte sie leise: „Ich wollte dich nicht überrumpeln! Tut mir leid. Vielleicht aber kann ich dir doch die ein oder andere Tür aufmachen, wenn ich weiß, was du Job mäßig machen willst!“ Sie machte eine kleine Pause. „Heute aber ist erst mal Relaxen angesagt und morgen kann ich dir die Stadt zeigen, wenn du magst! Dann sehen wir nächste Woche weiter!“

Jan war erleichtert. Sein halbes Brötchen lag noch auf dem Tisch. Irgendwie hatte er keinen Hunger. „Du solltest essen!“, sagte sie. „Das Brötchen kann nichts dafür und außerdem ist es lecker!“ Dann kraulte sie Jan über sein lockiges Haar. „Ich muss jetzt zur Arbeit. Soll ich was zu essen mitbringen?“, fragte sie ihn. Jan zuckte die Schultern hoch. Er war frustriert und musste erst diesen Tag verdauen. Vielleicht war es doch nicht richtig gewesen, hier zu sein.

Als er Sybille ansah, wusste sie genau, was er dachte. „Du brauchst diese Auszeit, sonst hättest du diesen Schritt nicht getan. Komm erst mal wieder zu dir selbst und sieh, was dir wirklich wichtig ist! Es ist DEIN Leben und nicht das eines anderen!“ Sie lächelte und öffnete die Tür. Jan holte tief Luft. Dann sah er aus dem Fenster. „Bis später!“, sagte Sybille. Dann schloss sie die Tür.

Auf dem Weg zum Auto dachte Sybille nach. Wie konnte sie diesem jungen Mann helfen, der jetzt in ihrer Küche saß und sich Jan nannte? Vielleicht war es gar nicht sein richtiger Name. Ein Arbeiter war er jedenfalls nicht. Das hatte sie längst an seinen feinen, manikürten Händen gesehen. Ein Beamter war er auch nicht, dafür fehlte ihm der Egoismus. Er war ein Familienmensch, seine Seele war warm und gütig und doch hatte ihn irgendetwas aus der Bahn geworfen. Was konnte sie nur tun? Sie musste überlegen. Sybille schloss ihren Wagen auf und fuhr zur Taxizentrale. Vielleicht hatte sie heute während einiger Fahrten eine geniale Idee. Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen!

Inzwischen hatte Jan sich ein wenig bei Sybille umgesehen. Er wollte ihr nicht zur Last fallen und sich deshalb ein wenig nützlich machen. Er öffnete die Terrassentür und sah in den Garten hinaus. Der Geruch von frisch gemähtem Gras drang vom Nachbargrundstück zu ihm herüber. Das war gar keine schlechte Idee, fand er. Er hatte das schon lange nicht mehr gemacht und das Gras war schon sehr hoch. Warum sollte er also nicht Rasen mähen? Aber zunächst musste er die Spülmaschine bestücken.

Jan ließ die frische Luft hinein und räumte den Tisch ab, stellte die Spülmaschine an und ging eilig in den Flur, wo er die Schuhe deponiert hatte. Er schlüpfte hinein und machte sich auf, den Rasen zu mähen. Der Mäher war vollgetankt und ließ sich problemlos dazu verleiten, seinen Dienst zu tun.

Runde um Runde fuhr Jan mit ihm im Garten herum. Und je länger er das tat, umso mehr gefiel es ihm. Er machte sich nützlich, genoss den liebevoll angelegten Garten und erfreute sich, dass die eine oder andere Blume bereits ihren Dienst tat und aufblühte. Seine Seele genoss die neue Freiheit und sein Wohlfühlmoment breitete sich sichtlich in ihm aus.

Sybille überlegte, was dieser Jan in ihrem Haus brauchte, damit er „ankam“. Sie wollte ihm etwas Gutes tun und war davon überzeugt, dass er es verdient hatte. Spontan sprang sie zum Telefon und wählte einige Telefonnummern. Bei dem einen oder anderen Kontakt war es daher bestimmt gar nicht so schwierig, ihn davon zu überzeugen, dass dieser ihr noch einen Gefallen schuldig war.

Auch eine alte Bekannte von ihr hatte ein Einsehen. Sie hatte einen kleinen Spielzeugladen, in dem man auch Wolle und kleinere Haushaltsutensilien kaufen konnte. In ihrem Geschäft lag seit geraumer Zeit ein riesiger Stoffhund, der aussah wie ein platter Bernhardiner. Diesen würde sie Jan mitbringen und ihm auf das Bett legen. Dann war er nicht mehr so alleine und hatte einen neuen Freund. Das konnte nicht schlecht sein. Er war zwar kein Jugendlicher mehr, aber für ein Stofftier als Freund war man nie zu alt. Das zumindest sah sie so. Zufrieden packte sie diesen großen Kerl auf die Rücksitzbank und fuhr nach Dienstschluss nach Hause.

Sybille stutzte, als sie die Hofeinfahrt herauf kam. Zwei volle grüne Säcke standen neben ihrer Biotonne. Wo kamen die denn plötzlich her? Hatte sich ihr Nachbar, Herr Wasgien, etwa an ihrem Rasen gütlich getan? Eilig ging sie durch das kleine Gartentor in ihren riesigen Garten. Doch dann sah sie, dass Jan bereits wieder alles bereinigt hatte.

Von einigen Blumen hatte er die welken Blätter abgezupft, hatte die Rasenkanten gereinigt und auch den letzten Grashalm weggeschnitten, den der Rasenmäher nicht erfasst hatte. Sie grinste. Ihre Lieblingsblumen hatten alle überlebt. Gerade hatte sie schon befürchtet, er hätte ihnen die Köpfe ein wenig abgemäht, aber Jan hatte seinen Dienst ordentlich getan. „Hallo Sybille!“, rief er jetzt fröhlich durchs Küchenfenster. Er hatte ihren Schatten bereits gesehen. „Kaffee?“, rief er. Sybille nickte. Dann ging sie zurück zum Auto.

Eilig holte sie den zotteligen Freund aus dem Kofferraum und ihre Tasche, in der sie eine Fertigpizza und einen Salat verstaut hatte. Sie schloss die Haustür auf und stellte eilig die Tasche ab. Hoffentlich machte Jan jetzt nicht die Küchentür auf, überlegte sie ängstlich. Es sollte schließlich eine Überraschung werden. Flugs rannte sie mit Zottel die Treppe hinauf. Geschafft. Sie öffnete die Tür zu Jans Schlafzimmer und legte den Freund auf Jans Bett, das er schon gemacht hatte. Jetzt war Jan nicht mehr alleine! Sybille lächelte und freute sich sehr darüber!

Sybille sah sich um. Das Fenster war bereits zur Hälfte geöffnet und das Bad war auch gelüftet. Das wollte sie so und Jan hatte es erledigt. Gute Erziehung, dachte Sybille. Jetzt hatte sie hier ein Problem weniger! Dann schlich sie leise die Treppe wieder herunter und ging in die Küche.

„Hallo Jan“, sagte sie, als sie eintrat. Jan saß am Küchentisch, hatte die Arme auf die Tischplatte gelehnt und war seinen Gedanken nachgegangen. Einen Schritt nach vorne hatte er damit allerdings nicht erreicht. Er drehte sich herum, als sie eintrat. „Feierabend, Sybille?“, fragte er. „Hattest du einen guten Dienst? “Sybille sah ihn an und lächelte.

„Genau das habe ich jetzt gebraucht! Jemanden, der fragt, wie mein Tag gewesen ist!“ Sie trat auf ihn zu. „Danke. Ich hatte einen guten Dienst und ich danke dir, dass du so lieb fragst!“ Jan lächelte jetzt auch. Immer mehr kam es ihm so vor, als sei es richtig gewesen, was er getan hatte. Diesen Schritt, der einfach sein musste. Er musste raus aus diesem Dilemma, in dem er steckte, dieser Tretmühle, die ihn zermartert hatte und die ihn die Luft kostete. Sybille stellte ihre Tasche in die Ecke an der Kommode. Dort lag sie immer und jeden Tag griff sie nach ihr, um mit ihr zu ihrem Dienst zu fahren. Ein Ritual, das wohl noch eine ganze Zeit lang so weiterlaufen würde. Jan stand auf. „Ich mach dir einen Kaffee!“, sagte er. Sybille trat an ihn heran. „Wir sollten reden!“, sagte sie. Erstaunt sah er sie an. „Soll ich schon wieder gehen?“, fragte er entsetzt. Sybille schüttelte den Kopf. „Wie kommst du denn auf so etwas?“, fragte sie irritiert. „Ich finde dich sympathisch und kann mir vorstellen, dass du im Moment keinen Schritt vor den anderen machen kannst. Dennoch glaube ich, ein guter Menschenkenner zu sein. Ich möchte, dass du dir meinen Rat anhörst!“ Jan sah sie an. Er senkte den Kopf und seufzte. Da war schon wieder jemand, der ihm einen Rat gab. Er konnte es eigentlich nicht mehr hören und genau deshalb war er davongerannt. Und jetzt auch noch Sybille. Mist, dachte er. „Ok. Ich bleibe bis morgen und dann verschwinde ich!“, sagte er hastig. Sein Blick hatte sich verändert und seine Körperhaltung sackte zusammen. Sybille sah ihn jetzt streng an. „Ich sagte nicht, dass du meinen Rat annehmen musst. Es ist DEIN Leben, ich kenne dich nicht und du kannst meinen Rat annehmen, musst es aber nicht!“ Sie nahm ihm jetzt die Tasse aus der Hand, in die er gerade den Kaffee eingefüllt hatte. „Danke Jan! Dennoch möchte ich, dass es dir gut geht und du vielleicht eine neue Sichtweise auf alles bekommst!“ Dann drückte Sybille Jan auf seinen Platz am Tisch. Enttäuscht legte er beide Arme auf die Tischplatte, so wie vorhin.

Sybille sah ihn an. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde einen Teufel tun und dir sagen, wie das Leben spielt. Das weißt du im Moment glaube ich selber. Aber du bist jetzt in einer Situation, wo dir wahrscheinlich alles zu viel ist. Ich kann das gut verstehen und bin ganz bei dir. Deshalb hör dir erst mal an, was ich dir empfehle!“ Mit gesenktem Kopf überlegte er: Vielleicht hatte sie recht. Anhören konnte er sich das, was sie ihm zu sagen hatte. Er war ein freier Mann und konnte auch sofort gehen, wenn es ihm zu viel wurde.

Sybille rückte näher. „Warum hast du überhaupt keinen Kaffee?“, fragte sie erstaunt. „Hast du dein Kaffee-Limit schon überschritten?“ Jan musste trotz der verfahrenen Situation jetzt doch ein wenig schmunzeln. „Nein. Aber ich hatte keinen Durst!“ Sybille nickte.

Dann räusperte sie sich. „Also!“, sagte sie jetzt fast schon feierlich. „Ich möchte, dass du dir diese Woche überhaupt nichts vornimmst! Genieß die Zeit hier, entspann dich, relax ein wenig, tu wirklich das, was du möchtest. Nimm dir einfach die Zeit, die du brauchst, um wieder mit dir ins Reine zu kommen. Und wenn du möchtest, dann kannst du ab und an mit mir Einkaufen fahren oder ich zeige dir die Stadt und das Umland. Wir haben hier einige schöne Sehenswürdigkeiten, von denen du bestimmt nichts weißt!“ Jan sah sie an und entspannte sich wieder. Sie wollte ihm keinen Druck machen, hatte keine guten Ratschläge für ihn, von denen er sowieso schon genug gehört hatte: „Du musst jetzt da durch. Augen zu und durch. Mach es einfach, es hilft sowieso nichts, dass du dich dagegen wehrst!“ Davon hatte er weiß Gott genug! Aber Sybille war anders. Sie gab ihm die Zeit dafür und war ihm jetzt eine große Stütze. Mit einem lächelnden Blick dankte er es ihr.

„Ich habe mich heute Morgen umgehört und erfahren, dass ab nächsten Monat jemand in der Stadtverwaltung in der Kfz-Stelle gesucht wird. Dort habe ich einen Bekannten, der nur darauf wartet, dass du dich irgendwann meldest! Aber nicht heute und nicht diese Woche! Du hast Zeit! Diese Woche solltest du wirklich erst mal an dich denken. Nimm dir diese Auszeit. Es bringt jetzt nichts, wenn du mit aller Gewalt versuchst, dein altes Leben wieder in den Griff zu bekommen, während dein Gehirn dich gerade mit anderen Sorgen zerfrisst!“

Mit einem fragenden Blick sah Sybille ihn an. Jan musste jetzt reagieren. Doch noch immer nagten in ihm Zweifel und die Schuld Sybille gegenüber. „Ich danke dir, Sybille. Aber ich weiß nicht, warum du das machst. Ich kann und will dir im Moment nichts über mich erzählen und weiß wirklich nicht weiter!“ Sybille nickte. „Kein Problem! Mir ist klar, dass du auch nicht Jan heißt! Aber das ist nicht wichtig. Du hängst nicht in der Drogenszene ab und hast im Leben auch noch nie schwer gearbeitet. Dafür hast du viel zu schöne Finger. Schwielen sehe ich bei dir keine. Aber du hast ein großes Herz und etwas lastet auf dir. Deshalb möchte ich dir ein wenig helfen!“ Sybille wartete nun eigentlich auf eine Antwort von ihm, setzte dann aber leise fort: „Irgendwann allerdings solltest du mir ein wenig von dir erzählen. Ich will nicht deine Lebensgeschichte hören und auch nicht, warum du diesen Schritt gegangen bist. Dennoch erwarte ich von dir, dass du mir ein oder zwei Puzzlestücke gibst, damit ich mir zumindest in Ansätzen zusammenreimen kann, was dich hierher verschlagen hat!“

Sybille nahm ihre Tasse wieder hoch. „So, das war alles, was ich dir zu sagen hatte. Keine guten Ratschläge. Nur, dass du diese Woche wirklich zur Ruhe kommen sollst! Lass uns etwas im Garten arbeiten, leg dich auf die Sonnenliege, genieß dein Leben und lass mich dich ein wenig bemuttern!“ Sie grinste verschmitzt und Jan lächelte jetzt. „Danke Sybille. Ich danke dir sehr!“ Sie grummelte. „Mmh. Schon gut!“ Bei allzu viel Gefühlsduselei stiegen ihr Tränen in die Augen und sie drehte sich herum. Rasch wechselte sie deshalb das Thema. „Wenn du in die Stadt möchtest, dann solltest du dich umziehen!“, sagte sie zu Jan. Jan nickte. „Vielleicht später!“ Dann nahm er die Zeitung in die Hand und blätterte weiter. Jan war froh, dass Sybille ihn nicht löcherte und unangenehme Fragen stellte. Dennoch musste er auf der Hut sein. Sie hatte erkannt, dass er nicht der Arbeiterschicht angehörte, stellte aber auch fest, dass er mit beiden Beinen im Leben stand. Er seufzte und sah hinaus. Früher hatte er das wirklich einmal.

Bis vor wenigen Tagen hatte er tatsächlich mit beiden Beinen im Leben gestanden. Doch jetzt? Was war jetzt? Jetzt stand er in seinen eigenen Scherben und wusste nicht, wie er sie beiseite räumen sollte!

Sein Blick ging in Richtung Garten. Er hatte hier Rasen gemäht. Von sich aus wollte er etwas tun und hatte Sybille damit eine Freude bereitet. Das hatte ihm gutgetan. Sie hatte ihn deshalb nicht frenetisch gefeiert, war ihm nicht um den Hals gefallen, weil er berühmt war. Sie hatte sich bedankt, weil er sie unterstützt hatte und war froh, dass sie diesen Moment mit ihm teilen wollte, weil er jetzt Jan war. Einer von vielen. Ihr Mitbewohner, ein junger Mann, der nicht ungewöhnlich war, sondern ein ganz normaler Mensch mit Ecken und Kanten.

Sybille sah ihn immer wieder für einen kurzen Moment an. Sie sah, dass sein Gehirn jetzt begann, sich über den Moment klarzuwerden, in dem er gerade steckte. Doch sie hoffte so sehr, dass er diese Zeit für sich nutzte. Sie mochte ihn wirklich und es wäre schade gewesen, wenn er dem Leben nicht standhielt, das er eigentlich führen musste oder auch wollte. Hoffentlich konnte sie ihm ein Stück weit helfen.

Doch jetzt hatte er zumindest in seinem Zimmer, in dem er sich hoffentlich wohlfühlte, einen Freund liegen. Sybille hoffte, dass ihm das Zimmer gefiel und er ein wenig über den neuen Freund schmunzeln konnte.

Sie räumte den Geschirrspüler aus, den sie heute Morgen bestückt hatten. Während sie mit dem Geschirr klapperte, fragte sie Jan beiläufig.

„Was willst du essen? Gibt es etwas, was du überhaupt nicht isst oder am liebsten magst?“ Jan sah erstaunt auf. „Oh, eigentlich esse ich alles. Aber…“, er hielt inne. „Ich liebe Bratwurst mit Kartoffeln und Salat!“, sagte er. „Frische Bratwurst ist absolut mein Ding!“ Sybille nickte. „Kein Problem. Der Metzger ist gleich hier um die Ecke!“ Jan lächelte jetzt. „Einverstanden!“ Sybille stimmte ihm zu. Der Plan schien aufzugehen.

Den restlichen Vormittag verbrachten sie gemeinsam. Jan hatte wirklich Lust dazu, Sybille ein wenig unter die Arme zu greifen. Handwerklich war er ein wenig geschickt, ohne es wirklich gelernt zu haben, und wenn er etwas fertigbrachte, dann hatte er auch ein Erfolgserlebnis! Sybille trat in den Garten und stellte die Gartenstühle wieder gerade. Sie legte kleine Kissen darauf und ein leichtes Plaid zum Zudecken, falls der Wind ein wenig auffrischte.

Jan hatte gesehen, dass eine Bohle am Gartenhaus kaputt war. „Hast du Bretter zu Hause?“, wollte Jan von Sybille wissen, die ihm gerade den Rücken zugewandt hatte, um welke Blätter an zwei Blumen abzumachen. „Schau mal im Keller!“, sagte sie. „Dort müsste noch etwas sein.“ Jan ging ins Haus und kam wenig später mit zwei passenden Stücken zurück. Den Hammer hatte er im Schuppen gesehen und eine Dose mit Nägeln befand sich dort auch. Dann schnappte er sich die Zange, riss die defekte Bohle ab und erneuerte sie. Sybille ließ sich seufzend auf die Liege fallen. „Danke. Das war schon lange fällig. Aber ich bin einfach nie dazu gekommen, hier etwas zu machen!“ Jan nickte. „Jetzt bin ich ja da!“ Und zum ersten Mal war er richtig froh, jetzt hier zu sein.

Sybille ließ ihn machen. Wenn er Beschäftigung suchte, dann hatte er hier den richtigen Platz gefunden! Sie konnte erahnen, was er im Moment durchmachte. Einerseits suchte er Ablenkung, um nicht über seine Probleme nachdenken zu müssen. Andererseits suchte er jetzt und sofort einen Plan B mit einer perfekten Lösung. Das Problem daran war nur, dass es diese perfekte Lösung nicht gab! Das war ausgesprochen blöd. Aber so lange er ihr nicht sagte, was ihn bedrückte, so lange konnte sie ihm nicht helfen. Und bis dahin würde sie ihm zur Seite stehen und ihn einfach auffangen. Begonnen hatte sie damit ja schon!

Jan hatte jetzt die Bretter befestigt und war doch ein wenig stolz auf sich. Es war eine andere Arbeit als sonst. Auch hier hatte er Erfolg. Nur fühlte es sich diesmal anders an. Es war ehrlich! Mit beiden Händen stützte er sich auf dem warmen Holz des Schuppens ab. Es war wie in einem Video, das er für seine Musik einst gedreht hatte. Gerne hätte er jetzt dieses Lied gesungen, doch seine Seele war verstummt. Ein tiefer Seufzer entglitt ihm. Er kam direkt aus seiner Seele. Leere umgab ihn. Tiefe, dunkle Leere, die es nicht einmal fertig brachte, die Stimme seines Herzens rufen zu lassen. Sein Kopf und seine Seele waren leer und er wusste einfach nicht weiter.

Jan drehte sich um und holte tief Luft. „Was mache ich eigentlich hier?“, fragte er Sybille, die ihn in diesem Moment erstaunt anstarrte. „Was du hier machst?“, gab sie ihm die Frage zurück. „Sag du es mir!“ Jan sah sie an. Minutenlang, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Worte hallten ihm immer noch im Kopf. Dann hatte er sich wieder gefangen. „Du hast recht, Sybille. Ich sollte mir eine Auszeit nehmen!“ Sybille atmete durch. Sie wusste, dass er am Ende war. Aber jedes Ende war auch ein Anfang. Vielleicht begann er jetzt, alles was gewesen war zu hinterfragen. Vielleicht steuerte er jetzt einen völlig anderen Weg ein. Aber vielleicht war dieser Weg auch ein Stück weit Verarbeitung. Sie konnte es für ihn nur hoffen.

Jan setzte sich neben sie. „Du meinst, ich soll mir diese Auszeit wirklich genehmigen?“, fragte er verunsichert. Sybille zupfte eine Stachelbeere ab, deren Strauch direkt hinter ihrer Liege wuchs. „Hier!“ Jan nahm sie und steckte sie sich in den Mund. Sie schmeckte wie ein Bonbon. Er schloss die Augen und genoss die süßlich-bittere Frucht. Dann öffnete er die Augen wieder. „Das tat gut!“, sagte er. „Wie lange hast du schon nicht mehr gemerkt, wie das Leben schmeckt?“, fragte sie ihn jetzt direkt. Jan überlegte einen Augenblick lang. Er nickte. „Das ist gar nicht so einfach zu beantworten!“, murmelte er. Sybille setzte sich auf. „Willst du schon reden oder möchtest du dir jetzt wirklich diese Woche erst mal gar keine Gedanken machen? Wenn du möchtest, kaufen wir zusammen ein, wenn nicht, dann mach ich es alleine. Aber auf jeden Fall zeige ich dir die Stadt und ein paar Orte, wo dich wahrscheinlich keiner kennt und du deinen Gedanken nachhängen kannst! Bist du sportlich?“, wollte sie wissen und schaute an ihm entlang. Jan nickte. „Ein wenig, aber nicht übermäßig!“ Sybille nickte erneut. „Gut“, sagte sie. „Wir beiden gehen jetzt zum Metzger und holen Bratwurst, dann wirst du mir beim Essen kochen assistieren. Anschließend machen wir eine ausgiebige Sightseeingtour-Tour durch die Stadt!“ Sybille stand auf. „Ich mache mich fertig und auch du solltest dich umziehen. Nach einer Gartenarbeit bleibt immer ein wenig hängen!“, grinste sie und schickte ihn mit einem abwendenden Kopfschütteln nach oben.

Jan hatte verstanden. Sie hatte recht. Doch die Vergangenheit, die jetzt erst einen Tag alt war, würde ihn einholen. Sie hatte ihn sowieso noch nicht losgelassen. Aber in diesem Moment brauchte er niemandem Rechenschaft abzulegen. Wenn er jetzt und sofort sein altes Leben kippte, dann war es so. Auch er hatte ein Recht darauf, alles hinzuschmeißen und ein völlig anderes Leben zu beginnen. Eines, das ehrlich war!

Mit diesen Gedanken stand Jan auf und ging hinter Sybille hinein ins Haus. Sybille überlegte eilig und sah Jan an, der gerade im Begriff war, nach oben zu gehen. „Halt!“, rief sie. „Wir haben keine Zeit fürs Umziehen! Du kannst so gehen! Komm!“, sagte sie und Jan nickte. Es war das erste Mal seit ewiger Zeit, dass ihm jemand sagte, was er lassen sollte! Ansonsten durfte er immer alles und bekam das Meiste auf einem silbernen Tablett serviert! Doch hier war das anders. Aber es war gut so. Er fühlte sich bei Sybille sicher und sie hatte alles im Griff. Vielleicht auch ihn. Vielleicht zeigte sie ihm jetzt den Weg, den er gehen musste. Sie konnte ihn lenken, ihm Tipps geben, doch beschreiten musste er ihn wohl alleine.

Noch immer stand Jan am Treppenaufgang und noch immer sah Sybille ihn an. „Kommst du?“, fragte sie noch einmal leise, um ihn aus seiner Gedankenreise zu entfernen. Jan holte tief Luft. „Ja! Gerne!“ Und jetzt hatte er auch wieder ein Grinsen im Gesicht! Er schnappte sich seine Jacke, schlüpfte in die Turnschuhe und sprang hinter Sybille her, die bereits einige Schritte vorausgegangen war. „Wir gehen zu Fuß, das ist nicht weit!“, sagte sie. Jan nickte. „Prima!“

Der Weg zum Metzger führte an einigen kleinen Häusern vorbei, einem lang gezogenen Parkähnlichen Bereich und zwei Hochhäusern. Im Gegensatz zu Frankfurt waren sie zwar kleiner, aber es waren Hochhäuser.

Der kleine Metzgerladen war über einigen Stufen erreichbar. Die kleine Türglocke bimmelte und winkte die Kunden hinein. „Guten Morgen“, rief Sybille in die Reihe der wartenden Kunden. Sie hasste es, wenn keiner ihren Morgengruß erwiderte. Man musste sich nicht kennen und auch nicht mögen. Aber einen Guten-Morgen-Gruß, das war ja wohl das Mindeste, was man von seinem Gegenüber erwarten konnte!

Die Kunden im Raum sahen sie an. Einige nickten und zwei von ihnen bekamen auch die Zähne auseinander und erwiderten ihren Gruß. Sybille nickte. „Geht doch“, dachte sie. So schwer konnte das doch gar nicht sein! Dann warteten sie, bis sie aufgerufen wurden.

Jan fühlte sich unwohl. Es war erst das zweite Mal, dass er völlig alleine und ohne beschützenden Background unter Menschen war. Doch keiner hier schien auch nur das entfernteste Interesse an ihm zu haben. Sybille sah ihn aus ihrem Augenwinkel heraus an. Sie beobachtete ihn, ohne es auffällig wirken zu lassen. Es war ihm sichtlich unangenehm, überlegte sie. Er fühlte sich verfolgt und sie konnte nur hoffen, dass es richtig war, ihn aufzunehmen. Dann war sie auch schon an der Reihe, um ihre Bestellung aufzugeben. Sybille besorgte die von Jan so geliebte Bratwurst und er lächelte. Die Verkäuferin nickte ihnen freundlich zu und packte alles in eine Tüte. Für das Abendbrot nahm Sybille außerdem noch Aufschnitt und ein wenig Fleisch für den nächsten Tag mit. Dann bezahlte sie und beide gingen wieder über die kleinen Stufen zurück auf den Gehweg.

„Dankeschön!“, sagte Jan. Sybille nickte. „Das Mittagessen ist gesichert! Du kannst gleich schon den Tisch decken, während ich Kartoffeln schäle und die Bratwurst zurechtmache!“ Jan nickte. Erleichterung machte sich breit.

Mit einem breiten Grinsen nahm Jan Sybille die Tasche ab. „Ich möchte auch ein wenig Verantwortung tragen!“ Sybille lächelte ebenfalls. „Na dann!“, sagte sie und steckte ihre Hände in die Hosentaschen, nachdem Jan ihr die Tasche abgenommen hatte.

Schweigend genossen sie die frische Luft, die ihnen jetzt entgegenwehte und Jan erfreute sich der Leichtigkeit des Morgens. Es tat gut, einfach mal an gar nichts zu denken. Keinen Plan zu haben, keinen Termindruck und auch keine Sorgen, was morgen war.

Hier konnte er das Morgen kommen lassen, ohne dass es ihm Angst bereitete. Auch das Schweigen tat ihm gut. Nur das Gezwitscher der Vögel drang in ihre Ohren. Aber das war so leise, dass er es gut ertrug.

Dann war auch schon wieder die Einfahrt zu Sybilles Hof zu erkennen, die sie jetzt entlang gingen. Sybille schloss die Haustür wieder auf und beide traten ein. Jan stellte die Tasche auf den Küchentisch, als sich Sybille ihre leichte Jacke auszog und an die Garderobe hing. „Ich bin gleich wieder da, sagte er und ging die Treppe nach oben!“ Sybille lächelte und sah ihm nach. Was würde er jetzt wohl sagen, wenn er sein Zimmer öffnete? Sie wartete und hörte in die Stille hinein. Wann würde er aufschreien? Vielleicht sagte er auch nur „Aha“. Vielleicht sagte er aber auch gar nichts.

Ihr ganzer Körper kribbelte, als sie hörte, wie er sein Zimmer betrat. Doch statt die Tür jetzt wie immer zuzumachen, hörte Sybille ein: „Was ist denn das für ein süßes Fellknäuel? Du bist aber niedlich. Was bist du denn für einer und wie kommst du hier rein?“ Sybille lächelte. Eine Träne fiel zu Boden und sie nickte. Ein tiefer Seufzer ging durch ihren Körper, dann schlich sie leise zurück ins Wohnzimmer. Sie nahm ihre Zeitung und setzte sich auf ihren Sessel. So, als ob sie von nichts eine Ahnung hätte. Nur ihr Grinsen verriet ihr, dass sie sich immer noch über die Szene freute, die gerade in der oberen Etage stattgefunden hatte!

Jan sah ins Zimmer und konnte es nicht fassen. Auf seinem Bett lag ein fast einen Meter großer, weiß-braun gesprenkelter Stoffhund. Er hatte zwei süße Knopfaugen und ein hübsches Gesicht. Aber das, was Sybille ihm geschenkt hatte, war jetzt ein Freund. Ein richtig guter Freund, mit dem er die nächsten Tage alles teilen konnte. Und nachts würde er ihn beschützen. Und er war ab jetzt auch nicht mehr alleine.

Jan strahlte über das ganze Gesicht. Schon so lange hatte er nichts mehr bekommen, was seinen Glücksgefühlen diesen Auftrieb beschert hatte. Fans schenkten ihm immer wieder mal Herzen oder kleine Teddys.

Eigentlich war Jan erwachsen. Doch jetzt hatte er jemanden, neben Sybille, den er insgeheim fragen konnte, was er tun sollte. Nachts würde er einen Freund haben, der über seine Träume wachte und wenn er Angst bekam oder verzweifelte, dann war jemand da, der ihn beschützte und tröstete. Jan streichelte den großen Hund immer und immer wieder. Er war weich, neu und genau das, was er jetzt vielleicht brauchte. „Du brauchst aber noch einen Namen!“, sagte Jan. Er nahm den Kopf des großen Hundes zwischen seine beiden Hände und lächelte ihn an. „Jeder Freund braucht einen Namen!“ Dann drückte er ihn an sich und überlegte. „Du sollst Ben heißen.“ Jan nickte. Es war ein schöner Name und er passte auch zu ihm. Jan schob Ben ein wenig von sich und sah ihn an. „Danke, dass du ab jetzt diesen Weg mit mir teilst, Ben!“, sagte er zu ihm und legte ihn wieder auf seinen Platz zurück. Auf die Decke von seinem Bett. „Heute Nacht musst du aber auf dem Teppich schlafen!“, sagte er zu Ben. „Tiere gehören nichts ins Bett. Aber du darfst meinen Schlaf bewachen!“ Jan lächelte und streichelte das große Tiere noch einmal. Dann stand er auf und ging zurück in den Flur. „Bis später Ben!“, rief er und schloss die Tür hinter sich. Ben war jetzt alleine.

Jan begab sich zurück nach unten zu Sybille. Er sprang die Treppe hinunter. Sie war fast schon mit ihrer Zeitung fertig, als sie Jan rufen hörte. „Der ist aber süß.“ Das Strahlen stand ihr immer noch im Gesicht. Ihre Rechnung war aufgegangen. Sie fand, dass jeder Junge einen Freund brauchte. Und da war es ganz egal, wie alt er war. Sie schätzte Jan auf 28 bis 32 Jahre. Vielleicht aber auch 33. Es war ganz egal. Sie hatte recht gehabt und freute sich darüber, dass sie ihm hiermit eine Freude gemacht hatte! Er sah sie an. „Darf ich?“, fragte er jetzt mit glänzenden Augen und streckte beide Arme aus. Sybille nickte. Mit einer festen Umarmung zog er Sybille an sich. „Ich danke dir so sehr!“, sagte er. „Danke für diesen kleinen Freund!“ Dann ließ er sie los. Noch immer standen Tränen sowohl in seinen als auch in ihren Augen. „Ich schenke ihn dir und ich habe es sehr gerne getan! Das ist etwas, das dich später immer an mich erinnern wird!“ Jan schluckte. Es war die Endlichkeit, die ihm jetzt Angst bereitete. Aber noch war es nicht soweit. „Ich würde gerne noch ein wenig bleiben!“, sagte er kläglich und Sybille nahm ihn jetzt erneut in den Arm. „Das darfst du auch!“ Dann schob sie ihn ein wenig von sich. „So lange du Zeit brauchst, um zu atmen, so lange darfst du bleiben!“ Jan nickte. „Das werde ich dir nie vergessen!“, sagte er. Dann wandte er sich um, ohne den Satz noch fortzuführen, und deckte den Tisch.

Sybille war froh über einen Augenblick Selbstreflexion und hing ihren Gedanken nach. Instinktiv stellte sie das Radio an. Jan hielt einen Augenblick inne. Das konnte er so gar nicht gebrauchen. Wahrscheinlich war er nach wenigen Minuten versucht, im Takt mitzusummen oder sogar „abzugehen“. Was war, wenn Sybille ihn dann aufgrund seiner gewaltigen Stimmfarbe erkannte. War dann sein schöner Plan aufgeflogen? Das konnte er sich überhaupt nicht leisten. Außerdem konnte er Musik jetzt in keinster Weise vertragen. Er hatte ihr abgeschworen und wollte auch nicht mehr davon anfangen, ihr nachzugehen. Irritiert suchte er am Tisch seine Aufgabe. Zerfahrenheit machte sich breit. Wie sollte er den Tisch decken, wenn Sybille ihn jetzt aus seiner gerade noch aufgebauten Verankerung herausriss?!

Sybille ging nach draußen. Sie hatte sich eine zweite Tasse Kaffee zubereitet und wärmte ihre Hände an ihr. Es tat ihr gut, während sie in Gedanken schwelgte, etwas in der Hand zu halten. Und Kaffee war das Optimale dafür, fand sie.

Als sie Jan den Rücken zudrehte, wandte er sich dem Radio zu und stellte es vorsichtig aus. Es war ohnehin sehr leise eingestellt. Vielleicht würde sie überhaupt nicht bemerken, dass er es schon wieder ausgemacht hatte. Sie hatte sowieso gerade anderes Kopfkino und würde sicherlich einen ganzen Augenblick brauchen, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen.

Der Tisch war gedeckt und Jan hätte Sybille jetzt hereinrufen können. Doch er unterließ es und nahm sich noch einmal die Zeitung vor. Vielleicht fand er etwas darin, was ihm passend erschien, um es zu lesen. Die Sportnachrichten hier in der Presse waren örtlich begrenzt, sodass er seinen Lieblingsverein hier wahrscheinlich in keinster Weise erwähnt sah.

Doch Sybille hatte ihre Augen und Ohren überall. Sie ließ sich gerne morgens ein wenig von leiser Musik, die sie zwar nicht kannte, aber deren Taktgefühl sie ein wenig abdriften ließ, berieseln. Auch hatte sie das Treiben und Hantieren von Jan im Hintergrund sehr wohl mitverfolgt. Sie war zwar nicht misstrauisch, aber durch ihre Tätigkeit als Taxifahrerin hatte sie gelernt, mit den Nebengeräuschen und Bewegungen ihrer Umwelt sehr gut umzugehen. Daher war es ihr auch nicht verborgen geblieben, dass Jan das Radio abgestellt hatte. Doch sie wollte jetzt nicht darauf bestehen, dass er es wieder anmachte. Ihre gute Menschenkenntnis und ihr gesundes Misstrauen würden wahrscheinlich früh genug hinter das Geheimnis von Jan kommen.

Sie konnte daher nur hoffen, dass er misstrauisch war, dass jetzt in den Nachrichten eine Suchmeldung der Polizei nach ihm gesendet wurde. Vielleicht auch ein Fahndungsaufruf bezüglich eines Verbrechens. Doch Sybille konnte sich in keinster Weise vorstellen, dass Jan auch nur annähernd etwas mit solchen Kreisen zu tun haben könnte. Dafür war sein Atem zu gleichmäßig, seine Art, wie er mit ihr umging, seine Naivität, was den Stoffhund anbelangte, und sein vorsichtiger Umgang mit den Dingen, mit denen er hier hantierte!

Doch Vorsicht war hier die Mutter der Porzellankiste. Sie musste auf der Hut sein, egal wie sehr sie ihn mochte.

Lächelnd sah sie Jan an. „Ich schäle jetzt Kartoffeln und dann essen wir!“ Jan nickte. „Soll ich dir helfen?“, wollte er wissen, doch Sybille verneinte. „Du kannst dich ein wenig ausruhen und in der Zeitung herumblättern. Vielleicht findest du ja doch einen interessanten Artikel!“ Jan nickte. Er suchte die Zeitung und verkroch sich an den Wohnzimmertisch, während Sybille das Mittagessen machte. Der Salat war schnell fertig, die Kartoffeln würde sie auch schnell geschält haben und dann brauchte sie nur noch wenige Minuten für die Bratwurst. Sie war gespannt, ob Jan sie wirklich mochte. Vielleicht hatte er schon Dutzende dieser Sachen probiert und mochte diese hier nicht. Aber vielleicht mochte er sie gerade erst recht. Sie würde sehen!

Schneller als gedacht hatte sie routiniert ihre Arbeitsvorgänge nacheinander abgespult und stellte den Herd an. Eilig lief sie anschließend ins Bad, räumte die Wäsche zusammen, die sie noch waschen musste, und stopfte diese schnell in die Waschmaschine. Dann warf sie mit Schwung die Tür zur Waschmaschine zu und stellte sie an. Zufrieden ging sie langsam wieder in die Küche zurück. Vielleicht würde ihm ein Eis nach dem Mittagessen guttun, überlegte sie. Zunächst aber plante sie, mit ihm eine Stadtrundfahrt zu unternehmen. Vielleicht sollte sie auch durch die Straße fahren, an der die Polizeiwache war. Wenn er ein schlechtes Gewissen hatte, würde sich dieses garantiert vor Ort bemerkbar machen. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf über diese abscheuliche Überlegung. Aber wie sollte sie seinem Geheimnis sonst auf die Spur kommen? Für eine Scheidung nach einer Trennung brauchte man nicht so weit zu reisen, sondern heulte sich bei einem seiner Kumpel aus oder zog wieder zu seiner Mutter.

Bei ihm war es etwas anderes und sie spürte es. Etwas hatte seinen Zenit zerschnitten und Sybille musste versuchen, den Horizont wieder zu glätten beziehungsweise ihn wieder ein wenig in die Parallele zu bringen.

Instinktiv stocherte sie im Kartoffelsud herum. Die Kartoffeln waren fast fertig und jetzt konnte sie die Bratwurst endlich durchbraten. „Jan, in zehn Minuten können wir essen!“, sagte sie. Wahrscheinlich waren es gefühlte drei Minuten, aber sie hatte immer zehn im Visier. Weil Männer sowieso immer länger brauchten, obwohl das rein statistisch gesehen, nicht so beschrieben war. Aber sie wusste es besser. Frauen stiegen schneller in ihr Taxi ein. Sie hatten eindeutig eine bessere Organisation, während Männer sich hinten in ihrem Taxi breitmachten, ihre Zettel verteilten, den Kuli im Mund positionierten und dann in einem Anflug von Chaos am Zielort alles wild durcheinander zusammensammelten. Sybille schüttelte den Kopf, während sie darüber nachdachte. Dann nahm sie den Kartoffeltopf vom Herd, stellte den Herd aus und schüttete das Wasser ab. „Essen ist fertig!“, rief sie zu Jan hinüber, der inzwischen in der Mitte der Zeitung angekommen war und sich mit den Stellenangeboten beschäftigte.

Vielleicht sollte er wirklich einen Job annehmen. Doch was konnte er schon, außer singen? Irgendwann hatte er zwar einen Beruf gelernt, aber das war schon so viele Jahre her, dass er jetzt garantiert den Anschluss daran verloren hatte. Außerdem war das keine Option mehr für ihn. Er hatte jetzt andere Interessen und denen wollte er nachgehen. So zumindest sein Plan!

Doch was nutzte ihm der beste Plan ohne seine Vorstellungskraft und die Idee, wie er diesen umsetzen konnte. Er war nicht der Macher-Typ. Er war nur für den Erfolg programmiert. Und das konnte er!

Mutlos ließ er den Kopf hängen. Die Zeitung vor ihm hatte ihm auch nicht die Inspiration verschafft, die er eigentlich dazu gebraucht hätte. Beide Hände lagen jetzt auf der ausgebreiteten Zeitung, von deren Artikeln er wahrscheinlich überhaupt keinen gelesen hatte. Mutlos ergab er sich der Zeit und seufzte. Dann blickte er aus dem Fenster.

Inzwischen hatte Sybille das Radio wieder angestellt. Jan sah auf. Das Lied, das aus diesem alten Kasten an sein Ohr hämmerte, kannte er. Dieser Sender spielte den ganzen Tag nichts außer Popmusik. Stundenlang, rauf und runter. Es widerstrebte ihm. Er konnte und wollte es nicht hören. Doch im Moment konnte er es nicht ändern. Sybille hatte ein Recht darauf, beim Essen zubereiten sehr wohl ihr Radio anzuschalten. Sie wohnte hier und konnte tun und lassen, was sie wollte. Denn um ihn ging es hier nicht. Er war hier nur Gast und hatte seine eigenen Probleme!

Am liebsten wäre er hinausgerannt und hätte unter irgendeinem Vorwand das Zimmer verlassen. Doch er wollte auf gar keinen Fall Skepsis und Neugier bei Sybille hinterlassen. Er wollte noch keine unangenehmen Fragen, auf die er keine Antwort hatte. Er wusste überhaupt nicht, was im Moment mit ihm los war. Zu viele Fragen, zu viele ungeklärte Dinge, zu viel, was er jetzt im Moment nicht verarbeiten konnte und woran er auch nicht denken wollte.

Jan seufzte. Er sah hinaus. Der Wind wehte die Büsche und Bäume vor dem Fenster nur leicht hin und her. Sie schwangen und es schien ihnen gutzugehen. Die Sonne verhieß jetzt einen schönen Tag und eigentlich sollte er seiner Zukunft jetzt wieder positiv entgegensehen. Er hatte seine Vergangenheit hinter sich gelassen, und doch war da etwas, was ihn nicht in Ruhe ließ. Sein Schuldgefühl.

Sybille hatte im Augenwinkel den Unmut und die Rastlosigkeit ihres jungen Gastes bemerkt. Wie gerne hätte sie ihm geholfen. Doch wenn er mit der Sprache nicht herausrückte, dann konnte sie ihm das schlecht aus dem Mund herauszerren. Er musste von selber auf sie zukommen und nicht umgekehrt.

Genau in diesem Moment stellte Sybille den Topf auf den Tisch. „Wir können essen!“, sagte sie zu Jan. „Ich gehe schnell in den Vorratsraum und hole uns etwas Kühles zu trinken. Magst du auch einen Saft, Jan?“, fragte sie, während sie bereits im Flur war.

Jan hatte ihr fast nicht zugehört und nur einige Bruchstücke ihrer Frage verstanden. Doch diese drehten sich um den Hauptteil. „Äh, ja, bitte!“, sagte er. Er sah ihr einen Moment nach, stand rasch auf und konnte es doch nicht dabei bewenden lassen, dass ihm die Musik jetzt zum Essen auch noch den Appetit verdarb. Eilig drückte den Off-Schalter und die Musik verstummte erneut.

Nur, was würde geschehen, wenn Sybille das Radio wieder anstellte? Wie sollte er sich dann herausreden? Die Situation der Frage würde es zeigen! Erleichtert setzte Jan sich wieder. Er konnte im Moment absolut keine Musik ertragen. Er wollte es auch ganz einfach nicht. Sie drang in sein Gehirn ein und riss an seinen Gedanken, sie zerrte an ihm und riss ihn mit sich fort. Vielleicht bescherte sie ihm auch heute Nacht ansonsten noch einen Albtraum. Das konnte er auf gar keinen Fall zulassen!

Sybille trat in die Küche. Im Arm hielt sie zwei Flaschen kühlen Saft und stellte ihn auf den Tisch. „In der Vorratskammer ist es herrlich kühl!“, sagte sie. Dann stutzte sie. „Hatte ich nicht das Radio angemacht?“, fragte sie. Doch sie ging, ohne auf eine Antwort von Jan zu warten, auf den Küchenschrank zu und holte zwei Gläser heraus. „Das wird uns jetzt guttun“, setzte sie ihren Redefluss fort. Jan nickte nur. Er hatte jetzt keine Lust auf irgendwelche Ausführungen. Hungergefühl und Zuckerspiegelpotenzial ließen jetzt sowieso keinen klaren Gedanken zu. Warum also sollte er sich jetzt damit abgeben? Eilig griff er zur Gabel. Sybille grinste. Sie kannte die junge Generation. Hunger war schlecht für ihr Image, ihr Gehirn und ihre Laune. Deshalb musste sie ihm jetzt schnell eine Bratwurst auf den Tisch legen. Alles andere kam später. „Dann bin ich mal gespannt, wie dir diese Wurst aus unserer Region schmeckt!“, sagte sie und packte ihm das braune Etwas auf den Teller. Jan lächelte. Er schaufelte sich eine ordentliche Portion Kartoffelbrei auf den Teller und ein wenig Gurkensalat. „Es riecht köstlich!“, sagte er, und man konnte ihm ansehen, dass es ihm in wenigen Sekunden wieder bessergehen würde. „Ich kann eigentlich kochen!“, sagte Sybille leise und grinste. Dann legte auch sie sich das Essen auf den Teller.

Mit wachsendem Appetit sah man jetzt zwei hungrige Menschen am Tisch sitzen, die es sich gutgehen ließen. Sybille und Jan füllten ihren Energiehaushalt wieder auf und wurden mit jedem Bissen des köstlichen Essens entspannter. Nach einer Weile sah Sybille Jan an, der jetzt eine Pause machte. Sein Gesicht strahlte Zufriedenheit und Wohlwollen aus. „OK?“, fragte Sybille nur. Jan nickte. „Ja. Prima!“, antwortete er. Dann nickte sie. Das Besteck legte sie auf den Teller und schob ihn anschließend beiseite. Sie legte beide Arme auf den Tisch und sah Jan an, wie auch er den letzten Bissen seines Mittagessens hinunter schlang. Sein breites Grinsen machte Sybille stolz. Dann ließ er sich nach hinten fallen und stöhnte.

„Ich habe in der letzten Zeit selten so etwas Gutes gegessen!“, sagte er zu ihr. „Ich räume gleich ab. Du kannst sitzen bleiben!“ Sybille nickte zufrieden und reichte ihm das Geschirr nach und nach an, damit er es in die Spülmaschine stecken konnte.

Jans Gedanken waren jetzt wieder heruntergeregelt. Die Zeit würde es bringen. Er war erst seit Kurzem hier und würde sich Zeit lassen. So viel Zeit, wie er eben brauchte.

Jetzt stand auch Sybille auf, räumte noch die letzten Sachen weg und stellte die Spülmaschine an. „Zieh dich um, wir fahren gleich noch in die Stadt!“, sagte sie. „Oder willst du dich ausruhen?“ Jan schüttelte den Kopf. „Nein. Das hatten wir doch so vereinbart und vielleicht bringt mich das auf andere Gedanken!“ Sybille ging hinaus.

„Dann bis gleich!“, sagte sie und ging in ihr Schlafzimmer. Jan hörte, wie sie das Fenster schloss. Dann trat Ruhe ein.

Auch Jan ging jetzt nach oben. Bewusst nahm er jede Stufe und hing seinen Gedanken nach. Gleich würde er seinen neuen Freund wieder in den Arm nehmen. Er grinste. Was würden wohl seine alten Freunde dazu sagen? Seine Kollegen? Sein Management? Jan schnaubte verächtlich! Sie würden mit dem Kopf schütteln und ihm wieder nur die Zeit ansagen, die er einzuhalten hatte.

Einen Scheiß musste er tun. Er war nur für sich verantwortlich. Für sich alleine, und es gab im Moment niemanden, dem er hätte Rechenschaft ablegen müssen!

Jan öffnete seine Zimmertür. Sein Freund, der auf dem Bett lag, grinste ihn an. Er hatte ein liebliches Gesicht und Jan konnte einfach nicht anders, als ihn zu knuddeln. Er war warm, groß genug, um ihn mit beiden Armen richtig zu umarmen, und er mochte es. Mit ihm im Arm ging er zum Fenster und sah hinaus. Einige fahrende Autos waren am Horizont zu sehen. Rauch stieg aus einzelnen Häusern auf. Ansonsten aber sah er nur das leise hin und her wippen der Baumwipfel. Lärm und störende Geräusche Fehlanzeige.

Noch einen Moment lang verharrte er in dieser Position. Seine Gedankengänge leerten sich.

Ein tiefer, warmer Atemzug drang in das Fell seines neuen Freundes ein. Dann nahm Jan das Gesicht des Tieres in beide Hände und lächelte ihm zu. „Danke, dass du mein Freund bist!“, sagte er zu ihm. Jan ging einige Schritte zurück, dann legte er Ben auf sein Bett und zog sich um. Jeans und legeres Shirt wechselte er, Halstuch und Kappe wanderten aus seinem Schrank. Schlips brauchte er nicht. Hemd auch nicht. Dreimal nickte Jan. Dann zog er seine Armbanduhr um, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und zog das Shirt noch mal nach. Er liebte dunkle Shirts und wusste, dass sie ihm gut standen.

Ein Lächeln überzog sein Gesicht. „Bis später Ben!“, sagte er. Dann ging er hinaus und die Treppe wieder hinunter.

Sybille hatte sich schon umgezogen und wartete bereits im Flur auf Jan. „Fertig?“, rief sie ihm fragend entgegen, als sie ihn die Treppe herunterkommen sah. „Ja, fertig“, bestätigte er es ihr. Dann war er auch schon bei ihr angekommen. Sybille sah an ihm herunter. „Steht dir ausgezeichnet!“, sagte sie. „Ich hatte dich übrigens noch gar nicht gefragt, was du bisher beruflich gemacht hast!“.

Jan stutzte einen Moment. Dann versuchte er sich in Ausreden. „Ich bin, äh, öffentlich tätig!“, sagte er eilig und hoffte, Sybille damit für den Moment zufriedenzustellen.

„Mmh“, sagte sie, doch weiter kam sie nicht. Jan hatte bereits die Tür geöffnet und schob sie mehr oder weniger hinaus. „Hast du den Haustürschlüssel?“, wollte er schnell wissen.

„Sonst muss ich mich noch als Einbrecher betätigen, wenn wir zurück sind!“, sagte er keck. Doch im nächsten Moment bereute er diesen Satz. Denn Sybille sah alles andere als fröhlich aus. Schnell korrigierte er seinen Fauxpas. „Entschuldigung! Ich bin wirklich kein Räuber oder so!“, sagte er schnell. „Keine Angst!“ Sybille hatte ihre Gesichtszüge verändert. Sie wirkte jetzt strenger und Jan ließ den Kopf hängen. „Es hat mich sowieso gewundert, dass Du mit Hammer und Nagel umgehen kannst!“, sagte sie. „Deine Hände sind eher die eines Klavierspielers oder Tastenklimperers!“ Damit hatte sie Jan getroffen. Rasch spielte er die Situation herunter: „Nein, nein. Ich spiele kein Klavier!“, sagte er eilig und stand jetzt an der Beifahrertür zu Sybilles Auto. Seine Hände hatte er in der Tasche vergraben. Sybille versuchte, ihre Haltung beizubehalten. Irgendwie musste sie ihn schließlich aus der Reserve locken. „Wie dem auch sei!“, sagte sie. „Wir fahren jetzt erst mal durch die Stadt!“ Jan nickte erleichtert. Sie war auf seinen Zug aufgesprungen und hatte das Thema gewechselt. Für den Moment war er wieder in Sicherheit.

Der Mann, der Jan war

Подняться наверх