Читать книгу Krümmungsversuche - Andrea Drols - Страница 10
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In meiner Klasse war eine, die war anders als die anderen. Sie hieß Lena, trug gerne Kleider mit Volants und hatte sogar schon Ohrringe. Und trotzdem: Sie hatte den Kopf voller verrückter Streiche und ich war würdig, sie mit ihr auszuhecken. Ich war hingerissen. Mit Lena konnte man raufen wie mit einem Jungen. Spaßkämpfchen nannte sie das. Es machte auch ganz kampflos Spaß, mit ihr zusammen zu sein. Sie besuchte mich, und Mama war von ihr entzückt. So ein nettes Mädchen, und so ein nettes Kleidchen! Und so verständig, obwohl sie ein Jahr jünger war als ich. Ich sollte mir eine Scheibe von ihr abschneiden. Bei der Vorstellung, wie ich eine Scheibe von ihrem Bein abschnitt und zum Frühstück aß, lachten Lena und ich uns halb schief.
Sie hatte zwei Brüder, um die ich sie beneidete. Sie waren etwas älter als ich, und ich raufte auch mit ihnen gern. Manchmal gewann ich sogar. Lenas Vater wirbelte mich manchmal über seinem Kopf in der Luft herum, das liebte ich. Heimlich stellte ich mir manchmal vor, er würde Mama heiraten und dann wäre er mein Vater und würde mich jeden Abend in die Luft werfen und mir mit der Nase Eskimoküsse geben, so wie seinen Kindern. Seine Frau war ja immer auf der Arbeit und fast nie zu Hause, der würde es sicher nichts ausmachen. Nur der Gedanke, dass ich dann meinen Freunden ihren Papa wegnehmen würde, bekümmerte mich und kühlte meine heißen Wünsche ab.
„Kannst du dir nicht einen neuen Mann aussuchen?“, fragte ich Mama eines Abends. Oma prustete aus ihrer Ecke hervor, wo sie an einem Kreuzworträtsel saß. „Wer nimmt die denn? Mit der Figur?“
Mama warf ihr einen giftigen Blick zu.
„Nein Andrea,“ sagte sie, „kein Mann will so ein Kind wie dich haben.“
Oma knurrte: „Na, jetzt mach aber mal ’n Punkt.“
Aber Mama machte nie Punkte. „Väter wollen ihre Töchter in Kleidern sehen. Sie wollen keine kleinen Mädchen, die Buben sein wollen.“
Oma murmelte: „Und keine Flaschenkürbisse, die schöne Frauen sein wollen.“
Mama stemmte die Arme in die Seite und versuchte Oma mit Blicken zu töten.
Ich sagte: „Aber Lenas Papa …“
„… hat eine Tochter, die gerne hübsche Kleidchen trägt.“
„Mich hat er auch gern!“
„Tja, so lange du nicht seine eigene Tochter bist, kann er ja über dich lachen.“
Das kränkte mich, und ich erzählte Lena von dem Gespräch. Dabei beichtete ich ihr, dass ich manchmal davon träumte, ihr Vater wäre meiner.
„Und ich wünsche mir oft, ich hätte keinen.“
„Was?“
„Hör mal, was ich dir jetzt sage, muss unbedingt unter uns bleiben“, sagte sie nach einigem Zögern. Ich hob drei Finger hoch und schwor. Heute darf ich es erzählen, denn ihr Vater lebt nicht mehr.
„Mein Vater ist seit ein paar Jahren arbeitslos, weil er sich zweimal auf der Arbeit mit Kollegen geprügelt hat.“
„Warum?“
„Manchmal trinkt er zuviel und dann rastet er aus.“
„Vom Trinken?“, fragte ich verdattert.
„Mit Bier fängt er immer an, aber dann kommt Schnaps dazu, er wird dann immer schlimmer.“
Ich schwieg entsetzt.
„Björn kriegt die meiste Dresche“, fuhr Lena fort. „Ich am wenigsten, weil ich weiß, wann ich besser den Mund halte. Und wir dürfen nicht schreien, sonst haut er noch fester drauf.“
„Warum sagst ihr es nicht eurer Mama?“
„Die weiß es ja. Deswegen bleibt sie immer so lang auf der Arbeit und kommt erst heim, wenn er schläft. Weil – einmal hat er ihr ein blaues Auge geschlagen, da konnte sie ein paar Tage nicht zur Arbeit gehen und ihr Chef hat gesagt, das darf nicht mehr passieren.“
Vor lauter Aufregung blieb mir die Stimme weg. Ich flüsterte: „Und wie oft macht er das?“
„Immer öfter. Meine Oma, also seine eigene Mutter, sagt immer, er soll endlich mal in eine Erziehungsanstalt gehen, wo sie den Leuten das Saufen abgewöhnen. Sie will dann auch bei uns wohnen und sich um uns kümmern. Er verspricht es, wenn er nüchtern ist. Dann ist er immer ganz lieb und es tut ihm alles leid, und meine andere Oma sagt, eigentlich ist er ein armes Schwein. Aber dann säuft er wieder und einmal wollte er er sogar mal seine Mutter hauen. Aber sie hat ihm ihr Frühstücksbrettchen ganz fest auf den Kopf gehauen. Da hat er ne riesige Beule gekriegt, und seitdem traut er sich bei ihr nicht mehr.“
Ich war erschüttert. Nicht nur über das Familienleben meiner Freunde, sondern auch über die Täuschung, der ich erlegen war. Waren sie alle so … unzuverlässig? Würde ich jemals einen Vater finden, der gütig war und mit mir lachte, den Lehrerinnen sagte, wo es lang ging, und nichts gegen Mädchen hatte, die Jungen sein wollten? Es schien aussichtslos. Selbst meine Mutter wäre ja ohne mich glücklicher. War ich so schlecht, dass mich keiner haben wollte?
Der einzige Lichtblick in dieser Zeit war, dass Doris dem doofen Robert den Laufpass gab. Dafür gab ich gern die Hoffnung auf, dass aus der versprochenen Nachtfahrt eines Tages doch noch was werden könnte.
Doch. Es gab noch etwas Positives. In der Schule hatten sie sich an meinen „Hosen-Spleen“ gewöhnt und mir eine stillschweigende Sondergenehmigung erteilt. Narrenfreiheit nannten sie es. Meine Energie konnte ich auf sinnvollere Dinge lenken als auf ständigen Protest, und so wurden meine Leistungen besser.
Mein Vater war der Ansicht gewesen, man dürfe Kinder erst dann taufen, wenn sie zu Verstand gekommen seien. Mama hatte ihm trotz Omas Vorhaltungen gehorcht. Zu Beginn des zweiten Schuljahrs entschied Oma, ich hätte genug Verstand, und machte Mama buchstäblich die Hölle heiß. Ohne Taufe würde ich in derselben landen und meine Mutter ebenfalls, weil sie daran schuld sei.
Bald besuchte ich einmal in der Woche den Taufunterricht, zusammen mit anderen Kindern in verschiedenem Alter. Ich war demnach kein ungewöhnlicher Fall. Der geduldige Herr Pfarrer – ich hielt es für seinen Namen – war zu allen Kindern freundlich und zeigte nie eine missbilligende Miene angesichts meiner behosten Beine.
Von biblischen Geschichten war ich angetan. Sie waren voller Wunder und Gerechtigkeit – wie Märchen, die ich auch gerne las. Nur eine Sache nahm ich Gott übel: Er hatte meine männliche Seele in einen falschen Körper gesteckt. Denn die Seele ist zuerst da, dann kommt der Körper dazu, hatte Herr Pfarrer gesagt. Aber warum passte es bei mir nicht zusammen? Hatte der Gott sich geirrt oder wollte er mich absichtlich ärgern? Ich hätte gern mal den Herrn Pfarrer gefragt, aber ich traute mich nicht.
Am Tag vor der Taufe fand eine Generalprobe statt, damit wir wussten, wo wir bei der Feier sitzen und wie langsam wir gehen sollten, ohne zu trödeln. Viele Mädchen fragten nach der passenden Garderobe für die Probe. Herr Pfarrer meinte, es könnten doch einfach alle das anziehen, was sie zur Feier tragen würden.
Zu dieser Zeit besaß ich zwei Hosen. Die eine war schon etwas klein und zwickte. Die andere hatte einen Fettfleck, aber den hatte ich mit Seife behandelt und man sah fast nichts mehr. Diese Hose hatte ich auf dem Sofa zurechtgelegt, zusammen mit einem hellblauen Hemd und einer Krawatte, die ich mit Hilfe meines Sparschweins heimlich gekauft hatte. Aber als ich aus dem Bad kam, lag auf dem Sofa ein weißes Kleidchen mit weißen Strümpfen. Mama sagte: „Extra für dich – ohne Rüschen und Schleifchen!“ Ich fand ihr Strahlen nicht echt. Für mich sah es mehr nach triumphierendem Grinsen aus.
„Das zieh ich nicht an!“, rief ich.
Mama schaltete ihr Lächeln aus. „Der Herr Pfarrer wird aber sehr böse sein, wenn du nicht anständig angezogen bist, und dann wirst du nicht getauft und kommst in die Hölle.“
Ich kannte Herrn Pfarrer schon besser als sie und glaubte ihr nicht. „Ich komme lieber in die Hölle als dass ich’n Kleid anzieh’!“
Da gab sie mir eine derart heftige Ohrfeige, dass ich nach hinten umfiel und mit dem Kopf gegen die Tür schlug. Ich wollte mich wehren, griff nach irgendetwas in meiner Reichweite, warf es nach ihr und traf ihr Schienbein. Sie schrie. Dann erst sah ich, was ich getan hatte: Ich hatte den schweren Türblocker erwischt, und es tat mir sofort leid. Aber ich konnte es nicht sagen.
Außer sich vor Wut und Schmerz hinkte sie in den Flur, nahm den Telefonhörer in die Hand und rief laut hinein: „Hallo, ist dort die Polizei? Holen sie meine Tochter ab! Sie ist gemeingefährlich und muss in ein Heim für schwer erziehbare Kinder.“
In meiner Angst bemerkte ich nicht, dass sie keine Nummer gewählt und nicht mal ihren Namen oder die Straße genannt hatte. Ich wollte das Kabel aus der Steckdose reißen, aber im selben Augenblick warf Mama den Hörer auf die Gabel, brach zusammen und weinte.
Oma machte ihr eine Tasse Tee mit Baldriantropfen. Mittlerweile wusste ich, wie sie heißen, denn ich konnte ja lesen. Danach bekam ich eine weiße Hose und eine schlichte weiße Bluse, die Oma heimlich gekauft hatte. Mama schwieg dazu und schlürfte schluchzend ihren Tee.
Alle Täuflinge warteten mit ihren Müttern vor der Kirche. Wir waren die Letzten. Herr Pfarrer sah, dass wir beide geweint hatten, und fragte warum. Mama jammerte: „Ach, Herr Pfarrer, sehen Sie nur, sie will in Hosen zur Taufe gehen. Dieses Kind bringt mich noch unter die Erde.“
Er antwortete: „Frau Drols, sehen Sie mal, Ihre Tochter ist nicht das einzige Mädchen, das kein Kleid tragen möchte.“ Er wies mit dem Kopf dahin, wo alle Täuflinge mit ihren Eltern warteten. Da stand eine Frau neben einem ebenfalls verweinten Mädchen, das eine lange weiße Hose trug. Mama ging zu ihnen hinüber. Ich lief hinterher. Die andere Mutter musterte meine Hose und fragte: „Macht Ihre Tochter auch solche Schwierigkeiten?“
„Allerdings! Die Andrea lässt sich eher totschlagen als dass sie ein Kleid anzieht.“
„Genau wie bei meiner Tochter! Ich hab ihr auch eine Abreibung verpasst. Aber was soll ich machen?“
Herr Pfarrer war dazugekommen, sprach von christlicher Nächstenliebe und dass Jesus sich an Kleidung nie gestört hätte. Er legte mir und dem anderen Mädchen den Arm um die Schultern, führte uns in die Kirche und bedeutete den Restlichen, uns zu folgen. Die verdatterten Gesichter unserer und einiger anderer Mütter werde ich nie vergessen.
Als am Tag darauf nach dem Gottesdienst die aufgedonnerten Mädchen sich vor dem Kirchenportal dem Blitzlichtgewitter der Eltern präsentierten, hatte ich nur Mitleid mit ihnen. Frauen und Mädchen trugen so etwas doch sicher nur, um anderen zu gefallen! Bei meiner Schwester hatte ich das deutlichste Beispiel dafür. Mama war nicht besser. Sie ließ sogar mal ein neues Kleid im Schrank hängen, weil irgendeine Arbeitskollegin eine winzige negative Bemerkung darüber fallenlassen hatte.
Im Rückblick finde ich es seltsam, dass ich kein Verlangen spürte, mich mit dem anderen Hosenmädchen zu befreunden, obwohl wir Leidensgenossinnen waren. Aber ich hatte ja Lena. Und Hanna.
Der Herr Pfarrer hatte mir ein grandioses Taufgeschenk gemacht: Nie mehr versuchten Doris oder Mama, mir gewaltsam ein Kleid oder einen Rock aufzuzwingen. Aber das war nicht das Ende des Klamottenkrieges. Nur verfolgten sie ihre beharrlichen Absichten versteckter.