Читать книгу Krümmungsversuche - Andrea Drols - Страница 7
ОглавлениеEins
Duftender Kräutertee steht auf dem Tisch. Ich gucke die Tagesschau. Es klingelt an der Tür. Um diese Zeit? Das kann nur meine Schwester sein. Immer hat sie mir irgendetwas angeblich Wichtiges vorbeizubringen. Ich weiß schon, was sie will: Sie hat nie aufgehört, mich zu kontrollieren. Heute wird sie mir eine Predigt halten. Denn ich war gestern beim Friseur und habe mir erlaubt, mir die Haare mal wieder sehr kurz schneiden zu lassen.
Kaum ist sie über die Schwelle, schon ruft sie: „Andrea! Deine Haare! Du siehst ja schon wieder wie ein Mann aus!“ Es folgt der Vortrag, wie meine Frisur auszusehen hat. Und wie immer bemühe ich mich, nicht zornig zu werden.
„Ich gefalle mir so und das Föhnen dauert nur fünf Minuten. Möchtest du auch einen Tee?“
Doris presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf. Gleich wird sie auch noch Tränchen hervorpressen. Ich starre konzentriert in den Fernseher.
Sie schnieft. „Ich mein’s ja nur gut, aber bitte – wenn du nicht willst …“ Ich erfahre nicht, was passieren wird, wenn ich nicht will, denn sie zieht ihre Ziegenlederhandschuhe wieder an und bestraft mich, weil ich nicht reagiere, durch Verlassen meiner Wohnung.
Es ist mir klar, dass es sich nicht um einen Streit wegen verschiedener Geschmäcker handelt. Doris befürchtet selbst nach 30 Jahren noch, ich könnte in mein früheres transsexuelles Leben zurückfallen. Ich verbringe bereits die Hälfte meines Lebens als Frau, die mit sich ins Reine gekommen ist, und bin heute weit davon entfernt, ein Mann sein zu wollen. Aber sie glaubt es mir nicht. Das nervt. Nun ja, nicht alle Menschen lösen sich freiwillig von alten Denkgewohnheiten.
Die Erinnerungen an meine schmerzhafte Kindheit gehen bis ins dritte Lebensjahr zurück. Oft bin ich gefragt worden, ob es nicht belastend ist, sich an so viele traumatische Erlebnisse zu erinnern. Aber was soll ich tun? Ich habe ein Gedächtnis, um das mich jeder Elefant beneiden würde. Ich muss meine Erinnerungen bewältigen, wenn sie nicht zur Qual werden sollen.
Als Kind und Jugendliche habe ich unter körperlichen, mehr noch unter seelischen Misshandlungen gelitten. Immer häufiger stellte ich fest: Sie wurden von Menschen begangen, die selber hilflos waren und mit ihrem eigenen Leben nicht zurechtkamen. Das Verständnis erleichterte meine Bürde. Heute empfinde ich keinen Hass, keine Bitterkeit und keine Traurigkeit mehr. Ich habe sogar gelernt, meiner Mutter zu verzeihen, obwohl es mir lange Zeit unmöglich schien.
Meine Eltern hatten nicht geheiratet und trennten sich nicht lange nach meiner Geburt. So wuchs ich in einer Familie auf, die aus Mutter, Großmutter und 18 Jahre älterer Schwester bestand. Drei Mütter, kein Vater. Doris, meine Schwester, ging mir mit ihren Bevormundungen oft auf die Nerven. Aber trotzdem liebte ich sie, denn sie schmuste mit mir. Oma war überaus nachgiebig, schenkte mir oft Süßigkeiten. Aber sie wollte nicht, dass ich sie mit anderen Kindern teilte. Sie sah mich nicht gern Wettkämpfe austragen, denn sie litt, wenn ich verlor. Ich war ein sportliches Kind und fand Verlieren nicht erschütternd. Ich wollte nicht in ein Glashaus gestellt werden. Wohltuend war hingegen, dass Oma innerhalb der Familie immer meine Partei ergriff, ob es gerechtfertigt war oder nicht. Diesen Umstand nutzte ich kräftig aus.
In der Wohnung gegenüber wohnte Familie Neumann mit fünf Kindern. Ich war mit allen Kindern eng befreundet. Am meisten liebte ich Hanna, die Älteste, sieben Jahre alt, mit einem einfühlsamen, gütigen Wesen begabt. Für mich stand fest, dass ich sie später heiraten würde. Ich freute mich, dass ich altersmäßig zwischen die beiden Jüngsten passte, denn in meinen Tagträumen gehörte ich zu dieser Familie. Ich saß oft an ihrem Tisch wie das sechste Kind.
Was ich aber in meinen Träumen ausblendete: Beinahe täglich war ich froh, dass ich kein Neumann-Kind war. Wenn der Vater wütend wurde, zog er seinen Gürtel aus und schlug damit zu. Mutter Neumann, mindestens genau so jähzornig wie ihr Mann, griff sich bei ihren Zornanfällen wahllos irgendetwas: Kochlöffel, Handfeger, Teppichklopfer. Wenn ich zusehen oder hinter geschlossenen Türen hören musste, wie meine Freunde misshandelt wurden, weinte ich oft, weil ich ihnen nicht helfen konnte.
Wann ich anfing, ein Junge sein zu wollen, weiß ich nicht. Vielleicht hatte ich anfangs nur den unbewussten Wunsch, das fehlende männliche Element in unserer Familie zu ersetzen? Aber schnell merkte ich, dass ich mit meinem seltsamen Wunsch im Mittelpunkt der Familie stand. Das entsprach meinem Bedürfnis nach Abgrenzung und sicherte mir Aufmerksamkeit. Außerdem merkte ich schon früh, dass Jungen etliches erlaubt wurde, das Mädchen verboten war.
Mit dem zentralen Kleidungsstück ging es los. Ich war sicher, dass eine lange Hose meine Beine besser vor Schrammen und Schürfwunden bewahren würde. Wenn ich Purzelbäume schlug und auf Klettergerüste und Bäume stieg, würde keine Unterhose zum Vorschein kommen. Die elementare Sehnsucht meiner dreijährigen Seele richtete sich auf den Besitz einer langen Hose. Aber nur Knaben und Männer dürfen Hosen tragen, hieß es. So wünschte ich mir, ein Junge mit Hosen zu sein.
Einmal stand ich an einem tiefgefrorenen Februartag mit Oma an einer Bushaltestelle. Ich trug einen dicken Anorak und war mit Schal und Mütze ausgestattet, aber meine Strumpfhosen waren zu dünn. Warum bekam ich keine lange Hose wie andere Kinder? Mädchen mussten zwar Röcke drüber tragen. Aber sie hatten eine Hose. Nur ich nicht. Ich wünschte, Beine könnten mit den Zähnen klappern, damit die Oma hörte, wie ich fror. Ich fühlte mich im Stich gelassen; entsprechend jämmerlich muss mein Wehklagen geklungen haben. „Oma!“, schluchzte ich, „ich friere! Ich brauche eine Hose, sonst werde ich ganz ganz ganz krank!“
Oma erschrak. „Nein, krank sollst du nicht werden. Dann kriegst du eben Hosen.“
Ich hörte vor sofort auf zu frieren und erinnerte sie bis zum Schlafengehen alle zwei Minuten an ihr Versprechen. Gleich am nächsten Tag kaufte sie eine, um ihre Ruhe zu haben. Eine plumpe dicke Baumwollhose mit Gummizügen, aber ich war froh. Meiner Mutter passte es nicht und Doris tobte, weil ich überhaupt nicht in ihr Lebensbastelbild passte, das sie bemüht für sich aufbaute. Aber ich war drei Tage lang das zufriedenste Kind der Welt, bis die Hose wegen eines Marmeladenflecks in die Wäsche musste. Es dauerte Wochen, bis sie wieder im Schrank lag.
Da wurde mir klar, dass eine Hose nicht reicht. Man braucht mindestens zwei.
Mama trank in unserer Wohnung mit Frau Neumann Kaffee. Ich sprang hinüber, klingelte, Hanna öffnete, da stand ihr Bruder nackt im Flur, schrie auf und flitzte ins Badezimmer. Ich war von dem ungewohnten Anblick tief beeindruckt und brüllte: „Mama! Der Ernst hat vorne ein Schwänzchen. Warum hab ich so was nicht?“
„Aber Andrea, das haben doch nur Jungen“, kicherte Mama, dann prusteten beide los. Lachten sie mich aus? „Das ist gemein!“, rief ich, „warum kriegen immer nur die Jungen die tollen Sachen?“
Sie hörten gar nicht auf zu lachen. Ich wurde zornig. Jungen hatten immer die aufregenderen Spielsachen. Immer musste ich zusehen, wie nachsichtig Erwachsene mit ihnen umgingen. Niemand quälte sie nach dem Haarewaschen mit Ziepen, niemand regte sich auf, wenn neue Schuhe nach vier Wochen schrottreif aussahen. Das hier war ganz gewiss schon wieder so eine Bevorzugung!
„Andrea, ich kann dir so ein Dings nicht machen“, sagte Mama und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, „das kann nur der liebe Gott.“
„Dann sag es dem Christkind oder einem Engel. Die wohnen ja im Himmel und da kennen sie den lieben Gott gut. Er kann doch dem Nikolaus eins für mich mitgeben.“ Nun lachten sie nicht mehr, sie wieherten. Beim Abendessen gab Mama den Vorfall zum Besten, da kreischte Oma, verschluckte sich, hustete und lachte gleichzeitig, sogar Doris lachte. Alle sahen mich liebevoll an, da nahm ich an, mein Wunsch werde erfüllt.
Am nächsten sagte ich ernst zu Ernst: „Vom Nikolaus krieg ich auch so’n Dings wie du!“ Er guckte mich verständnislos an, da zeigte ich die entsprechende Gebärde.
„Du altes Schwein!“, rief Ernst, denn seine Mutter stand hinter ihm. Aber die lachte nur und tätschelte ihm den Kopf. „Die Andrea meint das nicht so.“
Doch, ich meinte es! Und wie! Ich wollte so einen Körper wie Ernst. Er hatte tolle Muskeln, konnte damit schwerere Sachen heben als ich und gab damit an wie zehn Sack Seife.
Aber der liebe Gott vergaß, es dem Nikolaus mitzugeben, und so hoffte ich im Stillen auf Weihnachten. Das Christkind brachte mir auch nicht das ersehnte Geschenk. Ich war maßlos enttäuscht vom lieben Gott und seinem popligen Personal.
Oma war herzensgut, aber depressiv. Oft war sie krank. Manchmal spielte sie nur Theater. „Ach Andrea“, sagte sie mal (ihre Stimme wurde dabei ganz zittrig) und nahm meine Hand, „du kommst doch an mein Grab, gell? Ich muss nämlich bald sterben, weißt du?“
Oma war eine miserable Schauspielerin. Aber Angst machte sie mir doch. Der Tod war keine bildlose Vorstellung für die vierjährige Andrea. Mutter und Oma hatte mir den Anblick meiner Großtante in der Leichenhalle zugemutet. So blass und grau! Das war kein Schlaf, auch wenn sie es so nannten. Sollte meine geliebte Oma bald so stumm und gräulich in einer Holzkiste liegen? Ich drückte ihre Hand fest und rief: „Nein Oma, du darfst nicht sterben!“
„Doch, doch, Kind“, sagte sie kläglich, „ich muss bald sterben, aber du musst ganz oft zu meinem Grab kommen, hörst du?“
Mama brüllte aus der Küche: „Hörst du wohl auf, das Kind zu ängstigen? Wenn du damit nicht aufhörst, bring ich dich ins Altersheim!“
Oma fing aber immer wieder damit an, und jedes Mal regte Mama sich darüber auf, weil es mir Albträume verursachen konnte. Oma warf ihr vor, dass sie mich vor Kriegsgräueln im Fernsehen, bösartigen Nachbarskindern und Erkältung nicht schützte – je nachdem, was ihr so einfiel. So hatten die beiden immer eine Menge zu streiten, wobei Mama mit Tiernamen um sich warf, die sie bäuerlichen Stallungen entlehnte. Mir wurden Omas düstere Prophezeiungen immer unbehaglicher. Nachdem ich zweimal mit Flucht aufs Klo reagiert und mich darin eingeschlossen hatte, hörten ihre Todesahnungen auf. Sie lebte übrigens noch lange.
Als Vierjährige hatte ich mir drei Hosen erkämpft und musste nie mehr aufs Waschen und Bügeln warten. Kleider und Röcke hingen aber bedrohlich im Schrank: Sinnbilder von Zwang und Unterdrückung. Ich hasste sie von Herzen.
Meine Schwester führte in Modesalons und auf Messen Kleider und Pelzmäntel vor, die sie sich nicht mal von ihrem ganzen Jahreseinkommen hätte leisten können. Hin und wieder wurde sie in Modezeitschriften abgebildet, und sie hatte schon ein passendes Bild von sich gestrickt. „Imätsch“ nannte sie das. Unsere kleinbürgerliche Familie passte nicht in dieses Imätsch. Die abartige kleine Schwester war eine Bedrohung.
Robert hielt sich für was Besseres, weil er ihr Freund sein durfte. Er half ihr oft, mich zu erziehen. Einmal machten sie sich für einen Spaziergang fertig. Ich wollte mit. Robert hob mich hoch, sodass mein Gesicht nur wenig von seinem entfernt war und sagte süßlich: „Du bist doch meine kleine Prinzessin, gell?“ Ich schüttelte den Kopf. Da folgte weniger süß: „Und weil du meine kleine Prinzessin bist, ziehst du zum Spazierengehen ein Kleidchen an.“
Ich schrie: „Ich bin nicht deine Prinzessin!“, und boxte, aber er hielt mich mit ausgestreckten Armen hoch und lachte nur.
„Und ich zieh kein Kleid an!“, brüllte ich unter Tränen.
„O doch!“, rief Doris. Robert hielt mich fest. Sie zog mir Hose und Pulli aus und stülpte mir ein Kleid über den Kopf. Ich wehrte mich und schrie wie am Spieß.
„Sei nicht so undankbar! Du gibst dem Robbie jetzt einen Kuss“, sagte sie, während sie den Reißverschluss an meinem Rücken hochzog.
„Nein, nein, nein!“, schrie ich. „Der ist eklig!“
„Du gibst ihm einen Kuss, aber dalli!“, brüllte Doris, und Robert hob mich wieder seinem grinsenden Gesicht entgegen. In diesem Moment kam Oma vom Einkaufen zurück. Robert stellte mich sofort auf den Boden. Schluchzend warf ich mich in Omas Arme und berichtete. Sie schimpfte mit den beiden und gab mir Hose und Pulli zurück.
Ich hatte keine Lust mehr zum Spazierengehen. Doris und Robert wollten mich zum Abschied küssen. Aber ich wehrte mich. Mama platzte in die Szene und empörte sich, ausnahmsweise mal auf meiner Seite: „Ein Kind zum Küssen zwingen? Wenn ich so was noch einmal höre, schmeiße ich euch beide raus!“
Leider hatte sie kein Wort über das gewaltsame Verkleiden geäußert, mit Grund: Ständig versuchten sie und Doris, mir mit List oder Gewalt ein Kleid anzuziehen. Ich wehrte mich dagegen immer hitziger und bekam jedes Mal Schläge. Falls Oma meine Schmerzensschreie hörte, griff sie sofort ein. Leider war sie schwerhörig.
Mama fürchtete sich davor, in der Öffentlichkeit aufzufallen, selbst wegen einer Kleinigkeit. Einmal wollte sie mit mir zum Einkaufen fahren. Nachdem sie mir unter Ohrfeigen ein himmelblaues Kleid übergestreift hatte, zog sie mich gewaltsam aus der Wohnung. Ich stemmte vergeblich die Füße in den Boden und schrie, doch sie zerrte mich in den Aufzug. Einer Frau, die mit uns einstieg, erzählte sie kurz von meiner dummen Abneigung gegen Kleider und Röcke und schloss: „Die Andrea ist halt hysterisch.“
„Sie sind mit diesem Kind wirklich gestraft“, kommentierte die Frau.
Mein Protestgebrüll ging in kummervolles Weinen über. Ich fühlte mich verraten. Mama setzte noch eins drauf. Vor dem Haus sagte sie zu den Kindern, die dort spielten: „Seht euch mal diese hysterische Zicke an. So was muss ich den ganzen Tag ertragen.“
„Du Schwindelschwein“ schrie ich und schlug nach ihr.
„Hu, was ist die Andrea frech zu ihrer Mutter!“, riefen die Kinder. Eine Passantin mischte sich ein. „Das dürfen sie sich nicht gefallen lassen!“
Ich wusste nicht, was daran falsch war. Das Wort hatte ich ja von Mama, die das immer rief, wenn Oma log.
Heimlich zerrte ich an meinem Kleid, bis ein Knopf absprang. Da fuhr Mama mit mir wieder hinauf und zog mir dieses blöde Kleid aus. Ich griff nach meiner Hose.
„Das könnte dir so passen! Du ziehst ein anderes Kleid an!“
Ich schrie und versuchte sie abzuschütteln. Doris kam aus dem Bad und wollte mich festhalten. Ich biss in ihre Hand. Nun schrie sie auch. Endlich kam Oma aus ihrem Zimmer, zog mich hinein und schloss die Tür hinter uns. Stunden später wollte Mama mich in den Arm nehmen, als wäre nichts gewesen. Ich sagte: „Lass mich! Ich mag dich nicht mehr!“ Sie sah geknickt aus. Ich genoss es. Lange dauerte ihre traurige Stimmung aber nie. Sie war Rekordhalterin im Verdrängen ärgerlicher Vorfälle.