Читать книгу Krümmungsversuche - Andrea Drols - Страница 8
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Das Essen im Kindergarten enthielt fast immer übertrieben viel Fett. Oft musste ich mich nach dem Mittagessen übergeben. Wenn ich es nicht mehr rechtzeitig in den Waschraum schaffte, bekam ich von der Erzieherin eine Ohrfeige. Anfangs befürchtete ich, mit mir sei etwas nicht in Ordnung, aber eines Tages fasste ich Mut und erzählte es auf dem Weg in den Kindergarten meiner Oma.
Sie schnappte nach Luft. „Sie schlägt dich?“
Ich nickte beklommen, weil ich ihr Entsetzen nicht einordnen konnte.
„Das ist ja die Höhe! Andrea, heute hol ich dich vor dem Mittagessen ab.“
Aber sie kam nicht rechtzeitig und die pappigen, weichgekochten Nudeln in fetter Soße blieben mir nicht erspart. Gleich nach dem Mittagessen verließ ich an der Hand meiner Oma das Haus. Im Hof gab ich das Mittagessen wieder von mir. Meine Gruppenleiterin kam sofort herbei. Ich hoffte, dass sie nicht wagen würde, mich zu schlagen, weil Oma dabei war. Sie tat es nicht. Aber sie war rot im Gesicht und sagte von oben herab: „Würden sie der Mutter des Kindes bitte mitteilen, dass ich sie zu sprechen wünsche. Das Kind erbricht sich jeden Tag.“
„Und das sagen Sie erst jetzt? Da frage ich mich doch, ob sie ihre Fürsorgepflicht ernst nehmen“, schimpfte Oma und ließ sie stehen.
Mama brachte mich zum Arzt. Zu meiner Verwunderung war der Arzt kein Mann, sondern eine junge Frau. Sie hatte Hosen an. Und ganz kurze Haare. Auf dem Nachhauseweg sprach ich Mama darauf an.
„Ärzte dürfen das!“, war ihre kurze Antwort. Danach beschäftigte ich mich lange mit der Vorstellung, dass Frau Arzt vielleicht mein Traumberuf sein könnte.
Nach mehreren Konsultationen hatte sich das Erbrechen noch nicht gelegt. Eines Tages fragte mich die Frau Arzt: „Hättest du Lust, mal in einem Haus mit vielen netten Kindern zu spielen?“
„Gibt’s da auch Autos?“
„Klar.“
„Und auch andere Spielsachen für Jungen?“
„Klar.“
„Und ich darf mit allem spielen?“
„Aber sicher.“
„Au ja! Da will ich hin!“
Einige Wochen spät war es so weit. Mama arbeitete tagsüber und hatte erst am Abend Zeit. Sie trug einen kleinen Koffer. Wir stiegen zweimal um und kamen nach dem Abendessen in einer Klinik mit einem langen Namen an. Bei unserer Ankunft begrüßte uns eine Frau mit einer weißen Haube, führte uns in ein Zimmer mit vielen Betten und sagte einen Satz mit „Auspacken“. Ich beobachtete die Kinder, die zum Teil schon im Bett waren oder noch geschäftig zwischen Bad und Schlafsaal hin- und herliefen.
Mama sagte: „Hör mal, Andrea, ich gehe einkaufen. Spiel doch ein bisschen mit den Kindern. Ich hol dich nachher wieder ab.“ Ich nickte. Als sie gegangen war, suchte ich die Frau mit der weißen Haube und fragte, wo die Spielsachen seien. Sie öffnete Mamas Koffer und meinte nach einigem Suchen: „Äh … das hat ja Zeit bis morgen. Du bist sicher müde. Wir machen jetzt ein Schläfchen …“
„Ich schlafe nicht hier. Meine Mama holt mich wieder ab.“
„Äh, Andrea … so heißt du doch? Du musst eine Zeit lang bei uns bleiben, weil du krank bist.“
„Ich bin nicht krank. Ich will zu meiner Mama!“
Die Frau sagte nichts. Die anderen Kinder sahen mich erstaunt an, da war ich auf einmal müde und ließ mich zu Bett bringen. Die Frau würde schon sehen. Mama hatte es ja versprochen. Ich wollte nicht einschlafen, weil ich fürchtete, sie würde mich im Dunkeln nicht finden. Am Morgen war sie immer noch nicht zurück.
Es gab noch mehr Frauen mit weißen Hauben. Sie behaupteten, sie seien alle Schwestern. Aber sie sahen sich überhaupt nicht ähnlich. Wir durften auch nicht Elisabeth oder Helga oder Marianne sagen, sondern mussten immer „Schwester“ hinzufügen. Dabei war ich sicher, dass ich nur eine wirkliche Schwester hatte.
Ein Mann untersuchte mich. Das war der Arzt. Zwei Frauen ohne Haube halfen ihm. Sie hatten Kurzhaarfrisuren, trugen aber keine Hosen, sondern Röcke unter ihren weißen Kitteln. Deshalb, schloss ich, konnten sie keine Ärzte sein. Schwestern aber auch nicht; sie hatten ja keine Hauben auf. Egal, ich hatte wichtigere Probleme. Ich flehte: „Bitte sagen Sie meiner Mama, dass sie mich abholen soll!“
„Leider geht das nicht!“, sagte der Arzt. „Aber du bist ja schon ein großes Mädchen, du schaffst das schon.“
Nach zwei unendlichen Tagen war ich überzeugt, dass Mama mich vergessen hatte. An diesem Nachmittag kam sie endlich. Ich sprang auf und klammerte mich an sie. „Mama, nimm mich mit heim! Du hast es mir versprochen!“
Sie hielt nach den Schwestern Ausschau. Aber keine kam ihr zu Hilfe. „Ähm … na gut“, sagte sie nach einigem Zögern. „Aber es geht erst heute Abend.“
„Ganz, ganz wirklich?“
„Ganz bestimmt!“
Aber der Abend kam und ging vorbei. Fast die ganze Nacht saß ich im Bett und hoffte. Die Ruinen meiner kleinen Welt verwandelten sich in Brösel.
Am Tag darauf gab es weitere Untersuchungen. Mehrmals wurde mir Blut abgenommen. Ich war müde und überreizt. Als mir die Pikserei zu viel wurde, schrie ich, und weil das nichts bewirkte, fing ich an, um mich zu schlagen. Zwei Schwestern hielten mich fest, damit der Arzt weitermachen konnte. Ich trat nach ihnen. Eine Schwester traf ich am Schienbein. Sie schrie auf und gab mir eine Ohrfeige. Da hatte ich den Beweis! Ich war ein verlorenes, vergessenes Kind. Mama hatte mich einsperren lassen, weil ich ihr zu lästig war.
Sie besuchte mich alle paar Tage. Ich sprach nicht mehr mit ihr. Sie versprach mir jedes Mal das Blaue vom Himmel, aber ich hatte schon gemerkt, dass aus ihrem Mund nichts als Lügen tropften. Nach und nach gab ich die Hoffnung auf, jemals wieder in Freiheit zu leben.
Es gab zu wenig Spielzeug und zu viele Jungen. Die hielten alles besetzt, was mich zum Spielen reizte, und überließen mir höchstens mal für kurze Zeit einen bunten Holzbagger oder vier Schienenteile und einen Waggon von „ihrer“ Holzeisenbahn. Die Frau Arzt hatte mich belogen. Alle Erwachsenen waren Lügner. Nach sechs Wochen sagte Schwester Hannelore, morgen dürfe ich wieder nach Hause. Ich hielt auch das für eine Lüge.
Doch am nächsten Abend lag ich in meinem eigenen Bett. Als Schlaftrunk bekam ich ein Glas Wasser. Es schmeckte süßlich. „Da ist Medizin drin“, erklärte Mama, „damit du besser schlafen kannst.“
Die Beruhigungstropfen gab es nun jeden Abend. „Ball-Tran-Tropfen“ verstand ich. Hießen sie so, weil man nach ihrer Einnahme nur noch tranig einen Fußball kicken könnte?
Ich musste nie mehr im Kindergarten zu Mittag essen. Oma kochte zu Hause. Die Ohrfeigen blieben aus, die Erzieherin war freundlicher zu mir, und ich fühlte mich im Kindergarten wohler.
Doris hatte eine bewundernswerte Haarpracht. Eine solche strebte sie auch für mich an. Auf einem Foto von meinem fünften Geburtstag liegen meine Haare locker auf den Schultern. Das tägliche Bürsten war nicht angenehm, das Kämmen tat weh. Wenn ich jammerte, beschied Doris: „Das ist nun mal so. Wer schön sein will, muss leiden!“
Aber ich wollte nicht schön sein. Ich wollte kurze Haare. Ganz kurze! Als ich das mal laut äußerte, kam wieder die Standardantwort, dass nurJungen …
Ich stampfte durchs Zimmer und schrie: „Kur-ze Haare! Kur-ze Haa-re!“
Leider war Robert zugegen. Er packte mich am Oberarm und gab mir eine Ohrfeige. Mit zusammengebissenen Zähnen murmelte er: „Du behältst deine langen Haare. Klar?“
„Du hast mir gar nichts zu sagen! Ich sag’s der Mama, dann schmeißt sie euch raus!“
Robert hob wieder die Hand, da hörten wir die Wohnungstür. Das war Oma. Doris flüsterte: „Hör auf!“ Er ließ mich los. Ich rannte in den Flur und rief: „Der hat mich gehauen!“
Oma hielt ihm eine erboste Predigt, aber er grinste nur heimlich zu Doris hinüber.
Als ich später mit Oma allein war, sagte ich: „Das Kämmen tut immer so weh, dass ich beinahe in Ohnmacht falle.“ Sie guckte erschrocken und ich spürte, dass die Situation günstig war. Listig vermied ich den Hinweis, dass ich wie ein Junge aussehen wollte. Kurzerhand behauptete ich: „Alle Kinder und am meisten der Robert, die zieh’n mich immer an den Haaren und manchmal reißen sie mir ganz viele raus. – bitte, Oma, kann ich auch kurze Haare haben?“
Ich sah sie recht flehend an. Oma überlegte lange, dann nickte sie. „Ich geh mit dir zum Friseur. Aber sag’s keinem. Das wird eine Überraschung.“
Es wurde eine. Und was für eine! Ich tollte übermütig im Hof herum und genoss es, in der Julihitze nicht mehr unter meiner Haarfülle schwitzen zu müssen. Oma saß auf einer Bank und sah mir lächelnd zu. Mama und Doris kamen zusammen durch den Torweg, erblickten mich, starrten ungläubig und brachen in empörtes Wehgeschrei aus. Sie überschütteten Oma derart mit Beschimpfungen, dass man meinen konnte, sie hätte mir eine grün gefärbte Glatze verpasst. Oma schaltete ihr Hörgerät ab. Das beeindruckte mich. Was für eine geniale Idee! Ich bildete mir ein, ich hätte auch eins, und schaltete es ebenfalls ab.
Robert sprach zwei Tage lang kein Wort mit mir und Oma. Wir litten beide nicht darunter. Doris schmollte wochenlang. Wir hatten ihrem Willen zuwidergehandelt, da konnte sie nicht zugeben, dass ich recht schick aussah. Mama erkannte bald, wie praktisch meine Kurzhaarfrisur war, und bezahlte mir fortan sogar regelmäßig den Friseur. Doris kam aus dem Schmollen gar nicht mehr heraus.
Vor anderen Kindern machte meine Mutter mich so oft lächerlich, dass ich ein bequemes Mobbingopfer für sie wurde. Eines Sonntags schaukelte ich auf dem Spielplatz unserer Siedlung alleine. Vier Jungen tauchten auf. „Guckt mal die Andrea!“, rief Kurt gedehnt, „die will’n Bub sein!“
„Ist die blöd?“, fragte Matze.
„Und wie!“, rief Jojo, und Eddie blökte: „Blöde Kuh! Blöde Kuh!“
„Selber blöd!“
„Die wird verkloppt!“, rief Kurt. Sie rissen mich von der Schaukel. Als ich am Boden lag, trat mir Jojo in den Magen. Es folgten einige Tritte in die Seiten von den anderen Jungen. Ich hörte einen Mann rufen: „Was ist denn das für eine Sauerei? Vier Jungen gegen ein Mädchen?!“ Die Feiglinge ließen von mir ab und rannten davon. Ich wusste, ich hätte mich freuen sollen. Aber ich hätte die Angelegenheit lieber wie ein Mann ertragen, auch wenn es eine Niederlage war.
Am Tag darauf sah ich Kurt allein am Sandkasten sitzen und schlich mich an. Schon nach wenigen Püffen fing er an zu jammern und rannte nach Hause. Später traf ich Eddie. Er wurde blass. Ich drosch auf ihn ein, bis er heulte. Mir fiel auf, dass beide Jungen sich nicht gewehrt hatten. Das machte mir Mut. Am Nachmittag versteckte ich mich hinter den Mülltonnen und wartete auf Matze. Er holte gegen vier Uhr immer Bier für seinen Vater und musste dort vorbeikommen. Da er auf seine Flaschen aufpassen musste, war er gehandikapt, und so heimste ich mehr Punkte ein als er.
An Jojo traute ich mich nicht heran. Er war zwei Jahre älter als ich und einen halben Kopf größer. Doris erzählte ich, kreativ abgewandelt, was mir widerfahren war, verschwieg die bisherigen erfolgreichen Racheaktionen und schloss: „Jojo hat sie angestiftet, und er hat mir in den Magen getreten. Kannst du den mal festhalten? Dann könnt’ ich ihm eine knallen.“
Wir versteckten uns hinter einem Busch und vertraten ihm den Weg, als er nach Hause kam. Doris sagte: „Soso, du hast also zusammen mit deinen Freunden ein kleines Mädchen verdroschen, du kleiner mieser Feigling.“ Er schüttelte heftig den Kopf und wollte an uns vorbeilaufen, aber sie packte ihn, hielt ihm die Arme auf dem Rücken fest und ich ohrfeigte ihn ein paar Mal, gleichzeitig für vergangene und als Vorschuss für zukünftige Angriffe.
„Na, wie ist das, wenn man Schläge einstecken muss?“, fragte Doris und ließ ihn los. Jojo blieb die Antwort schuldig und rannte schniefend nach Hause.
Die vier hüteten sich, ihre Niederlagen herumzuerzählen, doch wo so viele Kinder wohnen, gibt es immer Zeugen und so kam es doch unter die Leute. Ich wurde noch oft von anderen Kindern gehänselt, aber sie zogen es vor, dabei einen Sicherheitsabstand zu mir einzuhalten.
Gummitwist spielten nur Mädchen. Es gefiel mir trotzdem, weil es um körperliche Geschicklichkeit ging: Zwei im Abstand von ca. eineinhalb Metern gegenüberstehende Mädchen hatten ein langes, an den Enden zusammengeknotetes Gummiband um die Knöchel gespannt. Die dritte Mitspielerin sprang in der Mitte in verschiedenen Arten auf die Gummis und dazwischen. Es war mit allerlei Hüpfakrobatik verbunden. Wenn ein vorgeschriebener Durchlauf ohne Fehler absolviert war, wurde das Gummiband etwas höher gespannt und es folgte der nächste Schwierigkeitsgrad. Spätestens wenn der Gummi in den Kniekehlen angelangt war, schaffte kaum jemand einen fehlerfreien Durchgang.
Eines Tages fragte ich, ob ich mitspielen dürfe. Die drei Mädchen verstummten. Tanja rang sich zu einem Kopfschütteln durch. Ich fragte die anderen. Wieder verlegenes Schweigen. „Wir dürfen nicht mit dir spielen“, sagte Traudl schließlich.
„Warum denn nicht?“
„Weil du dich nicht wie ein Mädel benimmst“, verkündete Tanja. Traudl fügte hinzu: „Und du hast meinen Bruder verhauen. Meine Mutter hat gesagt, du bist ein Schläger.“
Gabi wusste auch was: „Außerdem hast du Schwein zu deiner Mutter gesagt.“
„Schwindelschwein hab ich gesagt! Sie hat ja gelogen.“
Tanja belehrte mich im Erwachsenenton: „Trotzdem darf man nicht frech zu seinen Eltern sein. Meine Mutter will nicht, dass ich mit dir spiele.“
„Aber euch hab ich doch gar nix getan!“
Gabi überlegte kurz und schlug vor: „Wir können sie ja zur Probe mitspielen lassen.“
Tanja stützte die Arme in die Seiten. „Wenn du mit der da spielst, lad’ ich dich nicht zu meinem Geburtstag ein.“ Und zu mir gewandt: „Wir sind nämlich anständig erzogen und du bist ein öffentliches Ärgernis!“
Ich hätte sie gern gefragt, was das war. Aber sie schaute mich so hochmütig an, dass ich fest an ihren beiden Zöpfen ziehen musste. Tanja brüllte. Die anderen beiden Mädchen brachten sich in Sicherheit. Ein Fenster im ersten Stock ging auf und Tanjas Mutter, die ihr die anständige Erziehung beigebracht hatte, schrie: „Verpiss dir, sonst hau ick dir’n Arsch voll, verdammte Jöre! Du bist ja schlimmer als ’ne Bande Lausebengel.“
Keine Ahnung, was eine Jöre war. Aber Bengelbande verstand ich. Schlimmer zu sein als die, das erfüllte mich mit männlichem Stolz. Ich hatte keine Lust mehr auf Gummitwist mit blöden Zicken.
Auf einem entfernten Spielplatz entdeckte ich Jungen, die Fußball spielten. Der dickste war der Tormann. Keinen einzigen Ball konnte er halten. Ich kickte ein bisschen mit und schoss ein paar Tore, was kinderleicht war. Plötzlich rief einer: „Mensch, das ist ja ein Mädchen.“ Sie hörten auf zu kicken, beäugten mich und sagten nichts. Danach spielten sie mir den Ball nicht mehr zu. Nachdem ich eine Weile zugeguckt hatte, schlug ich vor, Tormann zu sein. Der Kleinste sagte: „Horsche mal, des heißt Tor-Mann! Net Tor-Frau! Des ist hier is Fußball. Also nix für Weiber. Mach disch vom Acker!“
Die anderen wieherten und riefen mir irgendwelche Bosheiten zu, aber ich stellte schnell mein inneres Hörgerät ab.