Читать книгу Krümmungsversuche - Andrea Drols - Страница 9
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Ich saß in der Küche und malte mit Filzstiften ein großes Bild. Mama und Doris kamen mit feierlichen Gesichtern zur Tür herein und setzten sich zu mir. Ich wunderte mich schon, weil sie nichts an meiner Parade prächtiger Bagger zu meckern hatten, da säuselte Mama: „Bald hast du Geburtstag.“
Ich strahlte. „Ich werde schon sieben!“
Doris strich mir über den Kopf. „Wir haben uns gefragt, was du dir wünschst.“ Mama ergänzte: „Du hast ja sicher einen kleinen Herzenswunsch, so was hatte ich als kleines Mädchen auch immer.“
„Eine Lederhose!“, rief ich auf Anhieb.
Mama erstarrte. Doris rollte die Augen und stöhnte. „Nein Andrea, das ist schon wieder was für Jungen. Als Mädchen trägt man keine Lederhose, das gehört sich nicht.“
„Aber ich will!“
Mama holte tief Luft und ich zog schon den Kopf ein, aber sie tätschelte freundlich meinen Arm und sagte geheimnisvoll: „Na, nun warte mal deinen Geburtstag ab. Du kriegst viele schöne Sachen.“
Ich meinte ein Zwinkern in ihren Augenwinkeln zu sehen und schöpfte Hoffnung. In den zehn Tagen bis zu meinem Geburtstag stand ich häufig vor dem Flurspiegel und stellte mir vor, wie verwegen ich in einer Lederhose aussehen würde.
Aber es lag keine Lederhose auf dem Geschenktisch. Es war auch keine darunter gefallen, und da ein Geburtstag kein Osterhasenfest ist, brauchte ich unter dem Sofa nicht zu suchen. Ich brach in Tränen aus.
„Du undankbares Kind!“, rief meine Schwester, „so eine schöne Puppe! Weißt du, was die gekostet hat?“
„Und das Kleidchen für deine Puppe hab ich selber gestrickt!“, fügte Mama hinzu.
„Aber ich wollte doch eine Lederhose!“
Doris drückte mir die Puppe in den Arm und sagte, sie heiße Soofie. Ich könne ihr auch einen anderen Namen geben. Ich warf die Puppe hin, rannte aufs Klo und schloss mich ein. Am Nachmittag waren Kinder zum „Kaffee“ da, aber ich blieb fast die ganze Zeit auf dem Klo und kam nur heraus, wenn mal jemand dringend reinmusste.
Oma lag in dieser Woche im Krankenhaus. Als ich sie besuchte, waren Mama und Doris dabei. Oma fragte mich, wie der Geburtstag gewesen sei und ich sagte: „Ja, ja, ganz schön“, und sah sie nicht an. Sie drückte meine Hand und ich merkte, dass sie verstand. Gleich nach dem Heimkommen zog sie mich in ihr Zimmer und fragte: „Na, was war denn los an deinem Geburtstag?“
„Ich hab mir so sehr eine Lederhose gewünscht. Und Mama hat mir eine versprochen. Aber ich hab eine doofe Puppe gekriegt …“
Mama kam herein und fügte hinzu: „Und Bücher und ein teures Hase-Igel-Spiel und Pralinen …“
„Schenkst du mir eine Lederhose, Oma?“
„Äh, ich weiß nicht, ob ich mir das leisten …“
Mama unterbrach: „Von der Oma hast du schon einen sehr schönen Pulli gekriegt. Du kannst dir ja zu deinem nächsten Geburtstag eine Lederhose wünschen.“
Aber ich kannte Mama lange genug. Workshops zum Thema „gesundes Misstrauen“ hatte ich nicht mehr nötig. Doris kam herein und strich mir übers Haar. „Komm, wir spielen ein bisschen mit deiner neuen Puppe“, lockte sie. Ich schüttelte den Kopf. Ihr Ton wurde kälter. „Andrea, ich will, dass du mit deiner Puppe spielst!“
„Aber ich will nicht!“
„Du kriegst auch ein Eis“, flüsterte sie mir ins Ohr. Ich blieb standhaft. Von versprochenen nicht gekriegten Eisportionen besaß ich schon eine große Sammlung. Doris überlegte. „Andrealein? Wenn du jetzt mit Soofie spielst, leihe ich mir heute Abend Roberts Auto und dann machen wir eine Nachtfahrt durch Frankfurt.“
Oh, das klang gut. Meine Vorsicht war wie weggeblasen. „Darf ich vorne sitzen?“
„Aber klar doch.“
„Und wie lange dauert die Nachtfahrt?“
„Eine ganze Stunde.“ Sie sah mich treuherzig an und ich kroch ihr auf den Leim.
Zuerst sollte ich der Puppe einen neuen Namen geben, weil ich immer Zoovieh statt Soofi sagte. Ich entschied mich für Tanja, weil sie auch Zöpfe hatte, an denen man ziehen konnte.
Doris sagte: „Wie nett! Nun steh nicht rum. Mach halt irgendwas mit ihr.“ Am liebsten hätte ich Tanja verhauen, aber ich wollte es mir heute nicht mit Doris verderben. Die Puppe hatte keine Hose (nicht mal eine Unterhose!), aber gleich zwei doofe Kleidchen. Ich zog ihr das rote aus und das blaue an, dann zog ich ihr das blaue aus und das rote wieder an. Beim zehnten Umziehen murmelte Doris: „Fantasielos“, und nahm ihre Modezeitschrift vom Tisch. Nach einer Viertelstunde hatte sie mich vergessen und ich durfte Doofie-Zoovieh sitzenlassen.
Wir aßen alle zusammen Abendbrot und ich sah dabei fortwährend aus dem Fenster, ob es nicht bald dunkel würde. Als Oma schlafen ging, schien es mir nächtlich genug. Ich klopfte bei Doris. „Machen wir jetzt die Nachtfahrt?“
Sie verzog den Mund, nahm ihre Schlüssel und winkte mir, ihr zu folgen. Ich blieb auf dem Weg zum Auto hinter ihr, damit sie nicht sah, was ich anhatte. Aus dem gleichen Grund nahm ich auf dem Rücksitz Platz. Sie kippte den Rückspiegel und prüfte, ob sie schick genug aussah. Ihr Blick fiel auf mich. „Also nein, so kann ich dich nicht mitnehmen.“ Ich erschrak. Sie hatte meine Hose gesehen!
„Deine Haare sind unmöglich. Die müssen wir erst noch waschen.“ Sie waren zwar erst vor zwei Tagen gewaschen worden, aber immerhin ging es nicht um Hosen; ich willigte widerstrebend ein und wir fuhren wieder rauf. Nach der Haarwäsche wäre ich mit nassen Haaren losgefahren; draußen war es warm genug. Aber Doris bestand darauf, mir eine schicke Frisur zu föhnen. Aus fünf Minuten wurden zwanzig. Kaum hatte sie endlich „Fertig“ gesagt, da sprang ich vom Stuhl und rief: „Fahren wir jetzt?“
Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf ihre Armbanduhr. „Hmmm, jetzt ist es aber schon viel zu spät.“
„Aber du hast es mir versprochen!“
„Ich wusste ja nicht, dass es so spät wird. Und Robert will sein Auto um … äh …“, sie guckte auf ihre Uhr, „… ja, äh … um Mitternacht will er’s wiederhaben.“
„Aber du hast es mir versprochen“, heulte ich los.
Mama mischte sich ein. „So geht das aber nicht. Was man verspricht, muss man halten.“
„Das musst ausgerechnet du sagen“, spöttelte Doris. Mama wollte nicht verstehen, was sie meinte, und sagte in scharfem Ton: „Du fährst jetzt mit ihr spazieren!“
„Ich denke nicht dran. Ich bin mit Robert verabredet und diese verwöhnte Gans muss endlich mal lernen, dass es nicht immer nur nach ihrem Kopf geht.“
„Dann darfst du es aber auch nicht versprechen!“
Doris schrie etwas von „reicht jetzt“ und „Auto zurück“, nahm ihre Schlüssel und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.
Ihr war also auch nicht zu trauen. Bevor ich zu Bett ging, wollte ich der Puppe die Zöpfe abreißen, aber da fiel mein Blick auf die Schere. Eine halbe Stunde später hatte Tanja Doofie-Zoovieh eine Stoppelfrisur wie Mecki-der-Igel. Der Mut verließ mich alsbald. Ich schlich in Omas Zimmer und versteckte die Puppe unter ihrem Bett. Eine Woche später guckte ich heimlich nach. Sie war weg. Ich sah sie nie wieder und keiner sprach darüber.
Mein Geburtstag lag nach dem Stichtag für die Einschulung. Ich war damit ein sogenanntes „Kann-Kind“, weil ich nur auf Antrag und nach einer persönlichen pädagogischen Begutachtung eingeschult werden konnte. Mir hatte mit knapp sechs Jahren nichts am Schulbesuch gelegen, und meiner Mutter auch nicht. Jetzt freute mich schon seit einigen Wochen darauf. Endlich mal was Neues!
An einem Sonntag kurz vor dem großen Ereignis wartete Mama ab, bis Oma zu einem Besuch bei einer Bekannten aufgebrochen war. Sie öffnete meinen Kleiderschrank, suchte ein paar Sachen heraus und legte sie aufs Bett. „Wir müssen mal festlegen, was du zur Einschulung anziehst. Du kannst dir selber was aussuchen und dann gucken wir, ob es dir noch passt.“
Ich hatte schon gesehen, was da lag. „Kein Kleid!“
„Na komm, du kannst doch an einem so feierlichen Tag nicht in Hosen rumlaufen.“
„Kann ich doch!“
Ihr Blick wurde finster. „Du suchst dir jetzt ein Kleid aus, sonst bestimme ich, was du anziehst.“
Ich drückte mich in eine Ecke und sagte das Schlimmste, das mir einfiel: „Ist mir scheißegal!“
Schon sauste die erste Ohrfeige heran. Der übliche Tumult folgte: gewaltsames Ankleiden, Gegenwehr, Schläge, Geschrei. Schon ging es nicht mehr nur um ein einziges Kleid. Die Kleiderordnung fürs Schuljahr musste festgelegt werden; ich sollte gleich für eine ganze Modenschau herhalten. Die Schläge multiplizierten sich mit der Anzahl der Kleider. „In der Schule trägst du Röcke oder Kleider, ob dir das passt oder nicht!“
„Dann haue ich eben ab!“
„Dann kommst du in ein Heim für schwer erziehbare Kinder! Mach nur! Das Leben wäre ohne dich sowieso viel schöner!“ Sie knallte die Tür hinter mir zu.
Ich starrte stundenlang einen Riss in der Tapete an und dachte, vielleicht wäre es ihr ja lieber, wenn ich tot wäre.
Am Tag der Einschulung hagelte es wieder Püffe und Schläge, bis Mama es geschafft hatte, mir ein Kleid anzuziehen. Dann wurde ich an den Ohren aus der Wohnung gezerrt.
In der großen Eingangshalle, wo alle auf die Ansprache des Rektors warteten, stand ein Mädchen in Hosen. Ich stieß meine Mutter heftig an und zeigte mit dem Finger auf diese Sensation. Eine Frau stand neben mir und zischte: „Man zeigt nicht mit dem Finger auf andere.“
„Wieso darf sie eine Hose anziehen?“
„Sie hat eine Sondergenehmigung. Pssst!“
„Warum hat sie eine Sondergenehmigung?“
Mama schüttelte mich und die Frau zischte: „Weil sie eine Beinprothese hat. Sei jetzt sei endlich still und hör zu, was der Rektor sagt.“
„Was ist eine Beinprothese? Kann ich auch eine haben?“
Mama hob die Hand und drohte mir eine Ohrfeige an. Unsere Nachbarin klickte mit der Zunge und schüttelte den Kopf, ich wusste nicht, ob meinetwegen oder wegen Mama.
„Sie ist leider etwas schwierig“, raunte Mama ihr zu, aber die Frau sagte wieder „Pssst!“, und deutete auf den Rektor.
Eine halbe Stunde später stellte sich heraus, dass die Pssst-Frau eine Lehrerin war. Meine Lehrerin. Sie hieß Frau Nagel und ein Nagel im Fleisch war sie, wie ich bald feststellen konnte.
Ein Fotograf hatte in einem Klassenraum ein provisorisches Fotostudio. Kind mit Zuckertüte, fürs Album. Vor dem Raum wartete gerade keiner, als wir vorbeigingen. „Komm, wir machen ein Erinnerungsfoto“, säuselte Mama.
„Im Kleid?“ Ich wich entsetzt zurück.
Sie schlug mir ins Gesicht, kniff mein Ohr zwischen ihre Finger, zerrte mich zum Fotografierstuhl und drückte mich darauf nieder. Ich heulte. Inzwischen hatte sich draußen schon wieder eine kurze Warteschlange gebildet. „So kann ich das Kind nicht fotografieren“, maulte der Fotograf, „bitte gehen Sie zurück in die Reihe.“ Das brachte mir eine erzürnte Kopfnuss ein. Wir mussten eine Viertelstunde warten. Ich nötigte ihr das Versprechen ab, dass ich mich außerdem mit Zuckertüte und Hose fotografieren lassen durfte. Zur Sicherheit wollte ich zuerst die Hose holen. „Du hast überhaupt nichts zu wollen“ zischte sie, „und wenn du jetzt noch ein einziges Wort sagst, zerschneide ich heute Nachmittag deine Hosen.“
Da ließ ich mich fotografieren und nahm mir vor, das Bild später in kleine Stücke zu reißen. Aber ich besitze es immer noch. Wenn ich es einem einfühlsamen Menschen zeige, kann er aus meinem gequälten Gesichtsausdruck das Leiden meiner Kinderseele herauslesen.
Vor dem Schlafengehen bekam ich anstatt der Ball-Tran-Tropfen eine Tablette.
„Warum muss ich die nehmen?“
„Weil du hysterisch bist!“.
Ich wusste nicht, was das Wort bedeutete, aber es hatte einen miesen Beigeschmack. Heute finde ich, dass sie hätte sagen müssen: „Weil wir hysterisch sind und deine Lebensäußerungen nicht ertragen können.“
Einen Eindruck der vorherrschenden Einstellung bis zum Ende der 1960er Jahre erhält man in Wikipedia: Viele Schulen erlaubten Mädchen im Winter, Hosen zu tragen. An katholischen Mädchenschulen hielten sich Kleiderordnungen länger. In gehobenen Kreisen galten Hosenanzüge für Damen als unanständig. Die Klatschpresse dieser Zeit berichtete immer mal wieder über einen „Hosenskandal“. Der weltbekannten Sängerin Esther Ofarim wurde 1966 der Zutritt im Hosenanzug zur Bar eines vornehmen Hamburger Hotels verwehrt. 1969 wurde der Ehefrau eines englischen Flieger-Stars im Londoner Ritz der Zutritt verweigert. Der Empfangschef hielt sie an: „Damen in männlicher Kleidung ist der Eintritt verboten!“ Die berühmte Schauspielerin Senta Berger erschien im selben Jahr in einem Londoner Hotel, in dem sie logierte, zum Dinner in einem edlen Designer-Anzug. Sie wurde genötigt, sich umzuziehen, bevor sie den Speisesaal betreten durfte. Im Londoner Nobelkaufhaus Harrods waren bis 1970 behoste Kundinnen unerwünscht. In vielen internationalen Luxushotels galt das Hosenverbot für Frauen noch Jahre danach. Der damalige CSU-Bundestagsvizepräsident drohte, er werde jede Abgeordnete aus dem Saal weisen, die es wagen sollte, in Hosen zur Plenarsitzung zu erscheinen. Heute rotiert er sicher im Grab wie ein Grillhähnchen, denn die Bundeskanzlerin trägt Hosenanzüge ganz selbstverständlich.
Am nächsten Tag war der erste Unterricht angesagt. Ich hatte einen Plan und zog freiwillig mein blaues Kleid mit Faltenrock an. Mama wunderte sich zwar, wähnte aber, sie hätte endlich gewonnen, und ließ sich zufrieden aufs Sofa fallen. Im Badezimmer zog ich eine Hose an und krempelte sie so weit hoch, dass sie unterm Rock nicht zu sehen war. Auf der Schultoilette ließ ich die Hosenbeine runter und stopfte den Rock in die Hose. Dadurch kam ich zu spät in die Klasse. Die Lehrerin sagte: „Was soll denn das? Zieh die Hose aus.“
„Ich will auch eine Sondergenehmigung.“
„Unsinn! Was soll das? Kleid in der Hose! Du siehst unmöglich aus.“
„Als hätte sie in die Hose gemacht!“, murmelte ein Kind, aber alle hörten es und lachten. Ich rannte aus dem Raum und warf die Tür hinter mir zu. Zu Hause wechselte ich das Kleid gegen eine Bluse. Behost und beblust rannte ich zurück in die Schule.
Frau Nagel schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und wurde laut. „Du gehst sofort nach Hause und ziehst dein Kleid an. Mädchen dürfen nur Hosen tragen, wenn die Temperaturen unter Null Grad fallen!“
„Ich friere aber!“ Ich setzte mich und verschränkte die Arme.
Sie streckte die Hand aus. „Dein Mitteilungsheft!“
Am Abend setzte es Ohrfeigen. Am nächsten Morgen hatte ich Bauchschmerzen. Echte. Ich übergab mich nach dem Frühstück und durfte wieder ins Bett. Nach ein paar Tagen ging es mir besser. Ich wurde wieder gewaltsam in ein Kleid gesteckt und in die Schule gebracht. Jeden Morgen dasselbe Theater. Keiner von uns wollte nachgeben.
Auf den Sportunterricht hatte ich mich gefreut. Ich konnte schon an einem Seil hochklettern und einen Ball ziemlich weit werfen. Im Handstand war ich auch gut. Die anderen, die inzwischen schon mal Turnen gehabt hatten, sprachen respektvoll über die Lehrerin. Sie hieß Frau Mann. Über den Namen musste ich lachen. Er klang vielversprechend.
Die Turnhose, die Mama mir gekauft hatte, sah blöd aus. Aber die anderen hatten genau so eine. Die Knaben, die gleichzeitig Turnunterricht hatten, trugen schwarze Shorts mit weißen Seitenstreifen, wie die Sportler im Fernsehen. Ich sah fasziniert hinüber. Auf die Ermahnung, mich auf die Übungen zu konzentrieren, folgte der übliche Dialog: Kann ich auch solche Shorts … ? – Nein, das ist nur was für Jungen. – Warum? – Darum.
Aber heute hatte ich ein schlagendes Argument. „Im Fernsehen haben die Frauen auch solche Shorts.“
„Welche Frauen?“
„Bei den Olympischen Spielen.“
Frau Mann schnaubte: „Das sind ja auch richtige Sportlerinnen und du bist ein mickriges Etwas.“
Die anderen gackerten. Ich setzte mich auf eine Schwebebank und schmollte. Frau Mann baute sich vor mir auf. „Mit dir werde ich fertig, du ungezogenes Gör!“ Sie sah furchtbar stark aus und furchtbar wild. Eingeschüchtert stand ich auf und suchte meinen Platz in der Reihe, wo wir uns der Größe nach aufzustellen hatten. Ein Mädchen stellte mir ein Bein, ich fiel hin. Frau Mann kümmerte sich nicht darum. Ich dachte, sie hat es bestimmt gesehen und jetzt freut sie sich, dass mich jemand ärgert.
Nach dem Sport sollten wir nackt duschen. Ich erschrak. Deutlich sah ich einigen Mädchen an, dass sie sich genauso schämten, sich vor allen auszuziehen. Das machte mir Mut zum offenen Protest, obwohl Frau Mann aussah, als könne sie mich zerquetschen. Sie kam wieder drohend auf mich zu. Ich duckte mich und rief: „Ich sag’s meiner Mutter!“
„Soso, deiner Mutter. Mit der habe ich aber schon gesprochen. Und die hat mir geflüstert, dass du lieber ein Bub wärst.“
Die anderen lachten.
„So, und jetzt hörst du mal zu. Deine Mutter wird mit dir nicht mehr fertig. Wir sollen dir deine Flausen austreiben. Also wirst du jetzt deine Hose ausziehen und dich unter die Dusche stellen. Ich zähle bis drei!“
Ein rascher Seitenblick verriet mir, dass die anderen dabei waren, sich vollends auszuziehen, bis auf eine, die sich aufs Klo verdrückt hatte. Erschüttert über diese Feigheit und weil ich nicht wissen wollte, was die Muskelfrau bei drei mit mir anstellen würde, zog ich unter lautem Protestgeheul die Unterhose aus. Wenigstens lachte keine, das war mein einziger Trost in diesem schrecklichen Augenblick.
Als ich es am Abend meiner Mutter erzählte, sagte sie nur: „Damit musst du dich abfinden.“ Aber Oma hatte zugehört. Sie brachte mich am nächsten Tag in die Schule und ließ sich auf dem Schulhof Frau Mann zeigen. Ich sollte am Tor stehen bleiben. Oma sprach Frau Mann an. Ich schlich mich an, so weit es ging, verstand aber wegen des allgemeinen Lärms nicht alles, was sie sprachen. Wörter wie „verboten“ und „Anzeige“ hörte ich mehrmals deutlich. Ich war stolz auf Oma, dass sie ein so kompliziertes Wort wie Dienstaufsichtsbeschwerde gelassen und fehlerfrei aussprechen konnte.
Nach diesem Tag wagte es keine Lehrerin mehr, mich anzufassen. Aber Frau Mann, die in der Schule „Mannweib“ genannt wurde, sparte nicht mit kleinen Gemeinheiten und Ungerechtigkeiten und nutzte jede Gelegenheit, mich lächerlich zu machen. Frau Nagel tat es ihr gleich. Kurz, ich fühlte mich in der Schule beinahe wie zu Hause.