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Das Umland

Karlsruhe glänzt mit zwei weitläufigen Grünflächen im Zent­rum der Stadt. Der Stadtgarten mit seinen Tieren, Promenaden und Blumenrabatten verlangt geradezu nach einer großen Wiese andernorts, auf der sich alles tummeln kann, was in der Stadt ansonsten ­keinen Auslauf hat: sporthungrige Studenten und rüstige Rentner, Großfamilien in bunten Tüchern rund um Reis- und Fleischpfannen, scheu-verliebte Pärchen Hand in Hand und junge Väter, die stolz-entspannt einen federleichten Kinderwagen vor sich her rollen lassen.

Gegenüber der kleinteilig geordneten Anlage des Stadtgartens erlaubt die große Wiese im Schlosspark eine Geselligkeit, wie man sie von Bildern ausgedehnter englischer Landschaftsgärten zu kennen glaubt, jedoch weitaus bunter und lebendiger. Bälle fliegen durch die Luft und werden lachend aufgefangen, junge Männer lassen sich von ihren Kindern fangen und dazwischen flitzen Jogger, trainierte Skater und selbstverliebte Einradfahrer in knappem Zentimeterabstand. Der aufdringliche Geruch von Knoblauch und gebratenem Fleisch treibt Kolja weiter.

Spaziert man in den Stadtgarten fast hinein, nach den ersten Schritten aus dem Bahnhof, so läuft man geradewegs aus der Stadt hinaus, folgt man den langen Alleen, die von der großen Wiese des Schlossgartens an Wald und Feldern entlang hinaus bis zu den umliegenden Dörfern führen.

Kolja findet sich am Rand eines Dorfes wieder, zwischen Gewerbebauten und Tennis- und Fußballplätzen, wie sie sich überall ins Land hineinschieben.

In einer Vereinsgaststätte ruht er sich aus.

An den Tischen ein paar Frauen, die fachmännische Urteile über die Spielleistung ihrer Söhne austauschen. Durch die geöffnete Seitentür sieht Kolja auf einen schmalen Ausschnitt am Rand des Platzes, auf dem in Minutenabständen dieselben zwei Jungs auftauchen, ein plumper Blondhaariger und ein dünner Kerl, der ziellos hin und her tänzelt. Sie wärmen sich auf, ihren lustlosen Bewegungen, ihren gleichgültigen Mienen sieht Kolja es an.

An der Theke unterhält sich die Kellnerin mit zwei stämmigen Männern in Trainingsanzügen, bis ein Mann mit einem weißen Käppi auf dem Kopf aus der Küche tritt, in jeder Hand einen gefüllten Teller. Die zwei Männer wechseln an den Tisch neben Kolja und beginnen damit, sich zwei große Scheiben panierten Fleischs und einen Haufen Pommes einzuverleiben, so routiniert, wie sie vermutlich einen defekten Rasenmäher in seine ­Bestandteile zerlegen würden. Schweigend zerkleinern sie das Fleisch und streifen mit jedem Stück leicht über einen leuchtend roten Flecken Tomatenketchup.

Kolja weicht mit seiner Flasche Bier nach draußen aus, auf eine Bank am Rand des Fußballplatzes.

Auf zwölf, dreizehn Jahre schätzt Kolja die Spieler. Sein Blick hängt sich fest an einem Jungen in hellblauen Schuhen. Dazu ist er einer der Eifrigsten auf dem Platz. Es gefällt Kolja, ihn in Gedanken anzufeuern. Ein kräftiger, untersetzter Kerl mit buschig-dichten Haaren, der erstaunlich schnell rennt und anscheinend leicht in Rage gerät.

Vom Schiedsrichter eines Fehlers verwiesen, stampft er auf und knallt den Ball vom Feld. Den Rest der ersten Spielzeithälfte verbringt er auf der Bank der Ersatzspieler, keine drei Schritte von Kolja entfernt. Er trinkt eine Flasche Wasser leer und wirft die Flasche auf den Boden. Starrt auf die fernen Berge statt auf das Spiel vor seinen Augen und fügt den Kommentaren der anderen Jungs auf der Bank kein Wort hinzu.

Mit Beginn der zweiten Spielzeithälfte ist er wieder dabei, kämpferisch wie eben. Rammt seinen Gegner zu Boden und rennt auf das Tor zu, als hielte es für alle Zeit Erfolg oder Niederlage bereit.

Der Schiedsrichter pfeift, wieder wird er vom Platz gestellt, nach knapp vier Minuten Spiel. Wieder sitzt er dicht neben Kolja, schwer schnaufend. Der jungen Frau, die sich über die Umzäunung hinter ihm beugt und leise auf ihn einzureden beginnt, dreht er stur den Rücken zu.

So wie der Junge reglos-wütend auf die Wolken starrt, scheint die Frau dem Urteil des Trainers beizupflichten. Mehr als dass sie türkisch spricht, kann Kolja ihrer Rede nicht entnehmen. Immer wieder bricht sie hilflos ab und beginnt von neuem. Ihre Gesten verraten Kolja, dass sie ihren Sohn vergeblich bittet, sich ihr zuzu­wenden. Bis er aufschnellt und den Platz verlässt, sein Hemd über Brust und Schultern windet, zu einem Knäuel zusammenpresst und wortlos geht. Unbeeindruckt von den Rufen seines Trainers, sofort zurückzukehren. Er bückt sich unter der Umzäunung durch, schüttelt seine Mutter ab, den Blick stur zu Boden gerichtet und wird von einem Mann an beiden Schultern gefasst.

Sein Vater zischt ihm zwei, drei Sätze zu, dreht den Kleinen um und stößt ihn zurück Richtung Platz. Nun stehen sie zu zweit in seinem Rücken, die Eltern dieses kleinen Wüterichs, der sich jetzt verraten und verloren fühlt, wahrscheinlich voller Grimm auf ­Rache sinnt, an Trainer und Mutter und Vater und an der Welt, nachher in der Kabine dem erstbesten einen Stoß versetzen und alleine mit seinem Rad nach Hause stürmen wird, sich am ­liebsten einsperren würde, besäße er noch einen Schlüssel für sein Zimmer.

Vierzig Minuten sind lang, in hilfloser Wut auf der Reservebank. Unbeachtet hält Kolja ihm die Treue. Während er sich den Anschein gibt, das Spiel zu verfolgen, sieht er dem Jungen zu, wie er sich nach einer Weile von der Bank zu Boden gleiten lässt, dasitzt im Dreck und mit einem kurzen Stock Wege in die trockne Erde zeichnet. Ein Fußballfeld entsteht, mit Linien und Punkten, zwischen denen das Stockende hin- und herfährt, bis die Erde wirr zerfurcht ist und es Zeit wird für Kolja aufzustehen und weiterzugehen.

Dem lauten Jubel in seinem Rücken entnimmt er ein Tor für die Gegenseite. Die zwei Schnitzelesser schlendern an ihm vorbei, mit einer Genugtuung in den Mienen, als hätten sie etwas zu dem Tor beigetragen, indem sie gerade eben ihre Gläser leerten.

Noch während der Jahre, in denen Kolja kaum einen der Samstag­nachmittage verpasste, wenn einer seiner Söhne auf dem Platz mitspielte, sah er voraus, wie er diese Zeit vermissen würde, ­verfolgte er so wie heute ein Spiel, ohne einen vernünftigen Grund, die eine oder andere Mannschaft anzufeuern und sich mit den Eltern am Spielfeldrand über einen völlig belanglosen Sieg zu freuen.

Dankbar nahm Kolja in diesen Jahren die Gelegenheiten wahr, sich unbefragt als Teil einer Gemeinschaft fühlen zu dürfen, ­infolge der Aktivitäten der Kinder in der Schule und den verschiedensten Vereinen. Zu dem Gespräch mit einem türkischen Arbeiter am Rand des Fußballplatzes hätte kein anderer Weg geführt. Kolja genoss diese Verbundenheit, oberflächlich und unpersönlich wie sie war, und zugleich bangten beide ehrlich und ernst um das Tor der eigenen Söhne.

Die Zeit mit den Kindern vergeht naturgemäß schneller als die eigene Kindheit – welches Kind nähme vorausschauend das Ende dieser Unbeschwertheit vorweg!

Und weiter führt ihn der Weg zurück in die Erinnerung, in ein Dorf, in eine Stimmung am Samstagnachmittag, da könnte tatsächlich leichthin eine sentimentale Sehnsucht nach der eigenen Kindheit aufsteigen. Kolja ist in einer solch kleinen Welt aufgewachsen.

Als hätte sie einer für ihn dorthin bestellt, stehen zwei Männer mit einem Besen zwischen den Beinen auf dem Bürgersteig, im Gespräch miteinander und unverhohlener Neugierde in den Augen, als Kolja sie mit einem Nicken grüßt. Stehen vor ihren Gärten und werden all das Zeug da brav essen, Erbsen und Bohnen, Kartoffeln und Möhren, mit Fleischwürsten dazu und gebratener Leber, und hinter den Gemüsebeeten leuchten in satten Farben weiße Margeriten, roter Mohn, gelbe Schafgarben. Stockrosen in tiefem Altrosa ragen kopfhoch darüber, lichterfüllte, leuchtende Flecken, wie Kolja sie von unzähligen Sommern her kennt.

Was fehlt, schwingt wie von selbst hinzu, und Licht und Töne und Stimmen schlüpfen durch einen Spalt, als hätte sich plötzlich eine Tür geöffnet, und ein Gemisch an Bildern aus seinem Dorf strömt Kolja entgegen, umschließt die zwei Straßenkehrer, und schon ist alles eins, der Geruch frischen Heus und das Geläut der Glocken, das Werkeln und Klappern aus düsteren, niedrigen Scheunen und ein Traktor mit einem polternden Anhänger und hinter dem Lenkrad einer dieser alten Männer, wie sie in alle Ewigkeit zu Feld und Wiese fahren werden, dürr-ledrige Greise, die speckige Mütze tief in die Stirn gezogen.

Es bleibt bei den zwei Alten vor ihren fleißig genutzten Gärten. Kolja glaubt, im Weitergehen ihre misstrauischen Blicke auf seinem Rücken zu spüren.

Nach ein paar Schritten biegt er in eine Straße, in ein Viertel ein, das junge Familien bewohnen. Plastikspielzeug und Kinderräder, eine Unmenge kleiner Schuhe und Stiefel vor den Haustüren, bunte Papptiere kleben an den Fensterscheiben. Junge ­Väter machen sich am Haus zu schaffen oder kicken auf der Straße mit ihren Söhnen, während ihre Frauen mit einer Gießkanne prüfend zwischen Blumentöpfen hin- und hergehen.

Die Gärten sind schmal und klein, mit Bambussträuchern, Olivenbäumchen und breitblättrigen Kiwis aufgepeppt, die sich an verschnörkelten Eisengittern emporwinden.

Kolja durchquert das Neubauviertel, als hätte er es eilig. Knappe fünfzehn Jahre hat er in einem solchen Reihenhaus verbracht, eben die Jahre, in denen seine Söhne Kinder waren. Wie an jede andere Verbindung mit Menschen erinnert sich Kolja der vergangenen Lebensphasen vor allem gemäß des eigenen Anteils daran, sie zu beenden. Die eigene Kindheit hatte Kolja mitsamt dem Dorf in der Gewissheit hinter sich gelassen, jenseits dessen Grenzen könne ihn nur Besseres erwarten. Zwanzig Jahre später verabschiedeten sich seine Kinder in der gleichen Haltung von ihren Eltern, kaum älter als Kolja damals.

Früh war Kolja von zuhause fortgegangen, da waren ihm die vertrauten Gesichter und Plätze des Dorfs schon seit langem reiz- und geheimnislos geworden. Selten kehrte er zurück um zu sehen, wie die Heimat im Laufe der Jahre jünger wurde und die alten Plätze verschwanden, gleich glatt gezogenen Falten.

Das Land war einst gesprengelt, der Fluss zerfranst gewesen, die Leute hatten nach ihren Häusern gerochen. In den letzten Jahren, ohne den Beistand der Mutter, wurde der Vater dem Haus ein achtloser Hüter, bis Kolja es nach dessen Tod rasch verkaufte.

Für die letzten sechs Jahre, die Kolja in Frankfurt verbrachte, wird ihm Karlsruhe keine Kulisse liefern können. Von seiner Wohnung im zwölften Stock fiel sein Blick auf die endlose Bewegung der Züge, wie sie langsam in den Bahnhof glitten und ihn wieder verließen. Tausende von Menschen drängten sich jeden Tag in den Bahnhof hinein. Sechs Jahre lang gehörte Kolja zu dieser Menge und fand in müder, alltäglicher Routine früh morgens den Weg zu seinem Gleis.

Unzählige Menschen, die am Morgen in die Stadt hineinströmen und sie am Abend wieder verlassen, solche Szenen wird Kolja in Karlsruhe nicht erleben. Nur eine gute Stunde Zugfahrt liegt zwischen den Bahnhöfen der beiden Städte. Eine kurze Zeitspanne, die Kolja zum Glauben verleitete, er brauchte den Folgen seines Umzugs von der einen zur anderen Stadt kaum Bedeutung zu schenken. Die Tage in Karlsruhe würden sich kaum von jenen in Frankfurt unterscheiden. Nach der Arbeit sollten da und dort ein paar leere Stunden am Abend bleiben, an den freien Wochenenden fühlte sich Kolja schon lange nicht mehr an einen Ort gebunden.

Nun wird es ihn erheblich mehr Mühe als erwartet kosten, seine Lebensweise hier fortzusetzen, das Empfinden seiner selbst, gegen das ermüdend Provinzielle, das Kolja bereits nach ein paar Tagen glaubt abwehren zu müssen.

Ein solch aufgeregtes Treiben wie hier im Vorfeld des Papstbesuches wäre unvorstellbar in Frankfurt, und ebenso undenkbar ein solches Gespräch wie gestern Abend auf der Geburtstagsfeier. Selbst diesen abgeklärten Juristen scheint der neue Papst tatsächlich in Unruhe zu versetzen. In Gedanken streift Kolja über den Kreis seiner Bekannten in Frankfurt. Keiner von ihnen stellte sich jemals ernsthaft die Frage nach einer möglichen Erlösung der Nazi-Opfer oder gar nach der Schuldigkeit Gottes, den Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Ob sie aus dieser Enge erwächst, die übertriebene Aufmerksamkeit für dieses Papstspektakel? Die meisten der Gäste gestern Abend haben ihr Leben in oder im Umkreis der Stadt verbracht und halten es der Rede wert, wenn sie ein paar Jahre davon in Mannheim oder Stuttgart zubringen mussten. Die wenigen, die Karlsruhe während des Studiums verlassen hatten, schienen nach vier, fünf Jahren erleichtert zurückgekehrt zu sein.

Kolja weiß nur zu gut um das, was sie ihm voraus haben. Mittlerweile glaubt er es selbst, dass die Vertrautheit, die das Kind zu der Landschaft seiner ersten Jahre entfaltet hat, kein zweites Mal glücken kann, so viel Bereitschaft der Hinzugezogene auch zeigt.

Was er mit den Leuten in seinem Heimatdorf teilt, könnte Kolja keinem Fremden erklären. Obwohl er weniger als die ersten ­zwanzig Jahre in diesem Dorf verbracht hat, ist es in ihn eingesunken, wie die Leute dort reden und gehen, wie sie einander anschauen – und das einmal gefällte Urteil zeitlebens wiederholen, da reicht ein kurzer, wissender Blick. Ein Blick, genauso entschlossen und stumm wie ihre Haltung am Sonntagmorgen im hinteren, dunklen Teil der Kirche.

Wie sie vor vierzig Jahren dort standen, als Kolja ein Kind gewesen war. Eigenarten sind seinem Dorf unwiederbringlich verloren gegangen, nicht anders als überall.

Wie ein magerer, missratener Finger streckte sich das Bahnhofsgebäude aus dem Dorf heraus. In der Spitze des Fingers, in der Bahnhofswirtschaft, saßen ein paar Alte hinter ihren Karten, ihren Gläsern, behütet vom Wirt. Mittels knapper, mürrischer Zurufe hielt er die lahme Herde unter dem Schein der tief herabgezogenen Lampe zusammen.

Grundlos tat sich im Dorf so leicht keiner mit einem anderen zusammen. Die Alten wachten an seinem äußersten Winkel, und damit kein Fremder, kein Anreisender misstrauisch wurde und auf den Gedanken verfiel, das Dorf sei schutzbedürftig, taten die Männer, als ob sie spielten und kamen Abend für Abend auf dieser Fingerspitze zusammen.

So legte sich Kolja als Kind den Zweck dieser beharrlichen Runde zurecht.

Bis zu seinem Umzug nach Karlsruhe genoss es Kolja, während der Wartezeit zwischen zwei Zügen in der Lounge über den Gleisen zu sitzen, in diesen tiefen, roten Sesseln, fremde Menschen zu betrachten und innerlich fortzubleiben, obwohl es keine zehn Minuten gebraucht hätte, um sich in seiner Wohnung ein wenig auszuruhen.

Der Papst kommt

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