Читать книгу Der Papst kommt - Andrea Hensgen - Страница 7
ОглавлениеKongress-Hotel
Weitaus schwerer als alle übrigen Besonderheiten der Stadt wiegt für Kolja die ganz und gar neue Erfahrung, sein Büro mit einem Zweiten teilen zu müssen. Ein harmloser Junge Anfang zwanzig namens Jan, gutwillig und in jeglicher Hinsicht sorglos, was die Zukunft betrifft. Von Kolja will er viel lernen und mit seiner Freundin zusammenziehen, sobald der Umbau des Dachstuhls im Haus seiner zukünftigen Schwiegereltern abgeschlossen sein wird. Daran hilft nach seinen Auskünften die gesamte männliche Hälfte der Familie am Feierabend kräftig mit.
Am vierten Montag in diesem Betrieb, während er die Treppe hinaufsteigt und sein Blick wie an jedem Morgen unweigerlich auf dem Lächeln der Pappfigur landet, eine fast lebensgroße Frau in dem blauen Anzug, den hier alle Arbeiter tragen, nimmt Kolja vorweg, was ihn gleich erwartet. Die Spielergebnisse seiner Mannschaft, Jan trainiert die Jungs des Fußballvereins, der ihm selbst bis vor drei Jahren jede Menge Siege verdankte.
Mit gleichgültiger Höflichkeit hört ihm Kolja zu, als hätte er keinerlei Erfahrungen auf diesem Feld. Jan wäre der Letzte, dem es einfiele, an Augenscheinlichem zu zweifeln. Da entschlüpft Kolja unbedacht sein Erlebnis mit dem kleinen Wüterich und dessen zweimaligem Platzverweis.
„Die hellblauen Schuhe hätte ich dem schon gleich verboten, solche Extravaganzen gibt’s bei mir nicht.“
Kolja nickt.
„Stimmt, wenn Unterschiede von vorneherein ...“
„Und dann hellblau, das geht gar nicht. Überhaupt, ich hätte den erst mal schmoren lassen, auf keinen Fall gleich wieder in der zweiten Halbzeit eingesetzt.“
Jan tippt mit seinem Stift ein paar Mal fest auf den Tisch, während Kolja seiner Sympathie nachsinnt, für diesen Kleinen, noch zu jung und unerfahren, um die eigene Überlegenheit auszuspielen, ohne sich damit den Neid aller Zweitklassigen einzukassieren – das Telefon klingelt.
Der Mann an der Pforte meldet einen Vertreter. Kolja erwidert, er werde Jan hinunterschicken.
„Nicht mehr als zehn, höchstens fünfzehn Minuten, mehr Zeit braucht es dafür nicht. Trinken Sie in der Kantine einen Kaffee mit ihm und versuchen Sie herauszubekommen, wie es bei den anderen läuft!“
Jan ist fast einen Kopf größer, sein Körper trainiert, elastisch – jünger. Kolja sieht auf Jans Rücken, bis die Tür hinter ihm zufällt, hört dessen schnellen Schritte auf dem Flur, steht auf und stellt sich ans Fenster.
Hohe Bambusbüsche auf dem Streifen Grün in der Mitte zwischen Reihen neuer Bürogebäude. Auch an seinem vergangenen Arbeitsplatz schwang Kolja Bambus entgegen. Es verbindet sich offenbar leicht mit den gängigen Attributen der Wirtschaft. Die feinen Äste schwingen mit jedem Windstoß, das lichte Blattwerk weist auf Tansparenz. Zudem wächst Bambus außerordentlich schnell. Der Grundstein zur Bebauung dieses Gewerbegeländes wurde erst vor drei Jahren gelegt. Bereits jetzt bietet es keine freien Flächen mehr. Vor allem junge Firmen siedelten sich hier an, die Stadt förderte den „Industrie- und Medienpark“ mittels billiger Bauplätze.
Kolja wird nichts Vernünftiges zustande bringen in diesem halben Jahr, Jan Tisch an Tisch gegenüber, acht Stunden am Tag. Falls es keinen freien Raum mehr geben sollte, wird Jan als Dritter seinen Schreibtisch in einem anderen Zimmer dazu schieben müssen – sonst hätten sich Koljas Auftraggeber das viele Geld für ihn sparen können.
Jan wird ihn bloß ratlos und enttäuscht anstarren, wie auch immer Kolja es begründen wird, dass er unbedingt ein eigenes Büro benötigt.
Eine Amsel hüpft auf dem Rasen hin und her, als steckte ihr ein aufgeblasener Luftballon im Bauch, springt senkrecht in die Höhe, ohne Flügelschlag, ohne Anstrengung, und plumpst genauso bewegungslos wieder zu Boden.
Eine Weile lang beobachtet Kolja den Vogel, bis den etwas aufschreckt und er plötzlich aus seinem Blickfeld verschwindet. Jan steht in der Tür und hält Kolja mit beiden Händen einen Stapel Werbeprospekte entgegen.
„Mann, war der hartnäckig, nächste Woche kommt er wieder.“
„Hat er denn was Neues zu bieten?“
Jan lässt den Packen auf den Tisch an der Wand fallen.
„Keine Ahnung, müsste man das Zeug da mal durchgucken.“
„Dann fangen Sie gleich an! Am besten legen Sie eine Liste der neuen Produkte an, einschließlich der zusätzlichen Funktionen und der geänderten Preise. Am besten an dem Tisch am Fenster, da ist mehr Platz.“
Bis zur Mittagszeit fällt kein Wort. Jan müsste es selbst wissen, dass alle Zulieferer ihre neuen Angebote online präsentieren und sich seine Arbeit in Minuten erledigen ließe. Kolja sieht keinen Grund, weshalb ein schlechtes Gewissen seine Entspannung während des Vormittags schmälern sollte. Eine Weile ruht sein Blick auf Jans Rücken, und Kolja verliert sich in der Vorstellung, welche Zuversicht Jans Freundin, die gesamte Familie aus diesem Kerl da vor ihm schöpft. Vom aufgeweckten Schuljungen zum voranstürmenden Fußballspieler, zum Controllingasisstant, zum Jugendtrainer, zum jungen Familienvater, Abteilungsleiter und Vereinsvorstand – Kolja tut ihm wahrscheinlich nicht unrecht mit dieser Reihe von Erfolgen, wollte man diese Stationen so nennen. Es wäre müßig, dem nachzugehen, was nötig gewesen wäre, um statt des vorgebahnten Wegs einen anderen Lebenslauf entstehen zu lassen. Letzte Woche hat Jan mit fast der Hälfte des Dorfes seinen zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.
Spätestens heute Abend wird Kolja über eine unverdächtig-harmlose Begründung für den notwendigen Raumwechsel nachdenken, nach dem letzten Saunagang, entspannt im Ruheraum. Auf keinen Fall darf der subtile Rauswurf Jans Ehrgeiz bremsen. Im Grunde ist er ja ein feiner Kerl.
Das Äußere des Kongresshotels lädt kaum dazu ein, in seinem Inneren nach Entspannung zu suchen.
Ein quadratischer, schnörkelloser Block, dessen Fassade von den dicht aufeinanderfolgenden hohen, schmalen Fenstern bestimmt wird. Die Stadthalle unmittelbar neben dem Hotel empfängt ihre Besucher mit einem prächtigen Säulengang. Wie eine Schwelle bietet er einen Übergang zwischen dem profanen Vorplatz und der Würde des Gebäudes.
Dies wird der schmalen Terrasse entlang der Längsseite des Hotels nicht gelingen. Statt auf einen begrenzten, überschaubaren Platz zu weisen, setzt sie die Gäste des Hotel-Restaurants dem beständigen Verkehr von Autos und Straßenbahnen aus, knappe zehn Meter von ihren Tischen entfernt. Wie ein hilfloser Versuch, dennoch Gäste anzulocken, spannt sich ein großes Transparent über die Terrasse, das in unübersehbar fetter Schrift den Preis verkündet, den kein Karlsruher für ein Sonntagsfrühstück zu zahlen bereit sein wird, Sommerbrunch hin oder her.
Durch die Errichtung dieses Hotels direkt neben der erst ein paar Jahre zuvor aufwändig im Stil des Klassizismus restaurierten Stadthalle würde der Platz seine Großzügigkeit und die Stadthalle die ihr angemessene Weite verlieren, so hat ihm Simona die Stimmung in der Stadt im Vorfeld der Entscheidung zu diesem Bau erklärt. Die Stadtoberen haben dennoch gegen den Bürgerwillen ihren Ehrgeiz durchgesetzt, inmitten der Stadt ein Hotel zu präsentieren, das keinen Anspruch heutiger Messebesucher unbefriedigt lässt.
Im Inneren der übliche Stil gehobener Hotelketten, eine dezente Einrichtung, Stahl, Glas und Schwarz, unaufdringlicher Luxus, leise, bedeutungslose Musik. In allem ein Hintergrund, der ebenso wie das beflissene Personal in gleich welcher Stadt eine Annehmlichkeit verspricht und erfüllt, die nur dann auffällt, wenn sie fehlt.
Oft genug hat Kolja in solchen Häusern übernachtet. Ansonsten wäre es ihm ebensowenig wie den Leuten hier in der Stadt eingefallen, die Sauna des Hotels zu benutzen, ohne dessen Gast zu sein. Nach zehn Uhr gehören ihm die Räume allein, manchmal schon um neun. Kaum einer der Geschäftsleute, die in diesem Hotel absteigen, scheint den Besuch einer Sauna als außerordentlich erholsam einzuschätzen.
Kolja mag die leichte Müdigkeit, die weiche Wärme seines Körpers, und nackt zu sein. Auf seinen Wunsch hin hat ein Livrierter eben die Musik hier im Ruheraum abgestellt.
Eine Stimmung, viel zu schade, um einen Gedanken an Jan zu verschwenden oder bloß an den nächsten Tag. Kaum steigt er am Abend die Treppe hinunter, an der blauen Pappfigur vorbei, verliert die Arbeit jede Bedeutung. Selbst während der Stunden im Büro denkt Kolja an dies und das, während er Analysen erstellt, Bewertungen verfasst, Änderungen vorschlägt, ganze Abschnitte niederschreibt, als hätte er sie auswendig gelernt. In diesem Unternehmen stellen sich die Dinge erstaunlich überschau- und lösbar dar, für Kolja nichts mehr und nichts weniger als eine halbjährige, recht entspannte Zwischenphase. Nach Karlsruhe wartet Wolfsburg, erst in einem Jahr wird er nach Frankfurt zurückkehren.
Kolja streckt seine Beine bis zum Ende des Liegestuhls aus, dehnt die Spitze des linken Fußes nach vorne und wendet ihn zu sich zurück, eine kleine Anspannung, um sich darauf einzustimmen, gleich aufzustehen. Selten sind seine nackten Füße der Sonne oder gar spitzen Steinen und Dornen ausgesetzt.
Zwei Wege gab es zu ihrem geheimen Versteck. Der gewöhnliche Weg führte an den Feldern entlang, mit freier Sicht über das Gewinkel der Häuser und Schuppen, ein erdiger, breit gefahrener Weg, staubiggelb im Sommer, tellergroße Pfützen später im Jahr. Zwei Mal am Tag traten ihn die Kühe fest und kahl. Das Kind lief ihn meist hinab, im Spiel, in Gedanken.
Den geheimen Weg hatten die Großen aufgegeben. Mit den Jahren hatte ihn einer der Bauern seinem Besitz zugeschlagen, als verwilderte Grenze an der Rückseite seines Hofs. Kopfhoch wucherten auf beiden Seiten Brennnesseln und verwehrten den Kindern einen Himmel voller Brombeeren.
Selbst nach einem Sommertag in der Grasmulde zwischen beißenden Blättern und dornigen Hecken waren zerkratzte Kinderbeine flinker als der lauernde Hund des Bauern.
Er streicht über Oberschenkel, Knie und Waden, über die glatte, trockne Haut und gibt sich dem Glauben hin, ohne sein Zutun habe sich nun eine Reinigung vollzogen, mit dem Schweiß sei der Schmutz aus ihm gedrungen, und diese Ruhe und Muße habe seinen Geist geklärt, von Banalem geleert – übertrieben laut stößt er den Atem aus.
Dabei gibt es keinen ernsthaften Gedanken, keine beständige Frage, die aufsteigen könnten, sobald das Alltägliche nicht weiter zerstreut. Karlsruhe erweckt in Kolja den Eindruck, als genüge es, ruhig seine Angelegenheiten zu betreiben, sieht man einmal von der Aufregung rund um den Papstbesuch ab – und diese Stimmung ist verführerisch. Wenn die Stadt schon nicht viel Spannendes zu bieten hat, warum denn nicht sich für ein halbes Jahr der Illusion überlassen, hier in der Provinz gingen die Dinge ihren rechten Gang, fernab der Krisen in der Welt.
Seine nächsten Stationen werden ihn früh genug aus dieser Enklave geistiger Trägheit vertreiben, wobei sich an seinem Zustand des Ungebundenseins so schnell nichts ändern wird. Mit dem Auszug der Kinder begann die Arbeit in wechselnden Städten und das Fehlen eines Alltags, wie ihn nur Familie schafft. Daran gewöhnte sich Kolja erstaunlich leicht und genießt es mittlerweile, dass es da niemanden mehr gibt, der mit Ansprüchen auf ihn warten könnte, Abend für Abend nach der Heimkehr aus dem Büro.
Kolja richtet sich auf, das Handtuch rutscht von den Hüften. Er lässt es zu Boden fallen und tritt darauf. Die Fußbodenkacheln sind unangenehm heiß.
Hier in Karlsruhe verschränkt es sich in seltsamer Weise, ein harmloses Umfeld und dazu keinerlei private Scherereien. Beides fehlt, Freunde und Bekannte mit den üblichen Sorgen und Nöten, und ebensowenig sind Kolja bislang Brüche oder Kerben im Stadtbild vor Augen geraten.
Aus anderen Städten kennt Kolja trostlose Viertel, mit seit langem aufgegebenen Fabrikhallen, Fenster und Türen mit Latten vernagelt, und Gebäuden, die unaufhaltsam der Rückkehr der Natur erliegen, Unkraut aus zerbrochenen Fensterscheiben und Efeu über eingefallenen Dächern. Im Umkreis der Stadt will man hier weder Gebäude noch Plätze der Verwahrlosung überlassen.
Es fühlt sich an, als zöge Karlsruhe einen Rand um sein Leben, einen leeren Streifen, der Woche um Woche breiter wird, dabei gibt es doch nichts in dieser Stadt, wozu Kolja Abstand schaffen, wovor er sich schützen müsste.
Zwei Mal hat Simona ihn in der vergangenen Woche angerufen um ihn einzuladen, sie auf ihren Stadterkundungen zu begleiten. Sie trägt es ihm zu offensichtlich an, als dass er diesen Wunsch erfüllen wollte.
Die Rezeption ist leer, Fernsehstimmen verraten die Anwesenheit des Abendportiers im Nebenzimmer. Mit einem Knopfdruck öffnet Kolja die Tür, geräuschlos gleiten die Glasscheiben zur Seite.
Während des kurzen Heimwegs begegnet ihm niemand auf der Straße. Kolja sieht in erleuchtete Zimmer. Geschwungene Lampen, bunt gefüllte Bücherregale, Landschaftsbilder und Fernsehflimmern, Zeichen der Geborgenheit am Abend, wenn alles getan ist und zwischen Eheleuten belanglose Sätze fallen, zu nichts weiter gut, als sich gedankenlos der jahrzehntelangen Vertrautheit zu versichern.
Immer wieder irritiert es Kolja, dass Leute dazu imstande sind, sich zwei, drei Stockwerke über Kneipen, Lokalen und Einkaufsläden ihr eigenes Leben einzurichten, unberührt von dem Treiben unter ihnen. Keine Stunde lang könnte sich Kolja einer Arbeit oder bloß einem Buch widmen, stiege zugleich der Lärm von Musik, klapperndem Geschirr oder lauten Gästen zu ihm auf.
In anderen Städten war es Kolja nicht aufgefallen, dass Gasthäuser und Kneipen sich zum größten Teil auf den überschaubaren Bereich in der Stadtmitte beschränken, innerhalb der Grenzen von Karlsruhes früheren Stadttoren. Gleich dahinter beginnen gediegene, gutbürgerliche Viertel.
Wie in Frankfurt, nur ein paar Schritte entfernt vom Bahnhof, hat Kolja hier eine Wohnung gefunden. Statt auf Züge und Gleise öffnen die beiden Fenster in seinem Zimmer die Sicht auf einen stillen Innenhof. In seiner Mitte eine große Rasenfläche, umringt von alten Kastanien und einem breiten, hellen Sandweg an allen Seiten. Bänke stehen dort unten, Spielgeräte und für die Jugendlichen eine Tischtennisplatte.
An den Wochenenden, an denen Kolja bislang tagsüber zuhause war, lag der Platz wie ausgestorben da. Wahrscheinlich haben die Kinder, deren Eltern vor Jahren die Einrichtung des Spielplatzes in Gang brachten, dieses Wohnkarree längst verlassen. Im Eingangsflur und auf der Treppe ist Kolja ein paar Mal älteren Leuten begegnet und Nomaden von seiner Sorte.
Zwei hohe Eisentore an den beiden Längstseiten des Karrees versperren mit Beginn der Dunkelheit Fremden den Zugang zu dem Hof.
Kolja hält inne, lehnt sich an das Tor und sucht mit den Augen tief in dieses Schwarz einzudringen. Hunderte von Menschen schlafen nun in den Zimmern in den Wohnungen in den vier Seiten des Karrees. Gäbe es einen Ort, der stumm umfasste, wovon die Schlafenden sich nun endlich lösen in der Nacht, könnte es dieser verlassene, finstere Hof sein, in dem es niedersänke, zur Ruhe käme, dieser unentwirrbare Rest, den man am Ende des Tages mitnimmt in den Schlaf.