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ОглавлениеDie Kunsthalle
Simonas Sohn öffnet die Tür. Stöpsel baumeln von seinen Schultern, auch ansonsten enttäuscht er nicht hinsichtlich der üblichen Attribute eines knapp Neunzehnjährigen. Die Haare fallen tief in die Stirn, bis über die halb geschlossenen Augen, am Kinn ein weicher, dunkler Flaum, die Hose hängt tief unter den Hüften, und ein lapidares „’n Abend, da geht’s lang!“ weist Kolja den Weg.
Da packt ihn der Übermut, mehr aus dem Kerl herauszuholen.
„Guten Abend. Mein Name ist Kolja. Was hörst Du denn gerade?“
Mit dem Kinn weist Kolja auf die Stöpsel, in dem Jungen pfeift alles zur Abwehr.
„Kennen Sie nicht.“
Mehr wird er nicht sagen.
„Und Du spielst Tennis?“
Koljas Blick springt zu dem Schläger in einer Hülle, die hinter dem Jungen zwischen Stiefeln und Regenschirmen klemmt.
„Nö, der gehört Fritz!“
„Und Du, machst Du was Richtung Sport?“
„Ich schwimme.“
„So richtig, ich meine wettkampfmäßig in einem Verein?“
„Ja.“
„Und, bist Du gut?“
„Bin zufrieden.“
„Lucca heißt Du, stimmt’s?“
„Perfekt.“
Nach wie vor steht Kolja auf der Schwelle der Tür, der Junge hält den Griff in der Hand.
„Machst Du auch Musik?“
„Waren Sie früher mal Vertreter oder was?“
Kolja grinst.
„Nicht schlecht! Nein, kein Vertreter, wollte Dich bloß kennenlernen.“
„Hätte ich dann einfach gesagt, an Ihrer Stelle.“
„Du kannst mich ruhig duzen!“
Jetzt grinst der Junge.
„Ach, ich bin etwas scheu bei Fremden.“
Einverständnis umschließt die beiden, Lucca tritt zur Seite und Kolja in den Flur.
„Willst jetzt sicher mein Zimmer checken, was?“
Für das Kind, als das ihn alle noch bis vor vier, fünf Jahren nahmen, hat Lucca einen riesigen Seehund am Kopfende des Bettes liegen lassen. Dessen breiter Rücken dient ihm offenbar als Kissen. Seine Kinderbücher füllen ein ganzes Regalbrett, werden gehalten von einer hohen, weißen Kerze mit einer senkrecht verlaufenden Inschrift in roten Wachsbuchstaben. An der Wand zwei dunkle Poster mit Gitarre spielenden Jungs, jede Menge Auszeichnungen für gewonnene Turniere und eine Weltkarte mit leuchtend roten Markern drauf.
„Warst Du da überall schon?“
„Nö, aber da will ich hin.“
„Ja, kann ich Dir nur zu raten, die Welt anzuschauen.“
„Meine ich nicht. Da werden überall geile Gebäude von mir stehen, ich werde mal Architekt!“
In Koljas Rücken betritt Simona das Zimmer und das Gespräch bricht ab.
Gegenüber einem anderen als Fritz hätte es den Beginn des Abends vermutlich eher beschwert als in Schwung gebracht, dass Kolja gerade gelang, was dem Hausherrn seit Monaten verwehrt ist, das Zimmer des Sohnes seiner Freundin zu betreten.
Fritz nimmt es als erneute Bestätigung. Mithin hat Kolja nicht nur gleich an diesem ersten Abend seine eigene Neugierde gereizt und tags darauf mit Simona einen schönen Sonntagmittag verbracht, sondern sogar Lucca auf Anhieb für sich gewinnen können.
Wie er mit den Flaschen seiner Bar an dem Nebentisch hantiert und guter Laune diese und jene Anekdote zum Besten gibt, trägt Fritz es zur Schau, seinen Stolz darauf, dass dieser Fremde heute Abend mit am Tisch sitzt. Kolja ist noch unentschieden, wer von beiden es angetrieben hat, ihn einzuladen, und welche Absicht Fritz oder Simona oder die beiden im Einverständnis miteinander damit verfolgen.
Ein weiteres Ehepaar wurde eingeladen, vermutlich aus Sorge, für alle Fälle genügend interessanten Gesprächsstoff bereitzuhalten. Oder hat Kolja diese beiden Simona zu verdanken, ihrer Scheu, Fritz und ihm alleine gegenüberzusitzen?
Ein Mann Anfang sechzig, der es zu was gebracht im Leben, trotz oder wegen seiner knorrigen, alles andere als jovialen Haltung. Unverhohlen mustert er Kolja, mit einer ihm wahrscheinlich zur Gewohnheit gewordenen Selbstgefälligkeit, nach jahrelanger Taxierung seiner Mitarbeiter. Die Frau an seiner Seite schiebt derweil das Besteck rund um ihren Teller hin und her. Was sie anfangs an ihm bewunderte, seine unzugänglich-herbe Männlichkeit, wird sie seit Jahren abzudämpfen wissen, in vermittelnden Gesprächen mit den Kindern und seinen Angestellten. Es lohnte nicht, ihm gegenüber darüber ein Wort zu verlieren oder gar einen Streit zu riskieren.
„Friedel und Eva, unsere Nachbarn“, so wurden sie Kolja von Fritz vorgestellt.
Kaum sind die Teller abgetragen, setzt Friedel das Thema, als setze er es auf den leeren Tisch. Es wird sich bald erschöpft haben, nach ein paar lapidaren Sprüchen, schon allein, um den stummen Gast nicht zu langweilen. Koljas Blick schweift durch das Zimmer. Großformatige Kunst aus Afrika, in dunklen, erdigen Farben, dazwischen einige streng stilisierte schwarz-weiße Masken. Vom Boden wachsen Stapel von Büchern die Wände hoch, Simona wird sie angeschleppt haben.
Friedel lässt seine Hand auf die Tischplatte fallen, Kolja schreckt auf.
„Das wird den Leuten erst die Augen öffnen, was der Staat für die Kirche zahlt, wenn sie es so weit treiben, dass die Stadt für die Kosten aufkommen soll.“
Friedel schnauft.
„Das läuft hier nicht, Fritz. Das winken die Karlsruher nicht einfach durch, wenn die Stadt den ganzen Aufwand für diesen Ein-Tages-Besuch bezahlen soll! Nach Plan verbringt der im Ganzen keine vollen vier Stunden hier.“
„Sie werden es zum Staatsbesuch erklären, und schon sind sie fein raus, immerhin reist er ja auch als Oberhaupt des Vatikans an.“
Simona seufzt, sieht Kolja entschuldigend an und fasst Fritz am Arm.
„Vielleicht sollten wir Kolja ...“
„Ja, klar, aber das wissen Sie doch sicher mittlerweile, dass es Leute gibt hier in der Stadt, wie Friedel, die nicht einsehen wollen, warum die Karlsruher für diesen Besuch eine Menge Geld bezahlen sollen, wo tatsächlich andere, sinnvollere Aufgaben warten, für die der Stadt seit Jahren die Mittel fehlen.“
Fritz wendet sich wieder Friedel zu, mit einem Lächeln, das ein starrsinniges Kind begütigen würde.
„Und was sagst Du dazu, dass es mittlerweile eine Bürgerinitiative gibt, die auf dem Turmberg ein Windrad aufstellen will, mit Engelsflügeln, um den Papst angemessen zu begrüßen?“
„Wie, für immer, zur Stromerzeugung oder was?“
„Klar, und zur ewigen Erinnerung an den Besuch des Papsts.“
„Früher waren es die Kreuzzüge, diese Christen können wohl nicht anders als gewaltsam zu missionieren.“
Friedel wischt sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn, in diesem Augenblick beugt sich Simona über den Tisch. Dieselbe Goldkette, wieder fällt sie von ihrer Brust hinab, und das Leuchten der Kerze funkelt darin.
„Kolja muss ja denken, außer dem Papst hätten die Karlsruher keinen Geprächsstoff mehr.“
Fritz legt seine Hand beschwichtigend auf Simonas Arm. Die Bewegung fängt Koljas Blick, wie dessen kurze, breite Finger den schmalen, sehnigen Arm umschließen – in diesem Moment sieht Fritz zu ihm auf.
„Nun, dann erzählen Sie doch mal! Wir können das Papst-Thema ja weiter fassen, ich meine, kunsthistorisch betrachten. Sie haben sich doch mit Simona „Die Geburt Christi“ angeschaut.“
„Ja, Sonntag vor zwei Wochen, und gestern war ich wieder dort, in der Kunsthalle.“
„Was, extra wegen dieses Bildes?“
„Ja, und die Kunsthalle hat ja auch sonst genug zu bieten.“
Wie konnte Kolja diese Unbesonnenheit entschlüpfen? Beide Paare sehen ihn neugierig an. Er neigt sich zurück auf seinem Stuhl und nickt ihnen zu als genügte es, mittels dieser Geste eine Erklärung bloß anzukündigen.
Simona schüttelt unmerklich den Kopf. Eine verstohlene, hilflose Warnung, wahrscheinlich ist sie die Einzige hier im Raum, die es gut mit ihm meint.
„So ist es ja oft, da steht man vor einem beeindruckenden Gemälde, könnte hunderterlei entdecken und klebt an dieser einen schwarzen Ecke, die dem Bild irgendwann verloren ging.“
„Aber allein wegen des schwarzen Flecks sind Sie doch nicht zu dem Bild zurückgekehrt, oder?“
Kolja erwidert ruhig Fritzens lauernden Blick.
„Kennen Sie das Bild?“
„Es ist mir sicher weniger deutlich als Ihnen vor Augen.“
Simona steht auf.
„Ich habe es ja hier, wartet mal!“
Sie kehrt mit ein paar Kunstkarten zurück und breitet sie aus in der Mitte des Tischs. Eva greift sich eine Karte.
„Können wir mal mehr Licht machen!“
Ein abrupter Wechsel vom Kerzen- zum hellen Deckenlicht, die blasse Haut des Christuskindes wirkt fahler, leichengrauer noch, als Kolja es in Erinnerung hatte.
„Seltsam, wie die Mienen sich gleichen, ich meine Josef und das Christuskind, dabei haben die zwei doch im Grunde nichts miteinander zu tun.“
Eva sieht fragend zu Kolja, als zeichne ihn sein zweifacher Besuch des Bildes zu dessen Fachmann aus, und sofort mischt sich Simona ein, zu Koljas Überraschung offenbar unwillig darüber, dass es ihm obliegen soll, das Gespräch neu auszurichten, kaum dass es der fachkundigen Unterfütterung bedarf.
„Sie wissen ja beide um Jesus Ende, Josef aus den Worten des Alten Testaments und das Kind als Gottessohn. Selbst Maria weiß Bescheid, auch wenn sie hier so lieblich tut. Es gibt ein anderes Bild von Hans Baldung Grien, das malte er knapp zwanzig Jahre früher, da sitzt Maria weinend unter dem Kreuz, in der gleichen Haltung, mit verschränkten Armen auf der Brust.“
„Gut, Josef und Maria bleibt ja nichts anderes als Gottes Wille hinzunehmen, aber warum guckt denn Jesus hier so böse? Am Ende fügt er sich doch brav in sein Schicksal.“
Friedel wirft einen ungeduldigen Blick in die Runde. Er schenkt sich die Mühe zu verbergen, dass Spekulationen über Kunst weitab dessen führen, was ihn Tag für Tag zu beschäftigen hat.
Fritz richtet sich auf. Dieses beständige Grinsen um die Mundwinkel, plötzlich verrät Kolja dieses Gesicht, wie es steht zwischen Simona und Fritz. Was immer er ihr gibt, den Preis wird er subtil in Erinnerung zu halten wissen. Jetzt wendet sich Fritz zu Friedel und Eva.
„Deshalb ist er doch zu den Menschen gekommen, ist einer von ihnen geworden, um ihr Leid bis um Letzten mitzutragen, um auszuhalten, was Menschen einander antun, so verstehen es die Christen.“
„Um ihnen Erlösung zu versprechen, wie Lorenz es glaubt?“
Fritzens Kopf schnellt zu Kolja. Das Grinsen um die Lippen erstarrt, von einer Sekunde zur anderen – und Fritz scheint Kolja noch tiefer entblößt. Den Kopf hält er schief, von unten sieht er Kolja an, gelblich-fahl wirkt im Licht der Lampe seine Haut.
„Damit den Opfern der Nazis endlich Gerechtigkeit widerfährt, meinen Sie das?“
Mit demselben Tonfall könnte Fritz von einem spannenden Buch oder einem interessanten Film reden – kaum vorstellbar, womit man diesen Mann packen könnte.
„So hat es doch Lorenz gesagt.“
„Ja, so hat er es gesagt.“
Simona schiebt ihren Stuhl laut an den Tisch.
„Da sind wir uns doch einig, dass Gott nicht gutmachen kann, was wir Menschen zu verantworten haben, an Leid und Unrecht. Was Lorenz sich da zurecht legt, das nimmt doch keiner mehr ernst.“
„Lass mal, Simona!“
Eine weiße Serviette ist während des Essens zu Boden gefallen. Fritz hebt sie auf, breitet sie aus auf dem Tisch und streicht den Stoff glatt, nach allen vier Seiten.
„Das steht ja außer Frage, Lorenz sieht die Sache viel zu eng und verbohrt. Dem sucht ja selbst die Kirche auszuweichen, der Frage nach dem Jüngsten Gericht und der Erlösung am Ende aller Tage.“
Er bricht seine Rede ab und lässt den Blick über die Runde schweifen, als wolle er allen einen Moment lang Zeit lassen, sich darauf einzustimmen, dass sie nun etwas hören sollen, was sie von ihm, ihrem Fritz, bislang kaum erwartet hätten. Vor Gericht wird Fritz kaum weniger geschickt agieren, Pathos wahrscheinlich feiner dosieren. Kolja legt sein Gesicht in beide Hände, als wolle er jedes Wort von Fritzens Rede aufmerksam bedenken.
„Jesus überhaupt, ja das Christentum, da scheinen mir die Projektionen der Menschen zu deutlich durch, die machen mir Gott zu klein. Wie sich die Juden Gott denken, das scheint mir viel überzeugender. Wir fügen uns Gottes Entschluss, ohne zu wissen, was er vorhat mit uns.“
Kolja hebt den Kopf. Keiner am Tisch weiß es einzuschätzen, wohin Fritz zielt mit seinem Bekenntnis. Denn dass er eine Strategie verfolgt oder sich bloß ein Spielchen erlaubt, das ist offenbar. Da redet keiner, der mit Glaubenszweifeln ringt.
Wie hilflos Simona sich fühlt, doch als Gastgeberin verantwortlich für gute Stimmung am Tisch, verrät Kolja der flüchtige Griff in ihr Haar. Sie löst ihren Zopf, neigt den Kopf zur Seite und sieht Kolja von unten an, mit der Bitte, es gut sein zu lassen.
Hey, wir zwei, wir waren uns doch so nah, im Schlosspark, hey, lass mich doch jetzt nicht im Stich, hilf mir doch hier raus – Kolja irritiert die Blöße in diesem Blick, ihr Vertrauen auf ein Einverständnis, das Kolja nie mit ihr geteilt, ihr nie versprochen hat. Mit der linken Hand presst sie das Haar an ihre Schläfe, nur um es im nächsten Moment wieder offen fallen zu lassen, als hätte nichts einen Sinn, stünde ihr Kolja nicht bei.
Vor vielen Jahren ein Familienpicknick am Fluss, da lief sein jüngster Sohn auf das Wasser zu, lief hinein und Koljas Vater sprang auf und schnappte den Kleinen, bevor er mit dem nächsten Schritt den Boden unter den Füßen verloren hätte, und Kolja hatte alles gesehen, das Unglück kommen gesehen und sich nicht gerührt, dabei mehr erstaunt als erschrocken darüber, über die eigene, völlige Unfähigkeit, aufzuspringen und ins Wasser zu stürzen. Noch als sein Vater ihm das Kind in den nassen Kleidern in den Arm legte, hing Kolja dieser Verwunderung nach, dass es tatsächlich auf ihn angekommen wäre.
Es gibt einige solcher Situationen, von denen Kolja erinnert, dass es an ihm gelegen hätte, sie zu retten oder bloß schnell in die eine oder andere Richtung zu wenden, zumindest erwarteten genau dies die Umstehenden von ihm, sahen Kolja an – in Koljas Augen, als stünde da noch einer hinter ihm.
„Ist es denn in Ordnung, Fritz, Jesus gegen die Juden auszuspielen? War er nicht der letzte jüdische Prophet, so habe ich es immer verstanden?“
Das Ehrliche ihrer Frage löst unverhofft die Spannung am Tisch, Eva selbst scheint es am wenigsten zu spüren.
„Das Christentum begann ja sozusagen erst nach ihm, Jesus selbst kommt doch ganz klar aus dem jüdischen Gottesgedanken.“
Friedel betrachtet seine Frau von der Seite, in einer verlegenen Mischung aus Überraschung und Stolz, und sofort schnappt Simona nach der Gelegenheit.
„Bevor es ganz historisch-theologisch wird, wer hätte denn noch Lust auf einen Kaffee oder einen Espresso?“
Friedel scheint nicht gewillt, sich den Auftritt seiner Frau so abrupt beschneiden zu lassen.
„Worum geht es jetzt eigentlich, ich meine, worüber streitet Ihr zwei denn, Du und Fritz?“
„Wir streiten doch nicht, Eva hat natürlich Recht. Das Christentum beginnt nicht mit dem historischen Jesus, sondern mit dem Bild, das seine Nachfolger von ihm schafften.“
Das Raunend-Beschwörende ist von ihm abgefallen, hat Evas offenherziger Rede nicht Stand gehalten. Fritz faltet die ausgebreitete Serviette zu einem kleinen Päckchen und steckt es in die Hosentasche.
„Tod und Auferstehung, das war ja die Sensation, das machte ihn zum Gottessohn und verwandelte den Kreuzes- in einen Opfertod, und damit zur Erlösung. Im Tod nahm Jesus alle Sünden auf sich, und da liegt für mich der Bruch. Den Graben will ich nicht übertreten.“
Fritz richtet sich auf, ganz der Gastgeber, der freundlich und bestimmt das Gespräch beendet, mit einem Blick, einem Nicken hin zu Kolja, um den Fremden nicht im Zweifel zu lassen – genug der Bekenntnisse.