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Der Mann im Zug
ОглавлениеDas ganze Jahr verbrachte er in seiner Wohnung, ging einkaufen, aß und trank und was man sonst noch so macht. Doch heute war der Tag da, an dem er mit der Eisenbahn fahren wollte. Denn einmal im Jahr gönnte er sich dieses Vergnügen.
Er legte seine besten Kleider an: die graue Hose, das weinrot gestreifte Hemd und das blaue Sakko. Darüber zog er den beigen Mantel und band den rosa Schlips um, den er für besondere Gelegenheiten bereithielt.
Um nicht so sehr unter den anderen Menschen aufzufallen, die oft Zug fuhren, kaufte er sich eine Zeitung am Bahnhofskiosk. Immer wieder sah er im Fernsehen Leute Zeitung im Zug lesen, und er wollte nicht als einer gelten, der nur einmal im Jahr mit der Bahn fuhr!
Am Bahnhof angekommen, begab er sich gleich auf den betreffenden Bahnsteig. Er beabsichtigte, den Zug nach Dortmund zu nehmen. Der kam bald und er stieg ein. Er bekam einen Platz gegenüber zwei jungen Männern, die miteinander sprachen. Beide trugen dunkle Hosen und hatten Lederjacken an. Es handelte sich um Bürger ausländischer Herkunft, die sich in einer ihm fremden Sprache unterhielten, die er nicht verstand.
Er wollte die Zeitung lesen, hatte aber in der Eile vergessen, seine Brille mitzunehmen. So las er nur die Überschriften. Das und das ungewohnte Bahnfahren strengte ihn jedoch so sehr an, dass er einnickte und erst kurz vor Bochum wach wurde, als der Zug über einige Weichen fuhr.
Innerlich war er ein wenig wütend, denn vielleicht war ihm etwas entgangen. In früheren Zeiten hatte er interessante Gespräche mit anderen Reisenden geführt!
Die beiden jungen Männer saßen ihm immer noch gegenüber und schienen auch nicht zu beabsichtigten, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Sie schauten eher teilnahmslos vor sich hin. So blickte er wieder in seine Zeitung, die ihm auf die Knie gerutscht war.
Schon bald erreichte der Zug Dortmund Hauptbahnhof. Er stieg aus, um sich noch ein bisschen in der Stadt umzusehen und genug Eindrücke für das anstehende Jahr zu sammeln. Die beiden jungen Männer fuhren weiter.
In ein paar Stunden wollte er wieder zurückkehren und so begab er sich in die Innenstadt. Dort schaute er sich die Schaufenster an. Was es da alles Neues gab; Dinge, von denen er eigentlich nichts verstand. Da gab es Handys, über deren Preise er staunte. Für einen Euro war so ein Ding schon zu haben! Wie machten es die Anbieter nur, für fast nichts ein solches Gerät zu verkaufen, überlegte er. Und dann im Gegensatz dazu die teure Kleidung in den Auslagen!
Er kam an einem Schaufenster mit Fernsehgeräten vorbei. Wie die Geräte heutzutage aussahen, überlegte er. Sie waren flach wie ein Zeichenbrett. Wenn er an seines zu Hause dachte, das war sperrig und klobig. Und er besaß es schon über zwölf Jahre!
Mit diesen Gedanken langte er am Bahnhof an. Er musste noch zehn Minuten warten bis sein Zug kam, denn der hatte Verspätung. So bat er einen anderen Reisenden, ihm einen Becher Kaffee aus dem Automaten herauszulassen. Er kam mit diesen Dingern nicht klar! Er gab dem anderen das passende Geld, der es einwarf und nach seinen Wünschen wählte. Dann hielt er einen Plastikbecher mit dem Getränk in der Hand, welches er schluckweise trank, denn es war sehr heiß. Aber es wärmte bei den kalten Außentemperaturen und tat gut!
Dann fuhr der Zug ein, und er stieg ein. Der Waggon war fast leer. Nur ein paar einzelne Reisende saßen da, und er setzte sich, da so viel Platz war, dazwischen.
Seine Heimreise verlief ohne besondere Vorkommnisse, denn die Leute schwiegen oder telefonierten mit ihren Handys. Er traute sich nicht, ein Gespräch mit ihnen anzufangen, denn sie saßen alle zu weit entfernt. Und sie machten auch nicht den Eindruck, dass sie sich unterhalten wollten.
Aber als er wieder zu Hause war, beschloss er, öfter einmal wegzufahren. Man versäumt so viel, dachte er, und das Leben ist doch so kurz!
Veilchen im Oktober 2007, Ausgabe 19
Karl Farr