Читать книгу Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft - Andrea Leskovec - Страница 7

I. Was ist interkulturelle Literaturwissenschaft?

Оглавление

Interkulturelle Literaturwissenschaft

Eine Definition der interkulturellen Literaturwissenschaft liefert der deutsche Literaturwissenschaftler Norbert Mecklenburg in seinem im Jahre 2008 erschienenen Standardwerk Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft „Interkulturelle Literaturwissenschaft gab und gibt es überall dort, wo Literaturwissenschaftler bei ihrer Arbeit Kulturunterschiede bedenken und über Kulturgrenzen hinausdenken“ (Mecklenburg 2008, 13). Diese zunächst sehr weit gegriffene und noch zu differenzierende Definition beschreibt ganz allgemein eine Forschungssituation, die sich aufgrund der unterschiedlichen Kulturzugehörigkeit ihres Gegenstandes (fremdsprachige Literatur) und ihrer Forschersubjekte mit Kulturunterschieden und Kulturgrenzen konfrontiert sieht. In den unterschiedlichen nationalen Literaturwissenschaften und der Komparatistik haben sich dementsprechend Forschungsrichtungen entwickelt, die aber keinesfalls als voneinander isoliert betrachtet werden können, da sich ihre Ansätze, Ziele und Methoden immer wieder überlagern. Zu den wichtigsten Forschungsrichtungen gehören die interkulturelle Germanistik, die besonders für den angloamerikanischen Raum charakteristische postkoloniale Literaturtheorie, der französische Diskurs der litterature decentrée und die Komparatistik.

Interkulturelle Germanistik

Die interkulturelle Germanistik hat sich in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Teilbereich der Germanistik etabliert. Sie erforscht international und interdisziplinär Interkulturalitätskonzepte und versteht sich als Schnittstelle zwischen Muttersprachen- und internationaler Germanistik. Gerade das Fach Deutsch als Fremdsprache (DaF) wird in diesem Rahmen aufgewertet, da es als Ort der Kulturbegegnung und -überschneidung verstanden wird. Alois Wierlacher, Begründer und prominentester Vertreter der interkulturellen Germanistik, definiert diese als „germanistische Fremdkulturwissenschaft mit Eigenschaften einer vergleichenden Kulturanthropologie“ (Wierlacher 2003a, 1). Der Begriff ‚Interkulturelle Germanistik‘ ist ein transdisziplinärer Fachbegriff, ihr Forschungsinteresse liegt in der Außenperspektive auf die deutsche Kultur und in der Erforschung ihrer Rezeption, wobei sie mindestens fünf verschiedene wissenschaftliche Diskurse umfasst: Sprachwissenschaft (Sprachforschung und Sprachlehrforschung), Literaturwissenschaft (Literaturforschung und Literaturlehrforschung), kulturwissenschaftliche Landeskunde, kulturwissenschaftliche Xenologie und Kulturkomparatistik. Als konzeptuelles Hauptwerk der Forschungsrichtung gilt das Handbuch interkulturelle Germanistik (Wierlacher/Bogner 2003), das neben einer Bibliografie zur Konstitutionsgeschichte und Theoriebildung interkultureller Germanistik Forschungsbeiträge versammelt, die für die Konzeptualisierung und Begründung von Theorie und Grundbegriffen der interkulturellen Germanistik ausschlaggebend waren. Gemäß des Selbstverständnisses der interkulturellen Germanistik, sowohl transdisziplinär als auch transnational zu sein, bietet das Handbuch Überlegungen zu den Bereichen interkulturelle Philosophie, interkulturelle Wissenschaftstheorie, interkulturelle Kommunikation, internationale Beziehungen, Kulturpolitik, Menschenrechte, Rechtskultur, Ökonomie u.a. sowie zu länderspezifischen Ansätzen der interkulturellen Germanistik.

Im Bereich Literaturwissenschaft ist der Forschungsgegenstand der interkulturellen Germanistik die deutschsprachige Literatur, genauer, deren Rezeption und Interpretation in fremdkulturellen Kontexten. Neben Alois Wierlacher gehören Dietrich Krusche, Horst Steinmetz, Norbert Mecklenburg, Eberhard Scheiffele und Harald Weinrich zu den theoretischen und methodologischen Begründern des Fachs im deutschsprachigen Raum, die mit grundlegenden Texten eine Forschungsbasis geschaffen haben.

Von der interkulturellen Germanistik als Forschungsbereich mit eigener Studienrichtung, wobei am bekanntesten und einflussreichsten die Interkulturelle Germanistik an der Universität Bayreuth ist, ist die Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GIG) abzugrenzen, ein Forscherverband, der mit zahlreichen Tagungen und Publikationen ein internationales Forum für Germanisten bietet. Die Begriffe ‚interkulturelle Germanistik‘, ‚interkulturelle Literaturwissenschaft‘ und ‚interkulturelle Hermeneutik‘ werden häufig synonym verwendet, lassen sich jedoch differenzieren. Interkulturelle Germanistik wird meistens mit dem Fach Deutsch als Fremdsprache verknüpft, aus dem sie sich entwickelt hat, und ist als übergreifender Forschungsbereich innerhalb der Germanistik zu verstehen; interkulturelle Literaturwissenschaft wird dagegen mit der kulturwissenschaftlichen Wende in den Geisteswissenschaften konnotiert, und interkulturelle Hermeneutik beschäftigt sich mit interkulturellem literarischem Verstehen.

Postkoloniale Perspektive

Mit postkolonialer Perspektive oder Kritik bezeichnet man allgemein die Kritik am Kolonialismus, in einem engeren Sinne die postkoloniale Literatur- und Kulturwissenschaft, die sich in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts besonders im anglo-amerikanischen Raum entwickelt hat und mittlerweile auch die germanistische interkulturelle Literaturwissenschaft beeinflusst. Herausragende Theoretiker der postkolonialen Studien (postcolonial studies) sind Edward Said, Homi K. Bhabha und Gayatri Spivak, wobei besonders die ersten beiden in der germanistischen interkulturellen Literaturwissenschaft rezipiert werden. Ausschlaggebend sind dabei Bhabhas Konzepte der Hybridität, des dritten Raums und der Mimikry, die er in seinem Hauptwerk The location of culture (1994; dt. Die Verortung der Kultur 2000) entwickelt hat und die auf die besondere Stellung des postkolonialen Subjekts als ein hybrides Subjekt verweisen. Hybride Strukturen kennzeichnen auch den „dritten Raum“, womit der hybride Seinsstatus postkolonialer, hybrider Subjekte bezeichnet wird. Dieser Ort ist nicht nur buchstäblich zu verstehen, sondern auch und vor allem als Raum des Aushandelns, in dem „die diskursiven Bedingungen der Äußerung, die dafür sorgen, daß die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festgelegt sind und daß selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können“ (Bhabha 2007, 57). Mit Mimikry wird ein Prinzip bezeichnet, das den kolonialen Diskurs dekonstruiert, indem er durch „Imitation des postkolonialen Sprechens […] dessen Schwachstellen und innere Widersprüche“ (Hofmann 2006, 30) aufdeckt.

Als einer der Gründungstexte der postkolonialen Studien gilt Edward Saids Buch Orientalism (1978; dt. Orientalismus 1981), in dem er auf die Problematik der Konstruiertheit westlicher Orientbilder aufmerksam macht. ‚Orientalismus‘ bezeichnet einen Herrschaftsdiskurs, der den Anderen als unterlegenes Subjekt konstruiert, um den Herrschaftsanspruch des Westens zu stärken. Der eurozentrische Blick auf den Orient (oder auch auf den Balkan und Afrika) drückt nicht nur das Überlegenheitsgefühl des westlichen Abendlandes aus, sondern konstruiert die Dichotomie von zivilisiertem Okzident und mysteriösem und bedrohlichem Orient und unterstützt damit die Stereotypisierung des Anderen.

Die beiden theoretischen Ansätze werden innerhalb der germanistischen interkulturellen Literaturwissenschaft zwar reflektiert (vgl. Hofmann 2006, 27–36, und vgl. Mecklenburg 2008, 270–286), sind jedoch in der Forschungsarbeit, die stärker von den Konzepten der interkulturellen Germanistik beeinflusst ist, weniger präsent als im anglo-amerikanischen Raum. Dies lässt sich u.a. damit begründen, dass der Kolonialismus in der deutschen Geschichte eine immer noch bescheidene Position einnimmt und auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte zögernd in Gang kommt. Mit dem Terminus ‚postkoloniale deutschsprachige Literatur‘ lassen sich nach Hofmann Texte bezeichnen, die einerseits die Kolonialgeschichte des deutschen Kaiserreiches reflektieren und andererseits thematisieren, „dass die interkulturelle Begegnung mit Afrika für die Europäer und damit auch für die Deutschen eine Selbstreflexion über ihr eigenes Selbstverständnis, über ihre anthropologischen Überzeugungen und die Fassung ihres Verhältnisses zur inneren und äußeren Natur darstellt“ (Hofmann 2006, 171). Als Beispiel für postkoloniale deutschsprachige Literatur in diesem Sinne kann Uwe Timms Roman Morenga (1978) gelten, der aus der Sicht der deutschen Kolonialherren einen Aufstand der Herero und der Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) schildert (vgl. Hofmann 2006, 170–177). Zur deutschen postkolonialen Literatur zählen auch Texte, die sich mit Kolonialismuskritik auseinandersetzen, das Bild des Anderen reflektieren oder deutschsprachige Texte von Autoren oder Autorinnen aus den ehemaligen Kolonialländern, wie z.B. die postkoloniale Literatur in Namibia (vgl. Mecklenburg 2008, 280–286).

Litterature décentrée

Der Begriff litterature décentrée geht auf den Begriff der Dezentrierung zurück, der als Verschiebung oder Diskrepanz innerhalb einer nationalen Literatur verstanden wird, und zwar aufgrund des kulturellen Standortes der Autoren. Es handelt sich dabei um Autoren, die meist als Nachkommen von Einwanderern in einer oder mehreren Kulturen aufgewachsen sind, die also der Kultur, in der ihre Werke erscheinen, gleichzeitig fremd und zugehörig sind. Der Begriff, der sich im frankophonen Sprachraum für dieses literarische Phänomen durchgesetzt hat, beschreibt gleichzeitig einen literaturwissenschaftlichen Diskurs, der sich in besonderem Maße mit dem Phänomen der Kreolisierung auseinandersetzt. Im deutschsprachigen Raum hat sich insbesondere der österreichische Literaturdidaktiker und Friedensforscher Werner Wintersteiner mit diesem Ansatz beschäftigt (vgl. Wintersteiner 2006a, 2006b).

Komparatistik

Die komparatistische Arbeit kann per se als interkulturelle Tätigkeit angesehen werden, denn sie untersucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Literaturen verschiedener Kulturen in grenzüberschreitender Perspektive. Sie ist interkulturell ausgerichtet, d.h. sie betrachtet literarische Phänomene wie Stoffe, Themen, Gattungen oder Epochen und Literaturtheorie im internationalen Vergleich. So spricht Zima beispielsweise von der interkulturellen Beschaffenheit der Komparatistik als einer Metatheorie (vgl. Zima 2003, 562), und neuere Ansätze aus dem Bereich der Komparatistik betonen, dass literarische Texte als „Werke der Interferenz“ (Noll 2005, 142) verstanden werden, in denen sich internationale, intellektuelle und historische Überlagerungen nachweisen lassen. Literarische Texte werden in der interkulturellen Perspektive der Komparatistik nicht mehr ausschließlich als Repräsentanten bestimmter Sprach- oder Nationalkulturen aufgefasst, sondern im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen genau jene Verflechtungen und Überlagerungen, die den Text als „Schnittstelle sich überlagernder Bedeutungsstrukturen und Beziehungsnetze unterschiedlich codierter kultureller Herkunft“ (ebd.) zeigen. Texte werden als interkulturelles Phänomen verstanden, und zwar nicht nur aufgrund der in der Regel grenzüberschreitenden Rezeption, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sie Grenzen aufheben, wie die Grenzen zwischen Sprachebenen, zwischen kulturellen Sphären oder zwischen Ästhetiken. Darüber hinaus orientiert sich die komparatistische Arbeitsweise auch an der Kulturbedingtheit literarischer Texte. Insofern vertritt sie die Ansicht, dass die Methode des Vergleichs nicht nur Aufschlüsse über literarische Texte zulässt, sondern gleichzeitig auch Rückschlüsse über die jeweiligen Kulturen, über die soziokulturellen Entstehungskontexte, Wechselwirkungen und Ähnliches.

Interkulturelle Imagologie

Einen besonderen Bereich interkulturellen komparatistischen Arbeitens bildet die interkulturelle Imagologie, die in der Komparatistik auch als interkulturelle Hermeneutik bezeichnet wird. Sie beschäftigt sich mit nationalen Fremd- und Selbstbildern in der Literatur und untersucht deren Entstehung, Entwicklung und Wirkung. Dabei kann die andere Kultur als stoffliches Element im literarischen Text in Erscheinung treten (Thema oder Motiv), als textueller Bestandteil (intertextuelle Bezüge) oder als sprachliche Komponente, was beispielweise bei der literarischen Übersetzung der Fall ist, die einen gesonderten Forschungsbereich innerhalb der Komparatistik bildet und die Auswirkungen von Übersetzungen auf die Rezeption reflektiert.

Erweiterte Definition von interkultureller Literaturwissenschaft

Liest man als fremdkultureller Leser, so der terminus technicus, der sich innerhalb der interkulturellen Literaturwissenschaft für diese spezifische Lesesituation durchgesetzt hat, einen Text aus einer anderen Kultur, so stößt man zunächst auf eine zweifache Fremdheit: die fremde Sprache und die fremde Kultur. Diese Ausgangssituation führt gerade im Fremdsprachenunterricht häufig dazu, dass literarische Texte aufgrund ihrer Fremdsprachigkeit einerseits zum Spracherwerb genutzt werden und andererseits als „Behälter“ für Informationen über die andere Kultur, wobei gerade anspruchsvolle Texte oftmals keinen Platz im Unterricht finden, da sie als zu „schwierig“ empfunden werden. Dieses Verfahren im Unterricht wird als Instrumentalisierung literarischer Texte zu fremdsprachlichen bzw. landeskundlichen Zwecken bezeichnet. Nun herrscht in der Forschung weitgehend Konsens darüber, dass diese Vorgehensweise im fremdsprachlichen Literaturunterricht natürlich legitim und auch notwendig ist, man allerdings hierbei noch nicht von interkultureller Literaturwissenschaft sprechen kann. Daher bedarf es einer differenzierteren Definition des Begriffs:

Aspekte der interkulturellen Literaturwissenschaft

Interkulturelle Literaturwissenschaft umfasst unterschiedliche Dimensionen, sie bestimmt sich über unterschiedliche Aspekte. Dazu gehören ihr Gegenstand, der das interkulturelle Potenzial von Literatur umfasst, ihr Gegenstandsbereich, der sich auf Literaturforschung in Theorie und Praxis außerhalb der Muttersprachendisziplin bezieht, ihre Ziele, die als das Erlernen von interkulturellen Kompetenzen definiert sind, ihre Methoden zur Literaturvermittlung und -analyse und ihre Position als kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft innerhalb der Kulturwissenschaften.

Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft

Подняться наверх