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Der 3. Oktober

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Ein vorsichtiger Blick nach draußen signalisierte Pauline, dass alles in Ordnung war. Es war erst acht Uhr, aber schon warm und es regnete nicht. Das war wichtig, denn heute traf sich die ganze Familie.

Am 3. Oktober vor 22 Jahren war Phil gestorben. Ganz plötzlich und unbemerkt und völlig alleine. Phil, mit dem sie bis dahin ihr Leben geteilt hatte, der ihr drei wundervolle Kinder geschenkt hatte und der plötzlich an Diabetes erkrankt war.

Den Mauerfall hatte Phil nicht mehr erlebt, sich aber immer gewünscht.

An jenem Dienstag war es deutlich zu warm. Im fünften Monat schwanger und stets auf Bewegung aus, nahm Pauline an diesem Tag ihren Volvo Kombi und fuhr mit Jule und Christian in den Duisburger Stadtwald. Das waren nur 35 km von Kupferdreh entfernt und sie benötigten dafür meistens nicht mehr als eine halbe Stunde Fahrt.

Die Kinder liebten es im Wald herumzutoben, dem Vogelgezwitscher zu lauschen und sich hinter den Bäumen zu verstecken. Im Herbst sammelten sie bunte Blätter und atmeten den regenfeuchten Duft des Waldes ein.

An jenem Tag glänzten die Blätter besonders schön und Jule wollte noch ein paar Federn sammeln, damit sie im Kindergarten einen Indianerschmuck basteln konnte.

Es waren Stunden vergangen bis alle wieder zu Hause fröhlich gelaunt und erschöpft eintrudelten. Als sie auf ihre Rufe „Papa“ und „Phil“ keine Antwort bekamen, fingen sie an zu suchen. Es war ausgerechnet Jule, die letztendlich ihren Papa fand. In seinem Lieblingssessel, mit einem Fotoalbum auf dem Schoß und halb zur Seite gekippt.

Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Es war ganz sicher jener Moment, an dem Jule beschloss, Ärztin zu werden. Sie war damals erst vier, aber bis jetzt wurde sie von Gedanken gequält, sie trüge eine Mitschuld am Tode ihres heiß geliebten Vaters, weil sie noch Federn sammeln wollte.

Bei der alljährlichen Familienfeier, mit Besuch an Phils Grab, hatte Jule ihrer Mutter vor zwei Jahren einen Flyer mitgebracht.

Schau mal, Mama, den Flyer habe ich bei uns in der Klinik in allen Wartezimmern ausgelegt. Die Erläuterungen der Diabetes-Stiftung sind sehr gut verständlich.“ Wahrscheinlich meinte sie damit, dass solch ein Flyer den Tod ihres Vaters damals hätte verhindern können.

***

Gegen drei waren alle eingetrudelt und machten sich auf zum evangelischen Friedhof in Kupferdreh.

Phil hatte dort oft lange vor Gräbern gestanden und der Hinterbliebenen gedacht. Er wurde dann immer sehr stumm und fragte sich, wie man wohl mit solch einem schmerzhaften Verlust fertig werden könne. Mittlerweile lag er selbst seit Jahren mitten unter ihnen. Pauline hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Phil immer alles zu erzählen, was so passiert war. Fynn und Emma fanden den unsichtbaren Opa toll und machten es ihr nach. Manchmal brachten sie ihm kleine Geschenke mit.

Als Emma plötzlich ein paar Taubenfedern aus ihrer Tasche kramte und sie Opa auf’s Grab legte, schossen Jule die Tränen in die Augen und ihre Hände fingen an zu zitterten. Johannes legte den Arm um seine Frau und küsste ganz vorsichtig ihr Ohr.

***

Am Abend des 3. Oktober fühlte sich die Wohnung von Pauline seltsam leer an. Alle waren wieder daheim.

Was ihre jüngste Tochter Sophia wohl gerade machte?

Sophia kam als einziges Familienmitglied nicht zum Familientreffen. Sie kam gar nicht zu Pauline oder ihren Geschwistern, außer an Weihnachten. Einmal im Jahr also konnte Pauline die Entwicklung von Sophia und deren Sohn Tjark verfolgen. Es stimmte sie immer traurig, wenn sie an Sophia und ihren Enkel Tjark dachte.

Ihre jüngste Tochter wurde geboren, als ihr Vater bereits tot war. Sie wurde in eine Zeit hineingeboren, in der Pauline noch nicht wieder am Leben teilnehmen konnte. Die Trauer und die Selbstvorwürfe waren noch zu stark präsent. In dieser schweren Zeit nahm Christian ihr viel ab. Obwohl er erst sechs war, half er ihr in der Küche, bereitete sogar kleinere Mahlzeiten für seine Mama und seine zwei Jahre jüngere Schwester Jule zu. Seit der Zeit hatte Pauline zu Christian und Jule ein enges Verhältnis, an dem Sophia nicht teilnehmen konnte, weil sie damals zu klein war.

Später, als Sophia laufen lernte und viel über ihren Papa erfuhr, reagierte sie stets abweisend. So blieb es bis heute. Ihr Vater hatte sich in ihren Augen heimlich davon gemacht, ehe sie ihn kennen lernen durfte.

Mit gerade mal 17, und nur noch zwei Jahre von ihrem Abitur entfernt, wurde Sophia schwanger. Es bestand durchaus die Möglichkeit, trotz der Schwangerschaft ihr Abi machen zu können. Pauline hatte sogar schon positive Gespräche mit der Schulleitung geführt, aber Sophia brach ihre Schulausbildung ab.

Augenblicklich lebte sie in einer Frauen-WG und engagierte sich bei einer Organisation gegen Atomkraft und für den Schutz gequälter Tiere.

***

Es war schon dunkel und Pauline verspürte wenig Lust, jetzt mit Karlchen durch die Straßen zu laufen. Dennoch ... wer einen Hund besitzt, der muss Gassi gehen, dachte sie. Bei jedem Wetter und auch in der Dunkelheit. Also nahm sie die Leine vom Haken und freute sich über Karlchens begeistertes Schwanzwedeln.

Draußen vor der Türe schaute sie zunächst nach links. Bei Gerda brannte Licht in der Küche. Es sah gemütlich aus. Plötzlich überfiel sie ein schlechtes Gewissen. Die E-Mobile! Aber nun war erst Karlchen dran.

Dann schaute sie nach rechts, wo inzwischen die Neuen wohnten. Auch dort konnte Pauline etwas Licht entdecken. Es schien aus den hinteren Räumen nach vorne durch bis ins Küchenfenster.

Während sie noch in Überlegungen versunken auf das Küchenfenster schaute, hörte sie plötzlich eine Art Schrei. Pauline lauschte, aber es war nichts mehr zu hören. Sie hatte sich möglicherweise geirrt. Aber nein, da war ein Wimmern, und dann der Schatten einer Frau mit abwehrenden Händen. Schemenhaft nur, im wenigen Licht der hinteren Räume. Wie ein Scherenschnitt am Küchenfenster sah die Frau aus. Und dann war alles wieder weg. Kein Licht mehr, keine Frau, kein Wimmern.

Pauline überlegte, ob sie hätte klingeln sollen. Mit Karlchen an der Leine wäre das wahrscheinlich kaum gefährlich gewesen. Aber nein, sie wollte erst einmal gründlich darüber nachdenken. Zu ungenau waren ihre Beobachtungen. Außerdem war der 3. Oktober immer stressig, weil der Friedhofsbesuch sie an die schönen Jahre ihrer Ehe erinnerte. Und an Sophia und Tjark.

Pauline ermittelt...

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