Читать книгу Auf den zweiten Blick (E-Book) - Andy Richter, Andrea Müller - Страница 10
Anerkennung in der Gleichheit: Alle haben gleiche Rechte
ОглавлениеBei der zweiten Form der Anerkennung – der «moralischen Anerkennung» – geht es um Anerkennung in der Gleichheit. Alle Schülerinnen und Schüler sind gleich im Sinn gleichberechtigter Ansprüche auf Bildungschancen, unabhängig von Faktoren wie sozialer, ethnischer, nationaler Herkunft, Glaubensüberzeugung oder Geschlecht (Helsper & Lingkost, 2002, S. 133 f.; Helsper et al., 2001, S. 32 f.).
Der Lehrplan 21 bezieht sich bei dieser Frage auf die Grundrechte, wie sie in der Bundesverfassung und in den kantonalen Volksschulgesetzen formuliert sind, und erklärt unter anderem folgende Aspekte zu Orientierungswerten der Schule: «Sie fördert die Chancengleichheit» und «Sie wendet sich gegen alle Formen der Diskriminierung» (D-EDK, 2016, S. 20).
Bislang konnte diese angestrebte Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung in den Schweizer Schulsystemen nicht vollständig verwirklicht werden. Immer wieder zeigen Forschungen, dass einzelne soziale Gruppen in ihren Bildungschancen benachteiligt werden. In den letzten Jahren waren dies vor allem Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte und tiefem sozioökonomischem Status (vgl. SKBF, 2014; 2018).
Diese ungleiche Verteilung von Bildungschancen hat viele Ursachen. Eine davon ist die Gestaltung der schweizerischen Bildungssysteme. Diese Systeme enthalten mit ihren Gruppeneinteilungen und Selektionskriterien versteckte Normalitätsvorstellungen, sodass diejenigen, die diesen Vorstellungen nahekommen, bevorzugt werden, während diejenigen, die sich davon weiter weg befinden, Benachteiligungen erfahren. Zum Beispiel besteht vielerorts die Erwartung, Eltern könnten ihre Kinder bei den Hausaufgaben unterstützen, was gewöhnlich Ober- und Mittelschichtsangehörige mit nur einem arbeitenden Elternteil und deutscher Familiensprache tendenziell bevorzugt (Dirim & Mecheril, 2010, S. 127 f.; Gomolla, 2011, S. 188). Aber auch das System der Jahrgangsklassen, die relativ späte Einschulung und die frühe und häufige Selektion in unterschiedlich anspruchsvolle weiterführende Schultypen sowie das Nichtbeachten von Mehrsprachigkeit sind Faktoren, an denen Normalitätsvorstellungen und Normalisierungstendenzen deutlich werden (Leiprecht & Lutz, 2015; Schader, 2012, S. 21; siehe auch Hintergrundinformationen, «Chancengerechtigkeit: Anspruch, Wirklichkeit und Handlungsmöglichkeiten»).
Würden angesichts dieser Systemlogik alle genau gleich behandelt, würden diejenigen begünstigt, die diesen inhärenten Normalitätsvorstellungen am meisten entsprechen. Gleiche Behandlung führt daher nicht zu gleichen Chancen, vielmehr ist ungleiche Behandlung erforderlich, um die unterschiedlichen Voraussetzungen und die unterschiedlichen Passungen mit den schulischen Normalitätserwartungen berücksichtigen zu können (Dirim & Mecheril, 2010, S. 128 f.; Helsper & Lingkost, 2002, S. 134). Für Lehrpersonen gehören diese Überlegungen zum Alltag. Immer wieder wird ausgelotet, wie sie den unterschiedlichen Voraussetzungen einzelner Schülerinnen und Schüler begegnen und dabei auch Benachteiligungen ausgleichen können, um alle bestmöglich in ihrem Lernen zu fördern.
Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass in diesen Bemühungen immer wieder nach einem bestimmten Muster gehandelt und entschieden wird: In der Tendenz werden Kinder mit Migrationsgeschichte eher als defizitär gesehen und in ihrer Leistungsfähigkeit unterschätzt. Wenn Kinder erleben, dass ihnen wenig zugetraut wird, ist die Wahrscheinlichkeit zudem gross, dass sie diese Fremdeinschätzung verinnerlichen und sich im Lauf ihrer Schulzeit auch selbst weniger zutrauen, was schliesslich zu tatsächlich tieferen Leistungen führen kann (siehe Hintergrundinformationen, «Chancengerechtigkeit: Anspruch, Wirklichkeit und Handlungsmöglichkeiten»).
In der Folge werden Kinder mit dem sogenannten Migrationshintergrund eher tieferen Schulstufen zugeteilt. Manchmal werden dafür Begründungen eingebracht, in denen sich die genannten Normalitätserwartungen spiegeln, etwa dass Eltern mit Migrationsgeschichte nicht über den erforderlichen Bildungshintergrund verfügen würden, um ihre Kinder in genügendem Mass unterstützen zu können, und dass es deshalb kaum Sinn habe, das Kind einer höheren Schulstufe zuzuteilen (Gomolla, 2011). Wenn sich solche Entscheidungen in einer Bildungslaufbahn wiederholen, entsteht eine Verkettung von Benachteiligungen, die im Grunde dadurch verursacht werden, dass Bildungsfachleute den «Migrationshintergrund» pauschal mit Defiziten und mit Abweichungen von einer unhinterfragten «Normalität» in Verbindung bringen.
Entsprechend besteht also die pädagogische Herausforderung darin, unterschiedliche – und vom Schulsystem wenig honorierte – Voraussetzungen zu berücksichtigen und Benachteiligungen nötigenfalls auszugleichen. Dabei ist allerdings entscheidend, dass diese Benachteiligungen nicht auf der Basis vermeintlich nationaler, ethnischer oder kultureller Gruppenzugehörigkeiten und entsprechenden Stereotypisierungen eingeschätzt werden, sondern dass dabei das einzelne Kind mit seinem Facettenreichtum im Blick bleibt. Letztlich geht es um das Ziel, dieser zweiten Form der Anerkennung zu entsprechen und allen das gleiche Recht auf Bildung zu gewähren.