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Differenzieren

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Eine weitere nützliche Strategie ist das bewusste Ausdifferenzieren der Wahrnehmung. Auch dazu eine kleine Geschichte: Eine Lehrperson hat vor, mit ihren Schülerinnen und Schülern aus einer Klasse im 2. Zyklus ein Theater einzuüben und aufzuführen. In diesem Theaterstück gibt es eine Rolle, bei der ein Kind mit schwarzen Haaren davon erzählt, wie es mit seinen Eltern und seinen Brüdern aus der Türkei in die Schweiz migriert ist. Als die Klasse von dieser Rolle erfährt, zeigen einige gleich auf Oeznur und schlagen vor, dass sie die Rolle spielen solle, da sie die einzige mit schwarzen Haaren und ausserdem Türkin sei. Oeznur reagiert auf diesen Vorschlag mit grosser Zurückhaltung. Nach der Schule tauscht sich die Lehrperson mit ihrer Stellenpartnerin aus. Gemeinsam überlegen sie, inwiefern diese Idee, Oeznur als «Türkin» zu bezeichnen, wirklich angemessen ist. Sie denken, dass sich Oeznur nicht einfach nur als «Türkin» sieht. Soweit sie wissen, hat sie zwar emotionale Bezüge zu ihrer Verwandtschaft in der Türkei, gleichzeitig aber ebenso bedeutsame Zugehörigkeitsgefühle innerhalb der Schweiz. Ausserdem ist sie in den letzten Jahren zu einer leidenschaftlichen Pfadfinderin geworden und hat dort bestimmt eine wichtige Bezugsgruppe. Zeitweise steht auch ihr Heranreifen zu einer Frau im Mittelpunkt, und sie identifiziert sich vor allem mit ihren Freundinnen. Im Vergleich zu ihren Freundinnen hat Oeznur aber weniger Handlungsspielraum, was die finanziellen Möglichkeiten betrifft, denn es gab Zeiten der Arbeitslosigkeit in der Familie, und was ihre Eltern verdienen konnten, haben sie zum Teil an ihre Verwandtschaft in der Türkei gesendet. Oeznur träumt davon, einmal genügend zu verdienen, London zu besuchen und dort vielleicht auch einmal zu arbeiten. Oder in Istanbul. Etwa einmal im Jahr reist die Familie auf Verwandtschaftsbesuch in die Türkei, und Oeznur hat wohl besonders gute Beziehungen zu ihren Grosseltern mütterlicherseits. Insgesamt spielen die Türkeibezüge vermutlich eine Rolle in Oeznurs Leben, sind aber bestimmt bei Weitem nicht so dominant, wie ihr oft zugeschrieben wird, wenn sie «Türkin» genannt wird. Eine der Lehrpersonen erinnert sich zudem daran, dass Oeznur einmal enttäuscht gesagt habe: In der Türkei bin ich immer einfach «die Schweizerin» und in der Schweiz bin ich immer einfach «die Türkin». Im Verlauf dieses Gesprächs wird den beiden Lehrpersonen klar, dass die Rolle der «Türkin» für Oeznur nicht automatisch attraktiv, vielleicht sogar mit einem bitteren Beigeschmack verbunden ist, weil sie auf Türkeibezüge reduziert wird und diese im Theater dann auch noch zur Schau stellen soll. Die beiden Lehrpersonen beschliessen deshalb, die Rollenverteilung noch einmal zu überdenken und dabei Oeznur stärker zu Wort kommen zu lassen. Und die Frage der schwarzen Haare liesse sich ja auch noch mit Theaterrequisiten wie Perücken und Hüten lösen.

Unsere gesellschaftlich gängigen Stereotypen leiten uns häufig in allzu vereinfachte Vorstellungen nationaler, ethnischer oder kultureller Zugehörigkeit und Prägung. Das Ausdifferenzieren ermöglicht dann ein Bild, das gewissermassen in der Anzahl seiner Pixel zunimmt, dadurch facettenreicher wird und schliesslich dazu verhilft, eine Situation besser einschätzen zu können.

Auf den zweiten Blick (E-Book)

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