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Ungewissheit zulassen

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Wir bringen diesen Aspekt gleich an erster Stelle ein, da er häufig unterschätzt wird: Wenn wir Situationen begegnen, die uns unvertraut erscheinen, dann reagieren wir gewöhnlich damit, dass wir das Wissen, das wir haben, anwenden und so die Lücke des Unvertrauten mit diesem Wissen zu füllen versuchen. Bei diesem Wissen handelt es sich um Bilder und Vorstellungen, die wir uns im Verlauf unserer Geschichte aufgebaut haben und die uns ein Stück Orientierung geben, wenn wir einer neuen Situation begegnen und uns unsicher fühlen. Manchmal sind diese Bilder allerdings gar nicht so hilfreich, denn manchmal meinen wir so viel über andere zu wissen, dass für unser Gegenüber kaum Raum bleibt, sich selbst zu artikulieren und auf diese Weise wirklich kennengelernt und verstanden zu werden.

Michael Ende (1960) hat dieses Phänomen mit seiner Figur des «Riesen Tur Tur» feinfühlig illustriert: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer reisen durch eine Wüste, und auf einmal taucht am Horizont eine riesenhafte Gestalt auf. Jim Knopf geht davon aus, dass etwas so Riesenhaftes fremd und bedrohlich sein müsse und möchte sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen. Aber dann halten sie doch noch einen Moment inne, lauschen und wagen einige Schritte in Richtung des Riesen, worauf auch der Riese beginnt, sich in ihre Richtung zu bewegen. Sie gehen sich Schritt um Schritt entgegen, und nun geschieht das Erstaunliche, denn mit jedem Schritt wird der Riese kleiner und kleiner und verliert damit auch seine vermeintliche Bedrohlichkeit, bis sie sich schliesslich in gleicher Grösse gegenüberstehen und sich in ganz anderer Weise begegnen und kennenlernen können. Das «Fremde» und «Ferne» erscheint uns oft grösser und bedrohlicher, als es in Wirklichkeit ist.

Wer kennt sie nicht, diese Momente, in denen man allerlei über andere denkt und vermutet, was sich dann als Fehlinterpretation herausstellt. Vermeintliches Wissen und vorschnelle Bewertungen können uns den Blick versperren und das eigentliche Sehen, Zuhören und Kennenlernen verhindern (vgl. auch die witzige Episode im Kurzfilm «The Cookie Thief» auf der DVD «Respekt statt Rassismus», Hinweis dazu in Kapitel 3.2 unter «Filme»).

«Wenn die Studierenden in der Vorlesung ihren Kaffee ausgeleert haben, dann haben sie mich immer nach einem Putzlappen gefragt. Aber eigentlich war ich als Doktorand an der Uni.» (Patrick Ngowi, aufgewachsen in Tansania. Und ja: Er hat eine dunkle Hautfarbe)

«Mein Mann wird häufig gefragt, warum er mich so schlecht behandle. Nur weil ich ein Kopftuch trage, denken alle, ich werde von meinem Mann unterdrückt. Und manche reden ganz laut und langsam und auf Hochdeutsch mit mir, obwohl sie ja hören, dass ich ganz normal Schweizerdeutsch rede und auch nicht schwerhörig bin. Ich weiss nicht, was sie sich denken.» (Salima Hamoudi)

«Die Leute haben immer gemeint, ich könne kaum lesen und schreiben, weil ich aus Kroatien komme. Dabei haben wir in der Schule Kant, Pestalozzi und Schiller gelesen. Aber das konnte sich hier niemand vorstellen. Die Leute meinen, wenn du vom Balkan kommst, dann bist du ungebildet.» (Ivana Marić Kovačević, als Jugendliche aus Kroatien in die Schweiz geflüchtet)

«Nur weil ich einen griechischen Namen habe, werde ich dauernd gefragt, warum ich so gut Deutsch könne. Das ist schon seltsam, denn ich bin ja in der Schweiz aufgewachsen.» (Alexis Fotakis)

Es lässt sich nicht ganz vermeiden, dass wir immer wieder falsch liegen mit unseren Ideen und Urteilen über andere. Allerdings ist mit dem Erkennen dieser Tendenz bereits sehr viel gewonnen. Dann wissen wir um unser Nichtwissen und lassen dem Gegenüber Raum, sodass er oder sie gehört und kennengelernt werden kann. Die eigenen Konzepte lassen sich nicht einfach ausschalten, aber sie lassen sich relativieren und hinterfragen. «Es könnte auch anders sein» ist ein Leitspruch dafür. Diese Haltung verzichtet auf schnelle Bewertungen und lässt die Tür offen für das Unerwartete.

Für viele mag das auch eine Entlastung sein, denn es bedeutet im Umkehrschluss, dass es auch nicht nötig ist, alles zu wissen. Wir müssen nicht alle kulturellen Ausprägungen im Detail kennen und über die diversen Lebensweisen genauestens informiert sein. Solches Wissen ist zwar spannend, aber es ist erst dann wirklich hilfreich, wenn es mit dem Wissen um das eigene Nichtwissen ergänzt wird. Auf diese Weise kann die Gefahr gemindert werden, das Gegenüber mit vermeintlichem Wissen zu vereinnahmen, und es kann ermöglicht werden, trotz aller Konzepte und Vorstellungen wirklich zuzuhören, wahrzunehmen und allenfalls nachzufragen (vgl. auch Mecheril, 2008; Kalpaka & Mecheril, 2010, S. 97).

«Zuhören ist sehr viel schwieriger, als gemeinhin angenommen wird; wirkliches Zuhören bedeutet, uns selbst völlig loszulassen, alle Informationen, Konzepte, Vorstellungen und Vorurteile fallenzulassen, mit denen unsere Köpfe so vollgestopft sind.» (Sogyal Rinpoche)

«Eines meiner Kindergartenkinder erzählt mir eines Tages mit Stolz, dass sie nun in die Koranschule gehe und dabei ein Kopftuch trage, sie lerne jetzt nämlich den Koran. Ich ertappe mich dabei, dass ich auf das Stichwort ‹Koranschule› irritiert reagiere und damit viele Befürchtungen für die Entwicklung des Mädchens verbinde. Um diesen Gedanken und Gefühlen – die von meinen eigenen Vorstellungen und Bildern geprägt sind – nicht zu viel Raum zu geben, frage ich beim Mädchen interessiert nach, was sie in der Koranschule alles lerne. Dabei entstand ein schönes Gespräch, in dem ich einigen Einblick in eine Welt erhielt, die ich eigentlich kaum kenne.» (Zitat aus der Projektgruppe)

«Nachdem ich viele Gespräche mit Eltern aus Serbien als schwierig erlebt hatte, wollte ich mehr über die Menschen aus dieser Gegend erfahren. Ich organisierte deshalb, dass ich meine Intensivweiterbildung in Serbien und Kroatien verbringen konnte. Diese Monate voller neuer Eindrücke und Begegnungen bewirkten, dass ich die Gespräche seither viel gelassener angehen kann.» (Zitat aus der Projektgruppe)

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