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5. Kapitel

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Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, und es waren bereits über zwanzig Grad, als Frederike sich ins Auto setzte und Richtung Hillesheim fuhr. Die Hitze würde ihr heute Nachmittag zu schaffen machen, aber im Moment war es sehr angenehm, und sie genoss den Sonnenschein. Die Eifel ist einfach schön, dachte sie, als sie am Golfplatz vorbeifuhr, die Hügel in sanftem Grün. Zwei Golfer kreuzten mit ihren Wägelchen die Straße und grüßten freundlich.

Im St. Ägidius traf sie Klara in ihrem Zimmer an. Sie beschlossen gemeinsam, die morgendliche Frische zu nutzen und in die angrenzende Grünanlage zu gehen.

Klara setzte sich mit einem Stöhnen auf die Bank. »Mein Hüfthalter bringt mich um.«

Frederike schaute sie prüfend an. »Echt jetzt? Du trägst einen Hüfthalter? Bei dem Wetter?«

Klara schnaubte: »Quatsch! Die linke Hüfte tut weh. Aber kannst du dich nicht mehr an die Reklame erinnern?«

»Dunkel. Ist aber schon lange her.«

Frederike setzte sich neben Klara auf die Bank und blickte sich anerkennend um. »Sehr gepflegt habt ihr es hier. Was sind das für Rosen?« Sie deutete auf einen Strauch lachsfarbener Rosen.

»Keine Ahnung. Frag an der Rezeption. Sind wir hier, um über Blumen zu sprechen?« Klara wirkte etwas ungehalten.

»Du liebe Güte, bist du heute aber mürrisch und unfroh! Was ist denn los?«

»Ach«, seufzte Klara. »Ich hab Mist gebaut!«

»Was ist passiert?«

»Ich habe heute Morgen aus Versehen meine Hörgeräte verschluckt.«

Frederike prustete los. »Wie in Gottes Namen hast du das denn geschafft?«

Klara kratzte sich verlegen an der Stirn. »Ich war am Abend ziemlich müde und bin früh ins Bett. Als ich schon lag, fiel mir auf, dass die Hörgeräte noch drin sind. Ich habe sie also rausgefriemelt und auf den Nachttisch gelegt.«

»Und?«

»Direkt neben meine Blutdrucksenker, die ich morgens als Erstes einnehme.«

»Und?«

»Na ja, als ich die Hörgeräte ins Ohr schieben wollte, lagen dort nur noch die Tabletten – die Hörgeräte waren weg. Ich bin aber sicher, dass ich meine Medis genommen habe. Also habe ich wahrscheinlich meine Hörgeräte eingeworfen.«

»Aber sind die denn nicht viel größer als die Tabletten? Das hättest du doch merken müssen?« Frederike war bemüht, ernst zu bleiben, giggelte aber die ganze Zeit.

Klara rollte mit den Augen. »Nichts da, ich habe doch diese niedlichen Innenohrdinger. Mit einem Schluck Wasser sind die schnell runtergespült.«

»Und jetzt?«

Klara hob die Schultern. »Jetzt warte ich auf meine Verdauung. Aber jetzt lass uns das Thema wechseln. Wir haben Wichtigeres zu tun. Ich war nicht untätig.«

»Ja, aber kannst du denn überhaupt etwas verstehen, so ohne Hörgeräte?«

»Häh?«, grinste Klara. »Nein, Spaß beiseite. Solange du deutlich sprichst und keiner hier reinquatscht, geht es.«

»Na, dann erzähl. Was hast du rausbekommen?«

Klara setzte sich zurecht und begann: »Also, ich habe mich gestern hauptsächlich in der Cafeteria und in der Lobby aufgehalten. Die Todesfälle sind tatsächlich überall Thema. Wenn auch meist hinter vorgehaltener Hand. Aber ich habe festgestellt, dass sich die meisten Bewohner Gedanken machen. Und auch innerhalb der Belegschaft wird gequatscht.«

»Was erzählt man sich dort?«

»Ich habe mich länger mit Heike unterhalten. Heike Simonis. Sie ist eine Pflegekraft bei uns, schon seit ein paar Jahren im Geschäft und eine der wirklich Netten hier. Sie tratscht auch ganz gerne und bekommt viel mit. Wenn sie morgens nach mir schaut, steht ihr Mundwerk nicht still.« Klara lächelte. »Ein wirklich hübsches Mädchen, hilfsbereit, flirtet gern. Sie hat mir erzählt … aber da ist sie ja.«

Klara winkte einer jungen Frau zu, die sich mit einer Tragetasche der Eingangstür näherte. »Heike! Hast du kurz Zeit?«

Sie wandte sich Frederike zu: »Ich glaube, es ist besser, wenn sie dir das selbst erzählt. Ich bringe sowieso das meiste wieder durcheinander.«

Heike nähert sich den beiden Damen. »Na, ihr beiden Hübschen. Genießt ihr die Sonne?«

»Morgen, Heike«, begrüßte Klara sie. »Ich habe dir doch von meiner alten Nachbarin erzählt. Das hier ist Frederike Suttner.«

»Ach, die Kriminalkommissarin a. D.«, sagte Heike mit gesenkter Stimme und gab Frederike die Hand. »Es ist gut, dass sich hier mal einer kümmert!«

»Setzen Sie sich doch«, lud Frederike sie ein.

»Mmh«, Heike guckte sich um, »aber nur ein paar Minuten.« Sie setzte die Tragetasche ab.

»Heike, erzähl doch mal, was du mir erzählt hast«, forderte Klara sie auf.

Heike lachte. »Du lieber Gott, wir haben so viel geredet. Frau Suttner, was wollen Sie wissen?«

»Du kannst gerne Frederike sagen«, lud Frederike sie ein. »Was hältst du von den Todesfällen?«

»Nun ja, es wird darüber gesprochen. Eine solche Häufung an Todesfällen erlebt man ja nicht so oft. Das ist schon merkwürdig«, äußerte sich Heike sehr vorsichtig.

»Was heißt ›nicht so oft‹? Du hast das also vorher schon mal erlebt?«

Heike überlegte ein paar Sekunden und schüttelte dann den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Wir hatten hier mal eine Grippewelle, das war auch heftig, aber das jetzt … das ist noch heftiger!«

»Aber grundsätzlich kann das durchaus passieren, dass es zu einer Epidemie kommt?« Frederike ließ nicht locker.

»Na ja«, Heike zuckte mit den Schultern. »Möglich ist das schon. Virusinfektionen, die hoch ansteckend sind, lange Hitzewellen oder auch Probleme in der Küche – EHEC, Salmonellen. Viele der alten Leutchen haben ja körperlich nichts entgegenzusetzen. Wir tun natürlich alles, um das zu vermeiden.«

»Aber du bist beunruhigt!« Klara schaute Heike in die Augen.

»Ja, ehrlich gesagt schon.«

»Was ist anders?« Frederike hatte gelernt, dass es auf die Unterschiede ankam.

»Wir wissen nicht, was es ist. Und es trifft nicht unbedingt die Leute, von denen man es erwartet.« Heike hatte offensichtlich beschlossen, nun die Karten auf den Tisch zu legen. Sie beugte sich zu den beiden herüber. »Es gibt zurzeit keinen Virus. Die Hitze ist zwar da, aber wir haben die Aufenthaltsräume klimatisiert und in den Zimmern Ventilatoren. Das sollte eigentlich reichen. Und die Küche …« Sie zögerte.

»Was ist mit der Küche?«, fragte Frederike, als Heike nicht weiterredete.

»Die meisten von uns glauben ja, dass das Problem in der Küche liegt. Das ist ein ziemlicher Sauhaufen!« Heike schnalzte mit der Zunge: »Heinz, unser Koch, ist nicht besonders beliebt bei den Angestellten und auch nicht bei den Bewohnern. Dem traut man so einiges zu.«

»Was macht ihn so unbeliebt?«

»Da kommt einiges zusammen. Er kocht ziemlich einfallslos, ist kein besonders netter Chef und streitet sich häufig mit der Heimleiterin. Die beiden können sich wirklich nicht riechen.« Heike lachte auf, es klang genervt. »Davon können wir alle ein Lied singen. Man muss höllisch aufpassen, nicht zwischen die Fronten zu geraten. Wenn sie eine Anweisung erteilt, macht er schon aus Prinzip das Gegenteil.«

Klara ergänzte: »Und er macht auch keinen Hehl daraus, wenn er sich über jemanden ärgert. Otto hat kürzlich mal laut in der Cafeteria die Reibekuchen kritisiert – da war aber was los! Heinz ist richtig ausgerastet. Solche Schimpfwörter habe ich schon ewig nicht mehr gehört.« Sie kicherte.

Frederike nickte verstehend mit dem Kopf. »Das erklärt, warum er nicht sehr beliebt ist, ist aber kein Indiz dafür, dass es in der Küche zu einer Verkeimung oder Ähnlichem kam.«

»Nein, das stimmt«, bestätigte Heike, »es wirft allerdings kein gutes Licht auf einen, wenn die Heimleitung die Order gibt, dass die Essensreste aufbewahrt werden sollen, um sie untersuchen zu können, und diese dann trotzdem vernichtet werden.«

Frederike horchte auf. »War das jetzt hypothetisch oder ist das tatsächlich passiert?«

Heike nickte verzagt. »Ich rede mich hier um Kopf und Kragen. Wenn das rauskommt, bin ich wegen übler Nachrede dran. Pflegekräftemangel hin oder her, meinen Job kann ich dann knicken.«

Klara tätschelte beruhigend ihre Hand. »Keine Sorge! Du bist bei uns in guten Händen. Frederike wird das alles vertraulich behandeln, nicht wahr, Frederike?« Sie schaute ihre Ex-Nachbarin beschwörend an.

»Äh, ja, vertraulich, natürlich.« Frederike kratzte sich am Kopf. »Gut, erzähle mal genauer, was passiert ist.«

»Na ja, letzten Donnerstag sind ja gleich zwei gestorben, und beide hatten mittags das Gleiche gegessen. Da hat Frau Bader, unsere Heimleiterin, Heinz Fernmüller angewiesen, von allen Speisen Reste in einzelne Tupperdosen zu packen und diese zu verkleben und zu beschriften. Sie wollte die Proben untersuchen lassen. Doch Heinz hat einfach alles in den Bottich für die Biogasanlage geworfen und abtransportieren lassen. Er meinte, das wäre ein Misstrauensvotum gegen ihn und seine Küchenkräfte. Sie würden sauber arbeiten, er hätte schließlich die Verantwortung, und Frau Bader solle sich raushalten. Ihr könnt euch vorstellen, was da los war. Frau Bader war auf hundertachtzig und sprach von einer Abmahnung, die Pflegekräfte sind nun misstrauisch und die Küchenkräfte sauer, dass man ihnen unterstellt, sie wären für die Todesfälle verantwortlich. Gleichzeitig schimpfen sie auf Heinz Fernmüller, weil er die Essensreste vernichten ließ. Jetzt können sie nicht nachweisen, dass sie es nicht schuld sind. Sie verdächtigen jemanden von uns … Und so beäugen wir uns nun alle misstrauisch, und die Stimmung ist völlig im Eimer.«

Sie wirkte niedergeschlagen. »Jetzt haben auch noch alle von der Chefin die Anweisung erhalten, nicht über die Sache zu sprechen, aber die Augen aufzuhalten. Ich fühle mich gerade ganz prima … Und jetzt muss ich los!« Sie stand auf, nahm ihre Tragetasche und wandte sich dem Eingangsbereich zu.

»Danke«, rief Frederike hinter ihr her, doch Heike drehte sich nicht mehr um.

Frederike wandte sich Klara zu. »Na, das war ja mal interessant. Den Heinz Fernmüller, den schau ich mir mal genauer an. Was hältst du von ihm?«

Klara winkte ab. »Der perfekte Sündenbock! Der hat hier nicht viele Freunde. Das Essen ist eher mittelmäßig, und er zeigt auch keine Ambitionen, dass das besser wird. Mit Kritik kann er nicht gut umgehen. Und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Damit hat er den einen oder anderen schon heftig vor den Kopf gestoßen.«

Frederike hob verwundert die Augenbrauen. »Das spricht alles nicht für ihn. Trotzdem habe ich den Eindruck, du glaubst nicht, dass er der Todesengel ist.«

Klara schnaubte. »Schlechtes Essen hat noch niemanden umgebracht. Sonst wäre ich schon längst tot.«

Frederike grinste. »Stimmt, deine nicht vorhandenen Kochkünste sind legendär – mal abgesehen von deinen Plätzchen und Marmeladen.«

»Eben. Heinz ist ein sehr direkter Mensch, der sich damit Feinde gemacht hat. Aber ehrlich gesagt: Zu mancher Beleidigung habe ich ihm nachträglich gratuliert. Wir haben hier auch einige echte Miesepeter. Otto ist auch so ein Fall. Was der sich aufgespielt hat wegen der Reibekuchen. Das war echt unter der Gürtellinie. Ich habe nur darauf gewartet, dass ihm Heinz eins mit dem Bratpfanne überzieht. Da hätte ich noch Beifall geklatscht!«

Frederike lachte. »Ich habe den Eindruck, du magst Heinz.«

Klara zögerte kurz. »Behalte es bitte für dich. Manchmal lässt er mich in der Küche backen. Eigentlich darf er das nicht wegen der Hygienebestimmungen. Wenn die Bader das erfährt, ist er seinen Job los. Aber er weiß halt, wie gerne ich Plätzchen backe.«

Frederike seufzte. »Verstehe. Na gut, ich habe jetzt einen Eindruck bekommen. Mal sehen, was sich noch so tut. Jetzt muss ich los.«

Auf dem Weg zum Auto dachte sie über das Gehörte nach. Heinz Fernmüller nahm es anscheinend mit den Hygienevorschriften nicht allzu genau. Möglicherweise lag ja hier wirklich die Ursache für die Todesfälle. Es beunruhigte sie, dass anscheinend manche Heimbewohner – speziell auch Klara – Zugang zur Küche hatten und damit eventuell sogar eine Mitschuld an den zahlreichen Todesfällen trugen. Das würde Klara umbringen.

Klara traf sich nachmittags mit ihrem Freundeskreis zum Kaffee. Es gab frisch gebackenen Pflaumenkuchen. Das war ein Service des Hauses, den sich keiner entgehen ließ. Im bereits gut gefüllten Frühstücksraum war für die kleine Runde ein Ecktisch reserviert.

Zum Kreis gehörte Käthe Gilles, die seit knapp zwei Jahren neben Klaras Appartement eine kleine Zweizimmerwohnung bewohnte. Sie war eine vornehme, große Dame, die Haare immer gut frisiert und ein wenig geziert in den Bewegungen. Heute trug sie einen schlicht geschnittenen lavendelfarbenen Hosenanzug mit weißer Bluse. Der Dritte im Bunde war Horst Blume, ein ehemaliger Steuerberater, groß und hager, mit einem warmen Lächeln, der leider nicht mehr allzu gut zu Fuß war. Er trug stets ein weißes Hemd und oft auch einen Strohhut. Original Panama, wie er gerne betonte. Da er seine Hüte stets an der Krone packte, sah das Stroh dort immer etwas zerfleddert aus. Doch hielt er es für unmännlich, Hüte mit beiden Händen an der Krempe zu fassen. Auf der kleinen Bank saßen Ursula und Helga Mauer, zwei unverheiratete Schwestern aus Berndorf, die einander glichen wie ein Ei dem anderen, nur dass sich Ursula die Haare rot färbte und eine Vorliebe für wallende Batikgewänder hatte, während Helga, eine ehemalige Chefsekretärin, ihr kurz geschnittenes Herbstblond mit Würde trug und meist ganz pragmatisch in Jeans und T-Shirt unterwegs war. Die Zwillinge waren charakterlich sehr unterschiedlich: Ursula, die Extravertierte, stand gerne im Mittelpunkt, Helga zählte zu den ruhigen Vertreterinnen, war eher zurückhaltend und sachlich.

Klara war noch ein wenig aufgedreht von dem Gespräch mit Frederike. Ihr ging es nahe, dass Heinz Fernmüller in Verdacht stand, für die Todesfälle verantwortlich zu sein. Als Todesengel konnte sie sich ihn nun so gar nicht vorstellen. Mangelnde Hygiene wäre da sicher schon eher ein Thema, aber sie hatte erlebt, wie pingelig er immer hinter ihr her geräumt hatte, wenn sie ihre Backsessions abgehalten hatte. Trotzdem sprach sie nun in der Runde den Verdacht an, denn natürlich gab es auch hier kein anderes Thema als die letzten Todesfälle.

»Der Heinz? Das kann ich mir nicht vorstellen.« Ursula schüttelte ihre dünnen Locken. »Überhaupt, wenn was im Essen gewesen wäre, hätte das doch jemand mitbekommen.«

»Wieso? Wenn hier einer die Scheißerei hat, ist das doch nichts Besonderes«, dröhnte Horst.

Käthe räusperte sich indigniert. Sie schätzte die rustikalen Kommentare von Horst nicht, was dieser natürlich wusste und sich dementsprechend noch häufiger danebenbenahm, nur um sie zu schockieren. Das war ein kleines Spiel zwischen den beiden, das die anderen drei mit Heiterkeit betrachteten.

»Nein, im Ernst. Hat denn jemand von euch etwas gemerkt?«, fragte Klara.

Helga schüttelte den Kopf. »Wir kriegen davon sowieso nicht viel mit, Ursula und ich kochen meist selbst.«

Horst grinste. »Meine Verdauung ist kein Maßstab. Da würden selbst die Salmonellen dran verzweifeln.«

Käthe flötete fein: »Ich bekomme mein Essen nach oben gebracht, da ich Schonkost benötige.«

Horst haute ihr lachend auf die Schulter, sodass sie hustend nach vorne sackte. »Aber Pflaumenkuchen geht immer, was?«

Käthe tupfte sich mit der Serviette die Kuchenkrümel von der Bluse. »Also wirklich! Benehmen ist wohl Glückssache.«

Klara lachte und hob ein Stückchen Pflaume auf, das heruntergefallen war. »Ein wenig mehr Ernst, meine Lieben.«

Helga winkte ab. »Was soll das Ganze? Der Tod sitzt doch hier immer mit am Tisch. Schaut euch doch mal um. Die alte Frau Hummel da vorne. Otto, der nur noch im Rollstuhl unterwegs ist, da hinten die drei, die den Kuchen nur noch mümmeln – würdet ihr euch ernsthaft wundern, wenn die in den nächsten Wochen oder Monaten sterben?«

Ursula lachte. »Ich wundere mich eher jeden Morgen, dass ich noch lebe.«

Klara schaute die beiden Schwestern liebevoll an. »Unkraut vergeht nicht. Euch beide muss man irgendwann mal notschlachten.«

Doch Horst wurde nun ernst. »Aber hier geht in der Tat irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu. Ich habe mal eine Statistik aufgestellt. In den letzten beiden Wochen sind signifikant mehr Menschen zu Tode gekommen als in den Jahren davor.«

Ursula spottete: »Da spricht der Buchhalter.«

Horst nickte. »Genau. Von Statistik verstehe ich etwas. Und wenn etwas aussieht wie eine Kröte und klingt wie eine Kröte, dann ist es meistens auch eine Kröte.«

Das überforderte Käthe nun ein wenig. »Was hat es denn jetzt mit Kröten auf sich?«

Klara legte ihr die Hand auf den Arm. »Das ist doch nur eine Analogie, Käthe. Was er damit sagen will, ist …«

Horst unterbrach sie: »Was ich damit sagen will, ist, wir sollten davon ausgehen, dass es sich nicht nur um eine Häufung natürlicher Todesfälle handelt. Da hilft jemand nach.«

Das schockierte die kleine Runde so sehr, dass alle die Gabeln niederlegten und eine Weile schwiegen.

»Bist du sicher?«, fragte Klara.

Helga beugte sich nach vorne und zischte: »Machen wir uns nichts vor. Das denkt doch hier jeder. Horst hat es nur ausgesprochen.«

Doch Ursula wollte davon nichts wissen. »Ihr unkt doch bloß. Wenn hier wirklich was nicht mit rechten Dingen zuginge, wäre doch schon längst die Polizei im Haus.«

Käthe schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Die machen sich viel zu große Sorgen, dass Bewohner ausziehen. Andrea würde das sicher nicht an die große Glocke hängen.« Sie war über ein paar Ecken mit der Heimleiterin verwandt und kannte sie daher recht gut.

Klara schaute sie an. »Kannst du nicht mal mit der Bader sprechen und sie aushorchen? Mir hat Heike im Vertrauen erzählt, dass beim Personal auch schon getratscht wird.«

Sie erzählte der Runde von ihrem Gespräch mit Heike und Frederike. »Meine ehemalige Nachbarin – sie war früher bei der Polizei, aber behaltet das bitte für euch, sie spricht da nicht gerne drüber – ist auch schon misstrauisch geworden. Uns würde interessieren, wie die Heimleitung zu der Sache steht.«

Horst nickte bedächtig. »Für eine solche Einrichtung könnten allein schon Gerüchte extrem geschäftsschädigend sein. Möglicherweise wäre das wirklich ein Grund, die Sache unter den Teppich zu kehren, weil man sich einen Imageverlust finanziell nicht leisten kann. Ich kann mir ja mal die Bilanzen anschauen.«

Ursula schaute ihn fragend an. »Wie kommst du denn daran?«

Helga mischte sich ein. »Kein Problem, ich besorge dir den Geschäftsbericht.« Sie verstand sich gut mit Frau Weißbrot, der Leitungsassistenz, und gab ihr manchmal Tipps für ihre Arbeit.

Horst nickte. »Prima, da bekomme ich schon ein gutes Bild.«

Ursula fragte: »Was können wir sonst noch tun? Zwar glaube ich eigentlich nicht, dass an der Sache wirklich etwas dran ist, aber jetzt passiert hier wenigstens mal was.«

Klara schaute sie und Helga erwartungsvoll an. »Ihr seid doch hier gut vernetzt. Hört euch doch mal um bei Bewohnern, die die Toten gekannt haben. Vielleicht haben sie etwas mitbekommen oder noch Kontakt in die Dörfer zu den Verwandten und Nachbarn. Zumindest Hubert und Werner wirkten doch noch ganz fit, von Gertrud ganz zu schweigen.«

Käthe schaute sie irritiert an. »Gertrud war sechsundneunzig!«

»Ja, schon! Ich dachte, die überlebt uns alle und wird mindestens hundertfünf«, erwiderte Klara traurig. »Solange Gertrud da war, so geistig fit und beweglich, hatte ich keine Angst davor, alt zu werden.«

Horst tätschelte ihr die Hand. »Bis du mal alt bist, ist noch lange hin. Du bist doch erst siebenundachtzig, du junger Hüpfer!«

Klara, die ihm gegenüber bei der Altersangabe fünf Jahre weggemogelt hatte, zog bedauernd die Hand weg und meinte trocken: »Da hüpft nicht mehr viel. Aber was soll’s. Gehen wir an die Arbeit.«

Die Runde löste sich auf.

Nachts hörte Klara Stimmengemurmel aus der Nebenwohnung. Sie schlief nicht mehr besonders gut und war nicht selten schon gegen drei Uhr wach. Statt sich dann wieder ins Bett zu legen, stand sie meist auf und frühstückte schon einmal. Das war einer der Gründe, weshalb sie inzwischen nur noch selten zu den offiziellen Mahlzeiten ging. Die Zeiten passten einfach nicht mehr für sie.

War Käthe vor dem Fernseher eingeschlafen? Das passierte ab und zu. Dann hörte Klara, dass auch draußen auf dem Flur Bewegung war. Sie zog ihren Bademantel über und öffnete leise die Tür. Hoffentlich war nichts mit ihrer Nachbarin.

Heike, die Nachtdienst hatte, sprach gerade mit zwei jungen Notfallsanitätern. Dann sah sie Klara in der Tür und ließ die beiden mit einer kurzen Entschuldigung stehen. Sie kam zu Klara, mit Tränen in den Augen: »Ach, es tut mir so leid. Du warst ja mit Käthe Gilles befreundet.«

Klara stand stocksteif und fragte mit bebender Stimme: »Ist sie tot?«

Heike nickte: »Ja, sie hat noch geklingelt, aber wir konnten nichts mehr für sie tun. Sie wird gerade nach unten gebracht. Ich bin gleich wieder da.«

Doch Klara hatte sich schon abgewandt. »Nicht nötig.« Sie brauchte jetzt einige Zeit für sich.

Am nächsten Morgen mochte Klara gar nicht nach unten gehen. Gestern hatte man noch so schön zusammengesessen. Käthe hatte doch fit gewirkt und auch keinerlei Hinweise gegeben, dass es ihr nicht gut ging. Klara verstand das nicht. Sie beschloss, Frederike anzurufen. Sie musste mit jemandem reden.

Frederike kam eine Stunde später vorbei. Sie blieben in Klaras Räumen, und Klara brühte einen Tee auf.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich bin noch völlig fassungslos.« Klara konnte sich gar nicht beruhigen. Die Tränen liefen über ihre Wangen.

Frederike saß nur still in ihrem Sessel und ließ Klara reden.

»Gerade gestern haben wir über die Todesfälle gesprochen. Käthe war nichts aufgefallen, aber sie wollte bei der Heimleiterin nachforschen.«

»Erzähl mir von gestern. Was ist passiert?«

Klara schilderte den Verlauf der Gesprächsrunde und die Ideen, die sie gesammelt hatten.

»Ihr wollt also gemeinsam recherchieren, und jeder hat Aufgaben übernommen«, fasste Frederike das Gehörte zusammen.

Klara nickte.

»Hat jemand bei euch zugehört? Möglicherweise hat euch jemand belauscht.«

»Wir waren nicht besonders leise«, gab Klara zu. »Allerdings war es ziemlich laut im Raum, Geschirrklappern und laute Gespräche. Die meisten hier hören nicht mehr besonders gut, deshalb reden wir alle recht laut.«

»Apropos – ist dein Hörgerät wieder aufgetaucht?«

»Nein, ist es nicht. Vor lauter Stress habe ich Verstopfung. Aber bleib beim Thema.«

Frederike akzeptierte den Verweis mit einem leichten Kopfnicken. Heute war kein guter Tag für Klara. »Ich dachte beim Lauschen mehr ans Personal. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass sich jemand der Bewohner auf seine alten Tage als Massenmörder betätigt.«

»Unterschätze die Alten nicht.« Klara sah sie aufmerksam an. »Manche sind hier ganz schön aggressiv.«

»Denkst du da an jemand Besonderen?«, hakte Frederike nach.

»Nein, tue ich nicht. Aber ich kenne auch nicht alle so gut, dass ich für jemanden die Hand ins Feuer legen würde.«

»Gut zu wissen«, bemerkte Frederike und nahm sich noch eine Tasse Tee.

Klara stand auf, um Gebäck zu holen.

»Mmh, Schokoladenplätzchen!« Frederike bediente sich und kaute erst mal eine Weile, bevor sie fortfuhr: »Wie ist es mit dem Personal? Jemand aus der Küche …«

»Du hast Heinz Fernmüller und seine Leute in Verdacht?«

»Ich haben jeden in Verdacht. Solange wir nicht wissen, was passiert ist, können wir nichts und niemanden ausschließen«, stellte Frederike klar.

»Mich kannst du ausschließen«, erklärte Klara bestimmt.

»Nein, ehrlich gesagt kann ich das nicht.« Frederike schaute Klara fest in die Augen. »Aber du stehst ganz unten auf meiner Liste.«

Klara lachte kurz auf. »Ich sollte jetzt beleidigt sein. Ich weiß nur noch nicht, weshalb. Weil du mich verdächtigst oder weil ich ganz unten auf deiner Liste stehe?«

Frederike zuckte mit den Schultern. »Denk drüber nach. Ich muss jetzt los. Bei Gelegenheit würde ich gerne deine nette Runde kennenlernen.« Sie erhob sich und ging zur Tür. »Bleib sitzen, ich finde schon allein raus.« Sie stockte kurz, bevor sie das Appartement verließ, und schaute Klara noch einmal an. »Passt auf euch auf. Bitte!«

Sie war beunruhigter, als sie zugab. Hatte Käthe Gilles möglicherweise gestern in ein Wespennest gestochen? Und was war dann mit den anderen der Caférunde? Waren auch sie in Gefahr? Sie wusste nicht, wo sie anpacken sollte. Aber sie spürte: Irgendetwas stank hier ganz gewaltig!

Schlaf schön

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