Читать книгу Meine Trauer traut sich was - Andrea Riedinger - Страница 5
ОглавлениеKAPITEL 1 Das kann nicht wahr sein
Warum Sie mehr Kraft haben, als Sie denken
„Wir haben da was gefunden. Ich bin sofort bei Ihnen.“ Kaum aufgetaucht, rauscht der Arzt mit wehendem Kittel auch schon weiter den Flur entlang. Wir starren uns entsetzt an. Der Schokoriegel, der unser Abendessen ersetzt, bleibt mir fast im Hals stecken. Langsam verhallen die Schritte und wir sind wieder allein in einem abgelegenen Teil der Augenklinik. Es ist bereits dämmrig und durch das Fenster sehen wir die vielen Lichter von Stuttgart aufblitzen. Der Buggy mit unserer schlafenden Tochter steht zwischen uns. Nach langem Kampf hat ihre Müdigkeit endlich gesiegt. Wie soll ein Kind auch zur Ruhe kommen, wenn es die innere Anspannung beider Elternteile spürt, sich stundenlang in stark frequentierten Krankenhausgängen aufhält und statt dem vertrauten abendlichen Milchfläschchen auf einmal einen Plastikersatz mit Milch vorgesetzt bekommt, den wir kurzfristig samt Windeln in einem Drogeriemarkt erstanden hatten, da wir auf so einen langen Tag auswärts gar nicht vorbereitet waren.
Die Ärzte haben etwas gefunden. Das Etwas befindet sich im Kopf meines Mannes, denn die vorausgegangene Untersuchung, auf deren Ergebnis wir seit einer gefühlten Ewigkeit warten, war eine Kernspintomografie des Schädels. In den ersten Sekunden sind wir weder fähig zu sprechen noch uns zu bewegen. Es ist gespenstisch still in diesem Wartebereich. Wir halten uns fest an den Händen und versuchen beide, die ungeheuerlichen Worte zu begreifen. „Der kann uns doch mit diesem Satz nicht einfach sitzen lassen.“ Meinem Entsetzen folgt Wut, mit der ich mich ein Stück weit abzulenken versuche von der näherkommenden Bedrohung, gegen die ich mich innerlich mit aller Macht wehre. Ich bin wütend auf diesen unsensiblen Arzt, stellvertretend für alle, die uns seit heute Morgen immer wieder warten lassen: auf diverse Augenuntersuchungen, die Entscheidung, dass eine Notfall-Kernspintomografie gerechtfertigt ist und schließlich auf die eigentliche Aufnahme. Denn als dieser Termin am Spätnachmittag endlich erreicht war, verzögerte sich die bildgebende Untersuchung immer wieder aufgrund dringenderer Notfälle. Letztendlich saßen wir allein drei Stunden vor dem Untersuchungsraum der Radiologie. Mittlerweile ist es 21 Uhr abends. Meine Nerven sind kurz vor dem Zerspringen. Und nun dieser eine Satz. Er bringt unser Leben ins Wanken. Das kann ich förmlich spüren. Doch begreifen will ich es nicht.
Andi sieht seit gestern immer wieder Doppelbilder, als spielten ihm seine Augen einen Streich. Morgens war es noch eine Unschärfe gewesen, doch im Verlauf des Tages verschoben sich die Bilder immer mehr. Er hatte den Tag geschäftlich in Bremerhaven verbracht und kam erst in den Abendstunden zurück. Als er das Wohnzimmer betrat, saß ich vor dem Fernseher und schaute das „heute-journal“. „Ich sehe die Marietta heute zweimal.“ Er zeigte auf die Nachrichtensprecherin. „Und von den Vasen da oben gleich vier.“ Ich folgte seinem Blick auf die Schrankwand, auf der zwei Glasvasen standen. „Wie bitte?“ Das klang so grotesk, dass ich im ersten Moment zu lachen anfing. Aber es verging mir schnell, denn seine Stimme klang nicht so, als würde er mich auf den Arm nehmen.
Doch mit seinen Augen ist alles in Ordnung. Aus diesem Grund sitzen wir immer noch hier und warten unruhig auf den Arzt.
Das Leben steht Kopf
Völlig unvorhergesehen und ohne jede Vorwarnung schlägt ein Schicksal zu. Eine niederschmetternde Diagnose, der Tod eines lieben Menschen, ein verheerender Unfall mit schwerwiegenden Folgen, eine überraschende Naturkatastrophe, eine schmerzvolle Trennung oder der Verlust der Arbeitsstelle, an der man zwanzig Jahre seinen Platz gefunden hat – das alles sind einschneidende Ereignisse, die ein Leben von heute auf morgen völlig verändern und den Betroffenen in eine tiefe Krise stürzen. Schwierigen Situationen können wir nicht entgehen. Unglücke passieren. Krankheiten entstehen. Todesfälle folgen. Das alles ist schrecklich und wird es auch immer bleiben. Krisen gehören zum Leben, das wissen wir. Doch für jeden Menschen, Angehörigen, Freund oder Partner ist es eine ganz persönliche und noch nie dagewesene bittere Erfahrung, die plötzlich und unerwartet das Leben auf den Kopf stellt. Es ist etwas passiert. Von einer Minute auf die andere. Etwas Schreckliches, etwas Einschneidendes, ohne dass es aufgehalten werden konnte. Es ist sofort spürbar, bedrohlich, aber noch nicht richtig greifbar. Alles scheint auf einmal anders, vieles ist in Unordnung geraten.
Noch einen Tag, bevor mein Mann erste Beschwerden hatte, hielten wir unser Leben für leicht, unbeschwert und mal abgesehen von banalen Alltagsproblemchen für sorgenfrei. Wir hatten keinerlei Vorstellung von dem, was noch auf uns zukommen sollte. Wie auch? Krisen gibt es. Klar, das wussten auch wir. Doch weder Geschichten aus dem Bekanntenkreis, den Nachrichten, der Tageszeitung noch Erzählungen von Kollegen brachten uns früher zum Nachdenken. Ich bereue das im Nachhinein nicht. Im Gegenteil. Ich denke, wir unterschieden uns da kaum von vielen anderen in unserem Umfeld. Sich schlimme Szenarien auszudenken, hilft einfach nicht weiter. Genauso wenig kann man allen lauernden Gefahren ausweichen. Sämtliche Verkehrsmittel wie Auto, Zug oder Flugzeug zu umgehen, um einen Unfall zu vermeiden, ist in der heutigen Zeit nicht praktikabel. Sich vorsorglich ständig auf neue Arbeitsstellen zu bewerben, um einer eventuellen Arbeitslosigkeit zu entrinnen, macht einfach keinen Sinn. Eine Vorbereitung auf einen Schicksalsschlag ist und bleibt unmöglich. Er kommt immer überraschend.
Heute beneide ich diejenigen, die diese Sorglosigkeit noch verspüren und ihr Leben mit der festen Überzeugung leben, dass schon nichts passieren wird. Die nach vorne sehen und die nächsten zehn Jahre ohne große Stolpersteine vor Augen haben. Keiner weiß, was kommt. Doch leider bin ich mittlerweile einen Schritt voraus und werde diese schöne, beruhigende Naivität und Arglosigkeit deshalb niemals mehr einfangen können.
Aber genau diese Arglosigkeit ist es, die einen zur Salzsäule erstarren lässt, wenn das Schicksal von heute auf morgen zuschlägt. Die Gutgläubigkeit, dass schon alles gut gehen wird, und die Sorglosigkeit, die bis gestern noch vorhanden war. Doch auf einmal gelten diese Grundsätze nicht mehr. Ein Schock. Urplötzlich herrschen andere Emotionen: Angst, Entsetzen und Hilflosigkeit führen das Regiment und lassen Betroffene kaum einen klaren Gedanken fassen. Zudem sind die neuen Tatsachen fernab aller Vorstellungskraft, sie kommen so überraschend, sind grausam und anders als alles zuvor Dagewesene, dass Menschen in Krisen im ersten Moment nicht anders können, als abzuriegeln und alles von sich zu weisen: Die Diagnose kann nicht stimmen, der Arzt muss sich irren. Mein Mann wird bestimmt wieder gesund, so früh darf man nicht sterben. Mein Partner will sich bestimmt nicht endgültig von mir trennen, sondern überlegt es sich noch mal. Es werden Stellen abgebaut, aber mich trifft es mit dem Arbeitsplatzverlust bestimmt nicht. Die Flut kann unser Haus nicht treffen, vielleicht die anderen, aber unseres sicher nicht. Nein. Nein. Nein! Das kann alles nicht wahr sein. Das geht einfach nicht.
Ich weiß noch, dass Andi an dem Abend, als er zum ersten Mal Doppelbilder wahrnahm, unser Gesundheitsbuch aus dem Bücherregal zog und ausgestreckt auf dem Fußboden darin zu blättern begann. Es gab in dem Ratgeber ein Diagramm, bei dem Symptome abgefragt wurden. Er las laut vor und wir verfolgten quasi seine Spur. Bereits dort gab es einen Pfeil in Richtung Hirntumor, natürlich mit dem Hinweis, bei dieser Symptomatik zur Abklärung zum Arzt zu gehen. Doch für uns beide war das so weit hergeholt, schrecklich und absolut unvorstellbar, dass wir uns ansahen und einstimmig beschlossen: „So ein Quatsch. Jetzt lassen wir die Kirche mal im Dorf“, und Andi das Buch zuklappte und es zurück ins Regal stellte. Doch aus Quatsch wurde Ernst. Bitterernst. Denn zwei Wochen später lautete seine Diagnose: Lymphome im Gehirn, also ein Hirntumor.
Menschen, die mit einem Schicksalsschlag konfrontiert werden, versuchen ihn zu ignorieren und schieben die furchtbare Realität beiseite: Ich kann das nicht ertragen! Ich halte das nicht aus! Diese Gedanken rücken sofort in den Vordergrund. Betroffene fühlen sich nicht in der Lage, die heftigen Auswirkungen einer Krise zu stemmen. Sie fühlen sich zu schwach, um die Unordnung in ihr Leben eindringen zu lassen. Sie wollen wieder zurück zu Stabilität und Sicherheit. Zurück zu vertrauten Dingen. Genau deshalb wird das Schlimme einfach verdrängt. Die Realität ausgeblendet. Einem schwer verletzten Unfallopfer kommen Gedanken wie: Ich gebe die Funktion meiner Beine nicht auf! Das wird besser. Wie soll ich denn mit einem Rollstuhl zurechtkommen? Ich bin völlig ungeschickt. Ich kann das nicht. Und die Blicke, die Rollstuhlfahrer kassieren, ertrage ich sowieso nicht. Ich werde wieder laufen können.
Doch kommt man mit einer Vogel-Strauß-Mentalität vorwärts? Einfach, in Bildern gesprochen, den Kopf in den Sand stecken und so tun, als wäre bald wieder alles gut und beim Alten? Sicher nicht. Es ist genau andersherum: Wer sich der Realität verweigert, der schlägt einen Weg ein, der die Situation zusätzlich noch verschlimmert.
In unser Wohnzimmer hängte ich direkt nach der Beerdigung ein Bild von meinem Mann, das wir während der Trauerfeier in der Aussegnungshalle aufgestellt hatten. Dieses Bild war recht groß und hing direkt neben der Küche. Es war also ein Platz, an dem ich sehr häufig vorbeimusste. Doch stehen blieb ich selten davor. Das Einzige, was ich ihm wochenlang gedanklich oder verbal entgegenschleuderte, sooft ich auch daran vorbeikam, waren die Worte: „Andi, das geht nicht!“ Zu mehr Gedanken war ich nicht in der Lage, mehr hätte mich restlos überfordert. Ich konnte und wollte seinen Tod nicht akzeptieren. Ich war darauf nicht vorbereitet, sein Sterben hatte mich eiskalt erwischt. Genauso wenig wollte ich wahrhaben, dass er mich alleingelassen hat, ohne Schuld zweifellos, und trotzdem war es so. Nach zwölf Jahren Beziehung, einem gemeinsamen Kind und zehn schrecklichen kräftezehrenden Krankheitsmonaten wollte ich das alles nicht glauben. Der Schmerz saß so tief, dass das Nachdenken darüber jedes Mal eine neue Welle des Leidens auslöste. Und deshalb schob ich es einfach beiseite. Ich war innerlich erstarrt, gerade noch dazu in der Lage, mein Kind zu versorgen. Mehr war erst mal nicht möglich. Doch das konnte kein Dauerzustand werden. Das wurde mir recht schnell klar.
Welche Auswirkungen hat denn ein permanentes Ignorieren und Schönreden? Das Wegschieben der Realität, die Betroffene einfach nicht wahrhaben wollen? Dieses Verhalten kostet Kraft. Und zwar jede Menge. Denn hier versuchen wir, etwas aufrechtzuerhalten, was es nicht mehr gibt.
Zusätzlich zum Ausblenden der Realität lauert noch eine weitere Gefahr, die in einer Krise einen unheimlichen Kräfteverlust birgt. Die Frage nach dem Warum: Warum hatte ich diesen schrecklichen Verkehrsunfall? Warum nur ist mein Mann so schwer erkrankt? Warum habe ich meinen Job verloren und nicht der Kollege ohne Familie? Warum ist unsere Beziehung gescheitert, obwohl jahrelang alles gut lief? Wieso nur muss mir das passieren? Was habe ich getan, dass das Leben mir so viel abverlangt?
Es ist ganz natürlich, dass diese Fragen anfangs gestellt werden. Sie schaffen eine gewisse Erleichterung und jeder Betroffene kennt sie. Trotzdem ist es wichtig, nicht an diesen Sätzen hängen zu bleiben. Denn die Situation ändert sich dadurch nicht. Ganz im Gegenteil. Gelöst hat diese Fragen kaum einer. Es gibt oft keine Antworten, so sehr wir auch danach suchen. Und selbst wenn sich eine Erklärung findet, hilft das trotzdem nicht weiter. Ändert sich denn die Lage für einen gekündigten Arbeitnehmer, wenn er die Beweggründe seines früheren Chefs genau nachvollziehen kann? Schlichtweg nein. Er ist und bleibt arbeitslos und muss sich einen neuen Job suchen.
Sich gegen die Krisensituation aufzulehnen, sie zu ignorieren, anzuzweifeln, zu hadern oder sich Dinge schönzureden ist eine absolut normale Erstreaktion, die der Schock des Schicksalsschlags mit sich bringt. Doch diese Verhaltensweisen führen nicht weiter. Dabei ist das Vorankommen in einer Krise unheimlich wichtig. Und dafür braucht es Kraft!
Die Welt dreht sich von einer Minute auf die andere für Betroffene und Nahestehende völlig anders. Den Tagesablauf von gestern gibt es nicht mehr. Von heute auf morgen gibt es neue Wege, die vor einem liegen und enorme Herausforderungen bergen, die der Einzelne kaum bewältigen kann: Ein Arbeitsloser muss die Schwelle zum Arbeitsamt übertreten. Weder Gebäude noch Menschen sind ihm vertraut, und dieser Schritt kostet jede Menge Überwindung. Gleichzeitig ist die Sorge um die eigene Existenz ungeheuer groß. Selbst der Anruf bei einem Anwalt fällt getrennt lebenden Ehepartnern schwer, denn schon der Griff zum Hörer bedeutet, eine Trennung offiziell voranzutreiben. Und auch der Weg in ein Krankenhaus ist nicht einfach, wenn eine monatelange Therapie auf dem Plan steht und die Klinik nicht, wie bisher nach einer ambulanten Behandlung, am gleichen Tag wieder verlassen werden kann. Allein die Sorge um die eigene Gesundheit beschäftigt dabei immens, doch auch die Situation mit dem Arbeitsplatz oder Fragen innerhalb der Familie müssen für diese Zeit neu gelöst werden.
Der Weg ist hart und kostet viel Energie. Doch Kraft ist vorhanden. Wir müssen sie nur an der richtigen Stelle nutzen, anstatt auf falsche Strategien wie Ignorieren oder Hadern zu setzen.
Ja, es ist ein Albtraum
„Andi, du hast Krebs, nicht irgendeine Blinddarmentzündung, die jeder Chirurg in Deutschland behandeln kann. Nein, Lymphknotenkrebs. Und deshalb gehen wir natürlich nach Freiburg. Auch wenn das für uns alle ein paar Umstände mehr bedeutet.“ Meine Stimme ist aufgebracht und ich sitze senkrecht auf der vorderen Kante des Sofas im Wohnzimmer. Seit Tagen machen wir uns Sorgen, wie es weitergehen soll. Die erste Chemotherapie hat zu keinem positiven Ergebnis geführt. Der letzte Befund war ein weiterer Schock. Doch soeben öffnet sich erstmals ein kleines vielversprechendes Türchen. Das Zögern meines Mannes kann ich deshalb nicht nachvollziehen. Er steht immer noch unschlüssig mit dem Telefon in der Hand vor mir.
Vor ein paar Minuten hat er das Telefonat mit einem Hämatologen der Freiburger Universitätsklinik beendet. Der Arzt ist Leiter der Studie, nach der Andis weitere Behandlung erfolgen soll. Er bot Andi an, ihn direkt vor Ort zu therapieren. Die andere Möglichkeit ist ein Krankenhaus in Stuttgart, das jedoch immer in Absprache mit Freiburg agieren müsste. Und dass solche Rückfragen sehr viel Zeit kosten können, hat Andi in den letzten Tagen zur Genüge erfahren. Doch meine Argumente scheinen an ihm abzuprallen. In sich zusammengesunken sitzt er auf einem Hocker und starrt auf den Boden.
Nun mischt sich auch meine Schwiegermutter ein, die unser Gespräch bisher schweigend verfolgt hat und bringt das Ganze auf den Punkt: „Andreas, in dieser Situation geht man nicht zum Schmidtchen, sondern zum Schmidt.“ Die Redewendung ist neu für uns beide und bringt uns trotz des Ernstes der Lage zum Lachen. Selbst Svenja quietscht mit und freut sich über den scheinbaren Stimmungswechsel. Andis Mutter hat vollkommen recht. Der Schritt muss erfolgen, egal was das für einen Kraftakt für alle Beteiligten nach sich zieht. Doch die Entscheidung liegt allein bei Andi.
Es half alles nichts – kein Jammern, kein Klagen, kein Ignorieren, kein Schönreden. Wir mussten der Realität ins Auge sehen. Vor allem Andi. Er stand aufgrund der erfolglosen ersten Therapie zu diesem Zeitpunkt mehr unter Schock als nach der Krebsdiagnose am Anfang. Die Lage war brenzlig. Unsere Angst grenzenlos. Ein Albtraum. Doch Andi stellte sich ihm. Er ließ sich überzeugen und leitete selber noch am gleichen Tag die Aufnahme in Freiburg in die Wege. Diesen Schritt bereute er nicht einen einzigen Tag. Ganz im Gegenteil. Er hatte das Gefühl, alles versucht zu haben.
Was genau bewirkt es, wenn die Bedrohung, der Verlust, der Schmerz oder die Veränderung in einer Krise wahrgenommen werden? Zumindest das Ignorieren und Verweigern hat ein Ende. Aber was genau bringt das? Welchen Vorteil? Durch das Ende der Verweigerungstaktik werden Kräfte frei, die bisher genau dafür benötigt wurden. Wir haben schlicht und einfach mehr Kraft zur Verfügung. Und diese können wir nutzen. Denn in der akuten Krisensituation benötigen wir davon besonders viel zum Weitermachen.
Übertragen auf die Situation des schwer verletzten Unfallopfers bedeutet das: Wird er immer weiter ignorieren, dass seine Beine nicht mehr in der Lage sind, ihn zu tragen, verweigert er auch den Rollstuhl? Lässt er aber den Gedanken zu, dass der Rollstuhl nun einen Gehersatz darstellt, der es ihm ermöglicht, sich wieder ohne Hilfe von anderen Personen zu bewegen, kommt er auch tatsächlich vorwärts. Er kann seine Kraft, die er bisher immer für den Gedanken – ich werde bald wieder laufen können – verbraucht hat, in Energie für das Annehmen des Rollstuhls umwandeln.
Und ähnlich verhält es sich auch mit den oben genannten Warum-Fragen. Sie verbrauchen zu viel Kraft. Dem Verletzten passiert das beispielsweise bei folgenden Sätzen: Warum bin ich nur so schnell gefahren? Warum hat der andere Autofahrer nicht richtig aufgepasst? Warum bin ich an dem Morgen nicht eine halbe Stunde später gestartet? … Diese Fragen helfen nicht weiter. Sie lassen sich nicht lösen. Und selbst wenn, bleiben seine Beine geschädigt. Es ist nicht die Frage nach dem Warum, die einen weiterbringt, sondern die Frage nach dem: Was ist jetzt zu tun? Oder: Wie schütze ich mich, wie wappne ich mich für die nächste Zeit?
Ich sage nicht, dass diese Strategie einfach zu bewältigen ist. Ganz und gar nicht. Denn einen Schicksalsschlag wahrzunehmen, heißt ja noch lange nicht, dass Ängste, Verzweiflung und Sorgen verpuffen. Doch allein das Hinsehen ermöglicht eine Vorwärtsbewegung, während das Verleugnen der Realität genauso wie die Fragen nach dem Warum in die Irre führen.
Bei der Recherche zu diesem Buch habe ich gelernt, dass auch der Vogel Strauß schlauer ist als sein Ruf. Obwohl sich das Gerücht über ihn stetig hält, steckt keines dieser Tiere seinen Kopf tatsächlich in den Sand. Im Gegenteil: Sie sehen ihren Feinden ins Gesicht, auch wenn sie sich manchmal hinlegen und den Hals senken, um für andere Tiere nicht gleich erkennbar zu sein. Würden sie den Kopf in den Sand stecken, hätten sie niemals eine Chance zur Flucht und wären jedem Raubtier sofort als Opfer ausgeliefert. Hinzusehen hilft also auch dem Vogel Strauß. Wie richtet ein Betroffener in einer Krise nun aber Schritt für Schritt den Blick auf die Realität, um dem Schicksal in die Augen zu sehen?
Denk positiv – oder doch nicht?
„Ich fühle mich den Ärzten völlig ausgeliefert. Ich bin eine Nummer und die rennen rein, blättern die Krankenakte durch, ohne groß aufzusehen, sprechen mit mir ihr Fachchinesisch und sind schon wieder weg.“ Die Stimme meiner Freundin Ute ist am Telefon kaum zu hören und zittert. Seit drei Tagen liegt sie im Krankenhaus. Diagnose Brustkrebs. Auch das weiß sie erst seit Kurzem. Operiert wurde sie heute. „Gestern wurde mir ein Laufzettel für das Screening in die Hand gedrückt: Lunge, Leber, Knochen. ‚Gehen Sie mal zu den Untersuchungen!‘, so eine Schwester. Das Blatt sah aus wie ein Einkaufszettel, bei dem angekreuzt war, was mitzubringen ist. Ob ich das seelisch alleine stemmen kann, war denen ganz egal. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Mir ist nur noch schlecht und ich will von allem einfach nichts mehr sehen und hören.“
Hätte ich selber in den vergangenen Jahren nicht viele ähnliche Situationen wie meine Freundin durchlebt, wäre ich sicherlich der Meinung gewesen, sie nun ganz schnell wieder aufrichten zu müssen. Ich hätte ihr so viel positiven Zuspruch wie möglich erteilt und mich verbal an die gute Prognose und die hinter ihr liegenden Dinge geklammert.
Doch so ließ ich sie weinen, jammern und sich beklagen, bis sie selber genug davon hatte. Ich hörte zu und fragte nach, ohne auch nur einmal das Gespräch ins Positive wenden zu wollen. Letztendlich ergab sich das auch ganz von alleine und nach einer halben Stunde waren wir schon wieder am Kichern, auch wenn das weitere Telefonat stimmungsmäßig von Höhen und Tiefen geprägt war.
Es ist dieser Satz: „Denk positiv!“, von dem ich selber genug habe. Immer wieder habe ich ihn gehört, immer wieder hieß es von außen: nicht aufgeben, kämpfen, es wird besser, lasst euch nicht unterkriegen. Und mein Gedanke dabei war immer: Du hast ja keine Ahnung, auch wenn ich wusste, dass der Zuspruch freundlich und gut gemeint war. Trotzdem steckte auch in mir die Haltung, negative Gedanken möglichst zu verbannen. Heute denke ich anders darüber. Es hätte mir und bestimmt auch meinem Mann gutgetan, wenn wir gleich zu Beginn seiner Krankheit unseren Ängsten und Befürchtungen mehr Raum gegeben hätten. Es waren sicher sehr ähnliche Sorgen und der Austausch hätte uns geholfen. Doch größtenteils verschwiegen wir sie und klammerten uns an die Hoffnung, dass schon alles gut gehen wird.
Ich halte nichts davon, die Augen vor der Realität zu verschließen, doch trotzdem bin ich der Meinung, dass besonders am Anfang – immerhin hat der Blitz gerade erst eingeschlagen – jeder Mensch, der eine Krise durchlebt, und auch die nahen Angehörigen, Verständnis für negative Gedanken, Mutlosigkeit und Pessimismus verdienen. Schließlich stehen sie momentan einem Scherbenhaufen gegenüber. Wann, wenn nicht jetzt, darf man sein Leben denn anzweifeln? Wann ist es einem schon mal vergleichbar schlecht ergangen?
Wenn von einem Haus nach einer Brandkatastrophe nur noch Schutt und Asche übrig sind, schockt allein der Anblick. Nichts ist mehr da: keine Möbel, keine Kleidung, keine Fotos, keine Dokumente. Auch wenn Betroffene zum Glück ihr Leben retten konnten, bleibt der Rest unwiederbringlich verloren. Wer könnte in diesem Moment zupacken, optimistisch nach vorne schauen und denken, dass das schon wieder hinzukriegen ist? Sicher kaum jemand. Und das ist nachvollziehbar.
Ängste muss man aussprechen dürfen, denn allein schon die Auseinandersetzung mit ihnen nimmt den ersten Schrecken. Sorgen muss man teilen, um sie wieder in einem neuen Licht zu sehen. Seine Wut darf man äußern, denn unterdrücken schadet nur. Die Traurigkeit darf gelebt werden, denn jeder Mensch hat Trost verdient. Nach dem Brand ist der Vater der Familie vielleicht in erster Linie in Sorge, wo alle die kommenden Nächte verbringen sollen, die Mutter hingegen trauert um die vielen Erinnerungsstücke, der Sohn ist wütend auf den Verursacher und die kleine Tochter hat unheimliche Angst vor einer weiteren Feuerkatastrophe. Keine Reaktion in einer Krise gleicht der anderen. Menschen sind verschieden, das Schicksal unterschiedlich, die Lebenssituation eine andere. Was den einen traurig stimmt, macht den anderen wütend, den Dritten teilnahmslos oder weinerlich. Alles ist erlaubt, denn an diesem Punkt muss jeder einen eigenen Weg für sich finden. Stimmungsschwankungen sind an der Tagesordnung. Doch auch das ist völlig normal.
„Denk positiv!“ ist kein Leitsatz, an dem wir uns von Anfang an festhalten sollten. Denn was heißt das denn im Umkehrschluss? Was ist, wenn ich einfach nicht positiv denken kann? Habe ich dann eine gewisse Mitverantwortung an meiner Situation? Störe ich den Heilungsprozess, verbaue ich mir selber den Weg, um wieder glücklich zu werden, verzögere ich den Wiederaufbau eines Hauses oder falle ich meinem Partner, der Familie oder dem Freundeskreis so unnötig zur Last?
Ich bin der Meinung, es ist nicht richtig, hier irgendeine Art von Mitverantwortung zu unterstellen. Selbst in der Medizin herrscht keine Klarheit, ob eine kämpferische Einstellung und positives Denken bei schweren Krankheiten die Heilungschance erhöht oder nicht. Wer als echter Kämpfer gegen seine Krebserkrankung gilt, ist der frühere Radsportprofi Lance Armstrong. Ihm half seiner Meinung nach sein Lebensmotto „Live strong“ (Lebe stark) und er besiegte den Krebs. Glaubt man dagegen dem Deutschen Krebsforschungszentrum, so hat die Grundhaltung keinen Einfluss auf den Verlauf einer Krebserkrankung. Man muss nicht immer positiv denken und kämpfen. Bezogen auf den Radprofi bedeutet das, er hätte den Krebs auch ohne sein optimistisches Ziel, eine weitere Tour de France zu gewinnen, besiegt.
Letztendlich ist es wie bei vielem: Das Extrem ist ungesund. Das soll heißen, es muss Platz für Gefühle wie Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit, einen Raum für Ängste, Tränen und Trauer geben. Aber die Auseinandersetzung mit den Themen sollte gleichzeitig dafür sorgen, dass der Blick irgendwann in die Zukunft gerichtet werden kann und die aktuelle Situation angenommen wird. Das Schimpfen, Weinen, Hadern und Mutlossein muss von Betroffenen einfach gelebt werden, damit sie die Gefühle hinter sich lassen können, um anschließend die Kraft für den nächsten Schritt aufzubringen.
Es ist wie ein Atemholen, um neue Kraft zu schöpfen. Das lässt sich gut bei Kindern beobachten: Wenn ein Kind gerade auf dem Spielplatz vom hohen Klettergerüst gefallen ist, kommen die Eltern auch nicht herbei und sagen sofort: „Geht schon wieder“, wenn die Tochter oder der Sohn zu weinen anfängt. Das Kind wird getröstet und in den Arm genommen, bis der Schreck und der erste Schmerz verflogen sind. Diese kleine Auszeit hilft, dass sich das Kind meist von alleine wieder aufrappelt und Minuten später weiterrennt. Und genau das ist auch auf eine Krisensituation übertragbar. Nach dem ersten Schock braucht es Zeit zum Luftholen und Verständnis, bevor an ein „Weitermachen“ zu denken ist. Die Möglichkeit zur kleinen Atempause ist wie eine Kraftquelle und wirkt sicher besser, als wenn Betroffenen von Anfang an der Satz eingeimpft wird: „Es wird schon wieder alles gut werden, du musst nur daran glauben.“
Eine Auszeit, ja ein gewisses Verharren und Stehenbleiben kann in der Anfangsphase einer Krise guttun. Doch zu lange sollte keiner den Atem anhalten. Dann wird es ungemütlich. Aber was können wir nun tun, um unserer Hilflosigkeit und dem Gefühl des Ausgeliefertseins entgegenzutreten? Wie kommen wir der Realität ein kleines Stückchen näher?
Das Puzzlespiel
Es ist Mittagspause und verhältnismäßig ruhig auf den Fluren der Onkologie. Andi und ich sitzen seitlich auf dem Krankenbett und brüten über einem Schriftstück. Wenn wir den Kopf heben, sehen wir durch das hohe Fenster eine graue Wolkendecke und Schneeregen. Winterwetter eben. Unsere Beine baumeln nebeneinander und wir haben den kleinen Nachttisch herangezogen, um den daraufliegenden Befund der Radiologie näher unter die Lupe zu nehmen. Das ist alles andere als einfach, denn trotz mehrfachem Lesen verstehen wir kaum ein Wort. Doch jede Kleinigkeit ist für uns wichtig.
Neben dem Befund liegt aufgeschlagen der Pschyrembel, ein klinisches Wörterbuch, die Informationsquelle der Medizin. Das Blatt mit der Diagnose sieht langsam aus wie im Fremdsprachenunterricht, bei dem man Vokabeln übersetzt. Denn zu jedem unbekannten lateinischen Fachbegriff schreibe ich mit Bleistift die Übersetzung und gehe dann zum nächsten weiter. „Proliferation“, Andi blättert angespannt im Lexikon, bis die gesuchte Definition gefunden ist. „Wucherung“, seine Antwort. So geht das. Wort für Wort. Satz für Satz. Wie bei einem Puzzle setzen wir Stückchen für Stückchen zusammen, bis sich ein Bild ergibt, das uns erschüttert.
In den ersten zwei Wochen nach dem Ausbruch von Andis Krankheit tappten wir, was die genaue Diagnose anging, ziemlich im Dunkeln. Es fanden zig Untersuchungen statt, doch wir bekamen keine klare Antwort. Diese Zeit war schrecklich und stark verunsichernd.
Raumforderung! Mit diesem Begriff konfrontierten uns die Ärzte in den ersten Tagen ohne weitere Erklärungen. Doch was soll einem das als Laie sagen? Nach langem Warten vermuteten sie Entzündungen im Gehirn, vielleicht eine beginnende Multiple Sklerose, doch auch bösartiges Gewebe, also Krebs, stand nach wie vor im Raum. Ich kann verstehen, dass Ärzte sich erst einmal ein genaues Bild verschaffen müssen, doch niemand hat meinem Mann, selbst auf Nachfrage, den genauen Hintergrund der einzelnen Untersuchungen oder Begrifflichkeiten erklärt. Das Internet war es, was uns beide aufklärte. Diese Erfahrung war für Andi und auch für mich prägend.
Auf jeden Fall sehe ich bei schweren Krankheiten den behandelnden Arzt oder auch den Hausarzt im Fokus. Wer nicht Medizin studiert hat, für den ist die Krankenhauswelt ein Buch mit sieben Siegeln. Jeder Patient tut sich schwer, Ergebnisse, Befunde und Aussagen einzuordnen. Doch mein Mann wurde allein in fünf verschiedenen Krankenhäusern behandelt. Den speziellen Arzt seines Vertrauens gab es nur phasenweise. Und selbst innerhalb eines Krankenhauses tauchten bei den Visiten immer wieder andere Ärzte auf: Chefärzte, Oberärzte, Assistenzärzte, Hämatologen, Onkologen, Radiologen, Strahlenexperten, Neurologen, Neurochirurgen und, und, und. Es gab keine Stelle, an der alle Fäden zusammenliefen. Darum mussten wir uns schon selber kümmern. Und das taten wir, denn damit hatten wir beide das Gefühl, wieder agieren zu können und uns nicht hilflos zurücklehnen zu müssen und abzuwarten, bis uns eine neue Lawine überrollt. Wir saugten Informationen auf wie ein Schwamm, sortierten und bündelten diese, behielten vor allem bei einem Krankenhauswechsel die Übersicht und konnten Fragen fast immer sofort beantworten. „Der mündige Patient“ kursiert als Schlagwort immer wieder in der Presse. Doch leider ist es gar nicht so einfach, aufgeklärt und eigenverantwortlich den Ärzten, eben den Spezialisten, gegenüberzutreten.
Wer es schafft, die Kraft und Mühe aufzubringen und sich über seine Lage zu informieren, der richtet den Fokus automatisch auf das eigentliche Problem, auf den Kern der Krise, auf die Realität. Und genau auf diese Weise besteht die Chance, der Ohnmacht und der Hilflosigkeit zu entkommen. In kleinen Schritten lösen wir uns von dem furchtbaren Gefühl des Ausgeliefertseins.
Allein das Recherchieren und Faktensammeln entfernte meinen Mann und mich von der Warum-Frage und wir konnten den Blick auf den kommenden Weg, auf Andis Therapie richten. Wir konnten beide das Gefühl der Verzweiflung überwinden und hatten dadurch auch wieder Kraft, um zu handeln. Vor allem mein Mann befreite sich von dem quälenden Gedanken, das Problem aussitzen zu müssen und andere über sich bestimmen zu lassen. Der Wechsel nach Freiburg war sein Wunsch und nicht irgendeine Entscheidung eines Chefarztes.
Nach dem ersten lähmenden Schock bedeutet das eine enorme Hilfe. Es kommt eine gewisse Dynamik auf, die der Betroffene selber initiieren kann. Das stärkt. Gleichzeitig wird das Problem nicht einfach weiter ignoriert. Der Albtraum wird realer, was nicht heißt, dass er besser wird. Ein Puzzlestückchen ergänzt das andere. Ob man sich selber auf die Suche nach Informationen begibt oder eine vertrauensvolle Person findet, beispielsweise einen Arzt, Therapeuten oder sonstigen Berater, der für etwas Licht im Dunkel sorgt, ist dabei nicht entscheidend. Ausschlaggebend für Krisenbeteiligte ist allein das kraftgebende Gefühl, eine Bewegung wieder selber auslösen zu können und nicht tatenlos die Katastrophe weiter über sich ergehen lassen zu müssen.
Durch Stehenbleiben vorwärtskommen
„Sie kann es! Andi, seit heute kann sie es wirklich! Unsere Motte ist tatsächlich zum ersten Mal alleine Fahrrad gefahren!“ Ich stehe im Wohnzimmer vor Andis Bild und erzähle mit stolzer Stimme von dem großen Ereignis des heutigen Nachmittags.
Dem Schockzustand nach der Krebsdiagnose konnten sowohl Andi als auch ich relativ zügig entkommen. Ganz anders war es zehn Monate später. Es dauerte sehr lange, bis ich es nach dem Tod meines Mannes geschafft habe, wirklich wahrzunehmen, dass er nicht mehr da ist und dass sich diese Situation auch nicht mehr ändern wird. Eine Zeit des Ausblendens, des Haderns, des Sich-dagegen-Wehrens – eine gewisse Atempause, eben ein Stillstand – waren vorneweg zwingend notwendig gewesen, und diese Zeit habe ich mir unbewusst auch genommen. Es vergingen Wochen, vielleicht auch Monate. Doch mit einem Mal habe ich gemerkt, dass ich ihm trotz allem noch mehr zu sagen hatte als den Satz: „Andi, das geht nicht.“ Ich habe gelernt hinzusehen, denn meine Hast, das Dagegen-Ankämpfen und der verzweifelte Satz, den ich seinem Bild lange Zeit zuflüsterte, halfen mir kein Stück weiter und verbesserten überhaupt nichts. Wirklich gar nichts. Weder meine Ängste vor dem Alleinsein, vor der Verantwortung als Alleinerziehende noch meine Angst vor der Zukunft. Doch diesen Ängsten musste ich mich irgendwann stellen, das hatte ich auf einmal begriffen.
Und deshalb blieb ich eines Tages vor dem Foto stehen und schaute ihn erstmals wieder länger als nur eine Sekunde im Vorbeirennen an. Das war alles andere als leicht. Aber ab dem Moment, als ich ihn wieder richtig ansehen konnte, war es möglich, meine Trauer zuzulassen und mich meinen Ängsten zu stellen. Ich teilte meine Sorgen und die Verzweiflung mit ihm, aber auch die schönen Momente, beispielsweise das Fahrradfahren, auch wenn dabei eine große Traurigkeit mitschwang. Gerne hätte ich es Svenjas Papa überlassen, ihr das Radfahren beizubringen, oder wäre noch lieber zusammen mit ihm aufgeregt und jubelnd hinter dem Fahrrad unserer Tochter hergesprungen.
Ich war also mit einem Mal bereit, stehen zu bleiben, um mich gleichzeitig mit dieser Geste wieder vorwärtszubewegen. Meine Kraft wurde nun anders eingesetzt. Ich hatte Initiative ergriffen und hatte das Gefühl, den Stillstand und das Ignorieren durchbrochen zu haben. Ich war in der grausamen Realität angekommen. Den Albtraum gab es immer noch, doch anders als zuvor sah ich ihm nun in die Augen. Die Bedrohung, die ich bereits am ersten Tag im dunklen Gang der Augenklinik wahrgenommen hatte, war Wirklichkeit geworden. Gleichzeitig barg das Foto meines Mannes eine gewisse Vertrautheit und mit meinen diversen Dialogen brachte ich ihn wieder ein kleines Stückchen zurück in mein Leben. Das stärkte mich, und die Richtung, in die ich blickte, war plötzlich eine andere geworden. Ich hatte mich entschieden hinzusehen, den Schmerz in voller Bandbreite zuzulassen, wieder vorwärtszugehen, wenn ich auch noch überhaupt keine Ahnung hatte, wie dieser Weg ohne ihn aussehen soll.