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ОглавлениеKAPITEL 2 Der Mann vom TÜV
Wie wichtig es ist, die richtige Sprache zu finden
„Wieso können wir nicht gleich ins Freibad fahren?“ Die Stimme meiner vierjährigen Tochter klingt wenig verständnisvoll für mein heutiges Vorhaben und auch ich kämpfe mit meinem Pflichtgefühl, als ich den wolkenlosen Juli-Himmel über mir betrachte. Doch die blauen Fahnen des TÜV-Gebäudes sind bereits in Sicht. Das Auto fährt ruhig durch die letzte Kurve und ich atme innerlich auf, als ich weder ein ungewöhnliches Quietschen noch ein Klappern vernehme. Wir haben Glück. Bahn 3 ist leer und wir können uns ganz vorne einreihen.
Wenige Minuten später öffnet sich vor uns das große Rolltor. Ein älterer Mechaniker in blauer Montur weist uns freundlich ein. Scheinwerfer, Blinker, Bremslicht. Das Spiel beginnt und ich führe alle Anweisungen auf Zuruf meines Gegenübers aus. Auf dem Rücksitz ist es schlagartig still geworden. Die hallenden Geräusche, der ölige Werkstattgeruch und mein Hebel- und Knöpfchendrücken nehmen Svenja voll und ganz gefangen. Die Beleuchtung ist rasch geprüft. Wir klettern aus dem Wagen.
„Na, dann schauen wir mal, ob mit dem Auto von Papa und Mama alles in Ordnung ist.“ Der Mechaniker lächelt meine Tochter an und geht Richtung Autotür. Gar nicht mal unfreundlich fügt er noch hinzu: „Hat der Papa lieber mal die Mama geschickt?“, und zwinkert Svenja verschmitzt mit den Augen zu.
Ich hole tief Luft und überlege, ob ich darauf eingehen soll. Doch schon sagt Svenja ganz unverkrampft: „Das ist doch das Auto von der Mama. Mein Papa ist im Himmel, da braucht er keins mehr.“
Noch in der Bewegung hält der Mechaniker inne und sieht Svenja an. Seine Gesichtszüge entgleisen. Doch Svenjas Aufmerksamkeit ist längst auf den benachbarten Prüfstand gerichtet, von dem aus die Hupe eines Wohnmobils ertönt. Sie hat ja nur etwas klargestellt, was nicht ganz richtig war. Fall erledigt. Doch für den Mann vom TÜV ganz und gar nicht. „Sicherheit geprüft“ – das Logo auf seiner blauen Jacke sticht mir ins Auge. Doch bei diesem Herrn ist keine Spur mehr von Sicherheit zu erkennen. Fassungslos starrt er mich an und registriert peinlich berührt mein bestätigendes Nicken. Das Klischee „Ehefrau wird vom Mann zum TÜV geschickt“ trifft bei mir unerwarteter Weise nicht zu.
„Entschuldigung“, murmelt er in meine Richtung und verschwindet schnell im Innenraum meines Fahrzeuges. Die Elektronik sowie die diversen Lämpchen über dem Lenkrad werden auffallend lange und sorgfältig geprüft.
In den folgenden Minuten wagt der Mann kaum, mich anzuschauen. Jedem Blickkontakt weicht er aus, auch mit Svenja schäkert er nicht mehr herum. Es ist, als hätte er seine Zunge verschluckt.
Erst als die Plakette schon am Nummernschild klebt, sagt der Mechaniker zu meiner Tochter, die gerade einsteigen will: „Moment noch. Komm mal mit.“ Und schon sind beide auf dem Weg in Richtung Büro. Es dauert eine ganze Weile, bis ich das rosa T-Shirt meiner Tochter erneut aufleuchten sehe. „Mama, schau mal.“ Freudestrahlend stürmt sie auf mich zu und hält in beiden Händen je ein blaues Windrädchen. Zusätzlich steckt in jeder Faust eine kleine Tüte Gummibärchen, von deren Inhalt bereits ein Großteil in ihrem Mund verschwunden ist. Doch auch der Mann vom TÜV kommt nicht mit leeren Händen. Ungefähr zwanzig weitere Tütchen steckt er mir lächelnd zum Abschied zu. Nur mit Mühe findet er ein paar Worte: „Als Proviant. Gute Fahrt Ihnen beiden!“
So etwas passiert uns nicht
Je stärker und erschütternder ein Schicksalsschlag ist, desto weniger können wir das Geschehen in Sätze fassen. Es fehlen die Worte, um die Wahrheit, aber auch Anteilnahme und Entsetzen auszudrücken. Wir haben keine Stimme mehr.
Als ich erfuhr, dass die Ärzte bei meinem Mann Krebs vermuteten, fühlte ich mich von einem Moment auf den nächsten wie gefangen in einem Albtraum. „Das kann nicht wahr sein. Die Ärzte müssen sich irren.“ Mehr Gedanken ließ ich anfangs nicht zu. Doch Ärzte irren sich nur selten.
Sprachlosigkeit heißt nicht, dass einem alle Worte fehlen. Im Gegenteil. Es werden nur nicht die richtigen Worte genutzt. Die Worte, die die Realität klar und deutlich beschreiben. Das Wort Krebs beispielsweise hat viele Verwandte. Da ist die Rede von Knoten, Gewächs, Verhärtung, Wucherung, Geschwulst, Geschwür oder Furunkel, um nur einige zu nennen. Das kann alles Mögliche bedeuten – oder auch nichts. Doch das, was mein Mann hatte, war bösartig, ein maligner Tumor. Krebs.
K-R-E-B-S. Auch wenn es völlig verschiedene Arten, Therapien und Überlebenschancen gibt – dieses Wort ist eindeutig. Es bringt die Realität auf den Punkt.
Die gleiche kreative Sprachlosigkeit zeigt sich bei dem Wort Tod. Wer in der Zeitung aufmerksam die Todesanzeigen liest, erhält eine Fülle an Ideen, wie der Tod umschrieben werden kann. Da ist die Rede von heimgehen, entschlafen, ableben, dahinscheiden, verlassen, doch immer weniger von tot sein. Auch bei einem Menschen mit einer Behinderung versucht man sein Handicap mit „Der ist anders“ zu umschreiben, anstatt konkret zu sagen, was genau eigentlich anders ist. Und wenn ein Paar sich trennt, dann sagen sie nicht: „Wir sind gescheitert, unsere Beziehung ist am Ende.“ Sondern sie streuen sich und anderen Sand in die Augen: „Wir versuchen es mal anders. Wir sind ja immer noch beste Freunde. Wir nehmen uns eine Auszeit.“ Viele Menschen, die mit einem tiefen Einschnitt in ihr Leben konfrontiert werden, wollen die Realität ausblenden, indem sie sie nicht benennen.
In einem Märchen der Gebrüder Grimm muss die Müllerstochter aufgrund eines Versprechens ihr erstes Kind dem kleinen Männchen Rumpelstilzchen überlassen. Sie erhält jedoch die Möglichkeit, innerhalb von drei Tagen den Namen von Rumpelstilzchen zu erraten. Nur wenn sie das schafft, darf sie ihr Kind behalten. Wenn sie nicht den Namen dessen ausspricht, der ihr Glück bedroht, wird sie ihr Liebstes verlieren.
Anfangs ist sie der Situation hilflos ausgeliefert. Sie versucht es mit allen möglichen Namen, die ihr einfallen: von Kaspar und Melchior bis zu so exotischen und unwahrscheinlichen Namen wie Rippenbiest und Hammelswade. Keiner ist der richtige. Doch ein Zufall rettet sie. Ein Diener erfährt im Verborgenen den Namen Rumpelstilzchens. Sobald sie den wahren Namen ausspricht, sobald sie also die richtigen Worte für ihre Situation gefunden hat, ist die Bedrohung machtlos geworden. „… und riss sich selbst mitten entzwei“, heißt es im Märchen. Sobald sein wahrer Name ausgesprochen war, sind von Rumpelstilzchen nur noch Fetzen übrig geblieben.
So wie die Müllerstochter ohne das richtige Wort dem Geschehen hilflos ausgesetzt war, so geht es auch uns. Wir nennen alle möglichen Namen, nur nicht den einen. Sobald wir aber wagen, den richtigen, den wahren zu nutzen, also die Dinge beim Namen zu nennen, ist der Bann gelöst. Es sind Worte, die uns helfen, etwas Unvorstellbares zu benennen, unsere Ängste zu formulieren und sie nach und nach in den Griff zu bekommen.
„Ach, ich habe da was“, „Das schaffe ich“ oder „Das wird schon wieder“. Solche Umschreibungen benutzen Menschen für Krankheiten, über die sie eigentlich nicht sprechen möchten, weil sie Angst machen. Und genauso kommen diese Worte beim Gegenüber an: Sie wirken abwehrend. Der Wunsch von Freunden und Verwandten, sich nach Neuigkeiten zu erkundigen, wird im Keim erstickt. Ist das Wehwehchen unbedeutend, ließe sich dieses Verhalten nachvollziehen und wäre nicht weiter tragisch. Denn Wehwehchen vergehen. Wenn es sich aber um eine schwerwiegende Krankheit handelt, dann wirkt dieses Herunterspielen wie eine Mauer und verhindert genau das, was den Menschen menschlich macht: Mitgefühl und tätige Anteilnahme.
Wenn wir uns doch mit dieser Wortlosigkeit von unseren Nächsten abkoppeln, warum tun wir das dann? Warum benutzen wir für schlimme Dinge „Kosewörter“, obwohl genaue Definitionen und Namen vorhanden sind? Warum versuchen wir, uns die Realität so lange es irgend geht vom Hals zu halten? Warum schweigen wir, obwohl es doch so viel zu besprechen gäbe? Und dieses Schweigen ist nicht friedlich. Im Gegenteil. In uns drin tobt es. Und das ist gleichzeitig auch die Erklärung: Wir schweigen aus Ohnmacht und Entsetzen, die akute Bedrohung macht uns stumm. Die Erkenntnis, dass wir nichts tun können, um die Realität ungeschehen zu machen, macht uns fertig. Diese Hilflosigkeit ist schwer zu ertragen.
Um die richtigen Worte zu finden, müssen Betroffene hinsehen, das Problem beim Namen nennen. Erst so schaffen sie die Grundlage, um sich weiter mit der Situation auseinanderzusetzen.
Als mein Mann Andi und ich erfuhren, dass er an Krebs erkrankt war, versuchten wir uns mit der Krankheit, der Therapie und unserem neuen Alltag zu arrangieren. Das alles war schon schwer genug. Das Schlimmste aber war das Gefühl der Ohnmacht. Weil wir die Unausweichlichkeit nicht ertragen konnten, haben wir sie verleugnet.
Selbst „Profis“ wie die zuständigen Ärzte fanden nur schwer die richtigen Worte. Dabei behandeln Onkologen und Hämatologen doch regelmäßig schwer kranke Menschen! Sie sollten also durch ihre Ausbildung und Erfahrung zu heiklen Gesprächen in der Lage sein und diese mit Direktheit und Ehrlichkeit führen. Fehlanzeige! Vor der ersten Chemobehandlung stellte Andi der damals behandelnden Ärztin die Frage: „Werde ich es schaffen?“ Ihre Antwort: „Sie müssen.“ An diesem Satz hielten wir uns fest. Zehn Monate lang. Bis er plötzlich nicht mehr galt.
Dass wir noch lange nicht am Ende unseres Leidensweges angekommen waren, dass uns mit dem zweifellos bevorstehenden Tod meines Mannes noch viel Furchtbareres als die monatelange Behandlung erwartete, haben wir beide aus unseren Köpfen verbannt. Wir fanden keine Gedanken und somit keine Wörter für den Tod. Wir glaubten, dass die Auseinandersetzung mit ihm uns das letzte bisschen Sicherheit nehmen würde. Ein viel zu früher Tod durch eine mörderische Krankheit – so etwas Schlimmes passiert im Fernsehen, vielleicht dem Bekannten von Freunden oder einem fernen Verwandten. Aber das passiert doch bitte schön nicht uns! Das kann einfach nicht wahr sein.
Aber dann ist es doch geschehen.
Abschied ohne Worte
Ich sitze auf der Kante von Andis Krankenbett. Trotz früher Morgenstunde wird es langsam warm im Zimmer und die Markisen über den Balkonen fahren brummend nach außen. Vom Krankenhausflur ertönt gedämpftes Stimmengewirr und Geschirrklappern. Wie jeden Tag beginnt auf der Station langsam das Leben. Doch hier im Zimmer nicht.
Nichts ist alltäglich, wenig ist vertraut. Mir ist kalt und ich fröstele. Andis Hände wärmen mich und liegen in meinen. Er bewegt sich kaum mehr, muss gelagert werden. Trotzdem gibt er mir unendlich viel Halt. Doch das kann er nicht mehr lange.
„Er wird den morgigen Tag nicht überleben.“ Diesen Satz musste ich hören. Gestern. Erst schilderte der Oberarzt langwierig Andis Situation, ohne konkret zu werden. Viele Worte ohne Inhalt. Doch dann hatte ich ihn zu dieser direkten Antwort gezwungen. Auf einmal konnte ich es. Was ich selber monatelang verleugnet hatte, wollte ich nun endlich wissen. Ich musste es hören, um es wahrzunehmen. Wenige Stunden vor Andis Tod bewies ein Arzt Mut und redete Klartext.
Fassen kann ich es trotzdem nicht. Es ist unwirklich. Alles ist unwirklich. Doch es ist wahr. Er wird sterben. Er wird gehen, ohne sich zu verabschieden. Zumindest nicht mit Worten. Dazu ist er nicht mehr in der Lage. Seit fast einer Woche hat er nicht mehr gesprochen. Seine Augen ruhen auf mir. Auch mit ihnen kann man viel sagen. Doch es ist nicht das Gleiche. Und jetzt ist es zu spät. Wir haben unsere Chance verpasst. Wir wollten es nicht wahr werden lassen, aber das Leben lässt sich nicht austricksen. Wir haben uns an den sprichwörtlichen Strohhalm geklammert. Nun trägt er nicht mehr.
So vieles ist unausgesprochen geblieben. Plötzlich höre ich meine Stimme. Die Worte fallen schwer. Doch sie strömen aus mir heraus, auch wenn mir der Druck auf der Brust fast die Luft raubt und es in meinen Ohren rauscht. Dieser Monolog bringt mich an ungeahnte Grenzen. Ich konnte mir bisher nicht vorstellen, wie bedeutsam und wertvoll eine Stimme ist.
Es ist gut, dass ich Andi noch so viel habe sagen können. Ich hoffe, dass er es noch aufnehmen konnte. Doch eine Antwort habe ich nicht mehr bekommen. Ich habe zu spät begonnen, das Schweigen zu brechen.
Mein Monolog am Sterbebett hat mich verändert. In diesem Moment habe ich gelernt, dass Ignorieren nicht weiterhilft. Einem Schicksalsschlag kann man nicht ausweichen. Er trifft hart und schmerzhaft. Nichts kann einen vor diesem Schmerz bewahren. Auch nicht Verleugnen und Schweigen. Ganz im Gegenteil: Beides verstärkt nur die Unsicherheit, verlängert den Schmerz und macht ein aktives Umgehen oder gar ein Abschließen mit der Situation unmöglich. Dabei ist es so wichtig, aus der Passivität herauszukommen! Aus dem „Es-mit-sich-geschehen-lassen“. Denn die Sicherheit kommt nicht von allein zu uns zurück. Und ein „Zu spät!“ kann niemals mehr revidiert werden.
Es ist unsere Sprache, unsere eigene Stimme, die uns in Lebenskrisen Sicherheit oder zumindest ein Stück weit Halt gibt. Damit wir nicht völlig ausgeliefert sind und das Gefühl zurückgewinnen, unser Leben wenigstens teilweise wieder selber steuern zu können, müssen wir reden, ins Gespräch kommen. Ohne Gespräche mit uns, mit anderen, sind wir dazu verurteilt, in dem tiefen schwarzen Loch zu bleiben, in das uns das Schicksal hineingestoßen hat. Erst im offenen Dialog können sich Menschen in Krisensituationen mit der Realität auseinandersetzen. Das macht die Krise nicht ungeschehen, aber es nimmt uns das Gefühl des Ausgeliefertseins. Nicht nur mit sich selbst kommt man ins Reine. Im Austausch mit anderen finden wir neue Blickwinkel, im Gespräch erhalten Betroffene und Angehörige Halt und Beistand. Denn eine Stimme braucht ein Gegenüber. Das ist sehr wichtig.
Es passiert mir selbst auch heute noch, dass Menschen mir ausweichen, weil sie sich nicht in der Lage sehen, mit mir über mein Schicksal zu sprechen. Es gibt alte Bekannte, die die Straßenseite wechseln oder fluchtartig ein Geschäft verlassen, wenn sie mich sehen. Alles andere, nur nicht reden müssen! Ich versuche das nicht persönlich zu nehmen, doch es verletzt mich trotzdem. Und es ist grotesk, dass nicht sie es sind, die mir helfen, sondern dass ich es bin, die sich Gedanken um jene machen muss, die mit der Situation nicht zurechtkommen. Die sich auf einmal in meiner Gegenwart unwohl fühlen, weil mir etwas passiert ist, dass sie sich nicht in Worte zu fassen trauen. Ich war früher nicht anders.
„Wenn etwas ist, können Sie mich immer anrufen“, mit diesen Worten verabschiedet sich die Brückenschwester des Vereins für schwer kranke Tumorpatienten. Gestern wurde Andi nach einem schweren Krampfanfall aus dem Krankenhaus entlassen. Der Verein half uns, schnell und unkompliziert einen Rollstuhl und diverse andere Hilfsmittel für zu Hause zu besorgen. Ich schließe die Wohnungstür hinter der Schwester. Dabei fällt mein Blick auf das Faltblatt, das sie mir beim Gehen in die Hand gedrückt hat: „Palliative Care ist die Behandlung und Begleitung von Patienten mit einer nicht heilbaren, weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung“. Mit dem Rücken zur Tür gleite ich auf den Boden. Ganz langsam dringen die Worte, die ich gerade gelesen habe, in mir vor. Einen Moment bin ich geneigt, den Prospekt einfach zu zerreißen, als könnte ich damit etwas verhindern. Doch ich brauche die Telefonnummern. Vielleicht benötigen wir ja irgendwann noch weitere Hilfsmittel. Langsam stehe ich auf und verstecke das Faltblatt in meiner Handtasche.
Die Krankheit meines Mannes und die Konfrontation mit seinem Tod haben meine Ansichten und mich selbst verändert. Ich habe lernen müssen, die Situation anzunehmen und offen darüber zu sprechen. Meine Tochter hatte von Anfang an andere Voraussetzungen. Sie konnte den Themen Krankheit und Tod von klein auf nicht ausweichen. Für sie waren sie Normalität. Heute sorge ich dafür, dass unser Dialog darüber nicht abbricht. Wir haben eine Sprache gefunden, wir nutzen unsere Stimmen und entgehen somit einer Hilflosigkeit, die uns lähmen würde.
Die Müllerstochter hat im Märchen den richtigen Namen gefunden. In der Geschichte vom Rumpelstilzchen hat sie ihn ausgesprochen. Dort heißt es: Ende gut, alles gut. Doch was im Märchen so einfach klingt, erscheint im richtigen Leben unmöglich. Schließlich ist es unsere Hilflosigkeit, die uns sprachlos macht. Aber wie bekomme ich diese Hilflosigkeit in den Griff?
Kann der uns sehen?
„Was machst du da?“ Der vierjährige Ronny steht auf dem Rand der Korbschaukel des Kindergartens und beobachtet die gleichaltrige Svenja, die rücklings in der Schaukel liegt und Handküsse nach oben verteilt. „Ich schicke meinem Papa Küsschen. Der ist nämlich tot und wohnt jetzt im Himmel.“ Ronnys Blick wandert ebenfalls nach oben und er schaut angestrengt in die Luft. Kurze Zeit später beginnt er die Schaukel weiter anzuschubsen, bis sie sich wieder schwungvoll bewegt. „Kann der uns sehen?“
„Klar kann der uns sehen“, antwortet meine Tochter.
Es dauert eine Weile, bis Ronny ein weiteres Mal innehält. „Bäääh“, macht er und streckt die Zunge raus. Dann reckt er den Kopf in den Himmel und wartet ab, ob dort etwas passiert. Oben bleibt es ruhig, aber unten springt Svenja mit einem Satz von der Schaukel auf: „Hey, du darfst meinem Papa nicht die Zunge rausstrecken.“ Empört steht sie Ronny gegenüber.
Dieser grinst sie an und antwortet kess: „Wieso? Der ist doch tot.“
„Na und. Das darfst du trotzdem nicht!“ Das lautstarke Geschrei der beiden Kinder weckt die Aufmerksamkeit einer Erzieherin und die beiden Streithähne werden aus der Schaukel gezogen.
Als mir diese Situation wenig später beim Abholen von einer Erzieherin geschildert wird, muss ich herzlich lachen. Mehr noch, als ich das immer noch empörte Gesicht meiner Tochter sehe, die mir wutschnaubend im Garderobenraum entgegenläuft. Äußerlich verhalte ich mich ruhig, verkneife mir ein Grinsen und nehme ihren Ärger ernst. Ich drücke sie fest an mich und höre einfach zu. Ich bin stolz auf sie. Sie verteidigt ihren Papa genauso, wie sie es getan hätte, wenn er noch leben würde. Auch über einen toten Papa darf man diskutieren, denn nur so bleibt er in den Gedanken lebendig. Auch wenn sie sich heute geärgert hat: Ich wünsche ihr einfach noch viele weitere Situationen, in denen sie von ihrem Papa erzählen und ihn somit an ihrem Leben teilhaben lassen kann. Und für den kleinen Ronny hoffe ich, dass er seine unbekümmerte, etwas freche, aber ebenso neugierige Art weiterhin bewahrt.
Hilflosigkeit und Unsicherheit können überwunden werden. Kinder zeigen uns, wie es geht. Sie besitzen eine Unbefangenheit und Sorglosigkeit, die sich in ihrer Sprache wiederfindet. Sie handeln spontan und äußern ihre Worte ohne Hintergedanken. Gerade mit den Tabuthemen unserer Gesellschaft haben Kinder keine Berührungsängste. Sie nehmen sie, wie sie kommen, und fragen nach, wenn ihnen etwas Außergewöhnliches auffällt.
„Warum seid ihr denn nicht mehr zusammen? Mögt ihr euch nicht mehr?“ Oder: „Was passiert denn, wenn man tot ist?“ Und: „Tut das sehr weh?“ Kinder finden die richtigen Worte, nicht nur vage Umschreibungen. Die Erwachsenen empfinden diese Direktheit oft als sehr erfrischend und willkommen. Wenn Erwachsene ihre Gespräche nur genauso gelassen wie Kinder führen könnten! Dann hätten sie sicherlich nicht mit ihrer Sprachlosigkeit zu kämpfen. Dann würden sie selbst besser mit Schicksalsschlägen zurechtkommen und auch anderen, die in Krisensituationen geraten, besser helfen können.
Erwachsene haben diese Direktheit und Unmittelbarkeit verlernt. Bevor sie nur den Mund aufmachen, sind sie oft schon gedanklich zwei Stufen weiter und das „könnte“, „sollte“, „würde“ steht ihnen im Weg. „Wie wird sie reagieren, wenn ich sage, dass es mir so leidtut, dass ihr Kind diesen schweren Unfall hatte?“ Oder auch: „Es ist doch viel zu banal, wenn ich ihm sage, dass ich es furchtbar finde, dass seine Firma Pleite gemacht hat und er nun auf der Straße sitzt und sie vermutlich das Haus verlieren werden.“ Sie meinen: Bevor ich etwas Falsches sage, spreche ich lieber gar nicht. Sie schlucken lieber den ersten Satz hinunter, anstatt ihn fließen zu lassen. Und wenn der erste Satz fehlt, kommt auch kein zweiter mehr nach. Am Ende sagt niemand mehr etwas. Alle tun so, als ob nichts wäre. Schrecklich!
Durch Sprachlosigkeit wird eine Krise nur verschärft oder verkrampft. Niemandem hilft das. Gerade wenn jemand möglichst feinfühlig sein will und nur noch auf Zehenspitzen herumläuft, kann es denjenigen, der in der Krise steckt, wahnsinnig machen.
Ist es wirklich so einfach? Können Menschen die Dinge wirklich allein mit Worten wieder in den Griff bekommen? Nein, allein mit Worten geht das natürlich nicht. Aber sie sind der notwendige erste Schritt zurück in ein lebenswertes Leben. Ohne diesen ersten Schritt geht es nicht weiter.
Nur im Dialog hat man die Chance, andere an Ängsten und Sorgen teilhaben zu lassen. Das Unglück wird dadurch nicht ungeschehen gemacht, es wird aber auf mehrere Schultern verteilt. Im Gespräch mit anderen erfahren wir, dass Menschen Trost spenden und Mut machen können. Eigene Gedanken können sortiert werden und lassen sich manchmal danach in einem anderen Licht sehen.
Erst ein Jahr nach Andis Tod habe ich eine Gesprächstherapie begonnen. Es war ein Angebot der Evangelischen Kirche in einer psychologischen Beratungsstelle. Anfangs war es eine Kopfentscheidung. Ich war skeptisch und eigentlich der Meinung, so etwas nicht zu benötigen. Aber ich merkte, wie gut es mir tat, reden zu können. Ein Jahr lang hatte ich immer wieder die Möglichkeit, mir meine Sorgen von der Seele zu reden. Und zwar bei einer neutralen Person, die, egal was ich sagte, Verständnis für mich aufbrachte. Ich habe in diesem Jahr Halt gefunden und viel gelernt, vor allem über mich selbst. Wie gut, wie erlösend wäre es gewesen, hätte ich solche Gespräche auch mit Andi führen können. Doch weil wir seinen nahenden Tod weit von uns schoben, haben wir uns dieser Möglichkeit beraubt.
Während der Erkrankung meines Mannes haben wir über vieles gesprochen und das Nötige geregelt. Doch statt uns mit unseren persönlichen Gefühlen zu beschäftigen, kümmerten wir uns um Dokumente. Wir redeten über ein Testament und eine Vorsorgevollmacht, aber nicht über uns. Den Tod haben wir so zwar theoretisch abgehandelt, doch trotzdem immer auf Distanz gehalten. Wir haben viel über die Zukunft nachgedacht und darüber, was wir machen wollen, wenn diese schlimmen Monate der Therapie endlich vorbei sind. Zwei tolle Urlaube hatten wir in der Vergangenheit in Kanada verbracht. Dort sollte es so schnell wie möglich noch mal hingehen. Das war ein großes Ziel. Dass einer von uns die Zukunft vielleicht nicht mehr erleben kann, haben wir einfach außer Acht gelassen.
Ich halte grundsätzlich sehr viel davon, positiv zu denken. Doch mit einem übertriebenen Optimismus läuft man Gefahr, die Wahrheit auszublenden. Es ist sicherlich auch normal und hilfreich, wenn man in schwierigen Situationen nach vorne blicken muss. Doch es hört dann auf, wenn man einfach die Augen schließt. Hätten wir in Andis letzten Wochen und Monaten den Tod nicht ausgeblendet, wäre uns die Möglichkeit des Abschieds geblieben. Wir hätten noch mal in Worte fassen können, was uns das gemeinsame Leben geschenkt hat, was uns wichtig ist und wovor wir Angst haben. Es wäre ein Trost gewesen, vor allem im Nachhinein – für mich. Über seinen bevorstehenden Tod zu sprechen, wäre nicht einfach gewesen, aber diese Worte hätten uns Kraft geschenkt, da bin ich mir heute sicher. Aber wir fanden nicht den Mut dazu.
Aber auch wenn man weiß, dass man die Dinge beim Namen nennen muss, dass man im Gespräch auf lange Sicht Linderung erfahren wird, ist damit die Angst vor den Worten noch nicht verflogen. Wo kommt die eigentlich her?
Das Schweigen brechen
„Für dich.“
Andi reicht mir den Telefonhörer und gibt mir mit einer Geste zu verstehen, dass er das Anziehen unserer Tochter übernimmt. Ich verlasse das Kinderzimmer, melde mich und warte auf eine Reaktion.
Die Stimme meiner Freundin am Telefon hört sich völlig überrascht an: „Der klingt ja ganz normal!“
Während der Krankheit meines Mannes ging die Zahl der bei uns eingehenden Anrufe rapide zurück. Natürlich hatte ein Großteil des Bekanntenkreises erfahren, dass Andi an Krebs erkrankt war; doch um sich zu erkundigen, wie es ihm geht, riefen sie in der Regel nur bei engen Freunden von uns an. Nicht bei uns. Wenn Andi wieder einmal im Krankenhaus war, kamen ein paar mehr Anrufe bei mir an, aber wenn er daheim war, klingelte es kaum noch. Den Anrufern fiel es schon schwer, sich mit mir zu unterhalten, ein Gespräch mit meinem Mann ging vollends über ihre Kräfte. Andi direkt anzurufen, mit ihm zu sprechen, war für viele ein Ding der Unmöglichkeit. Die Angst davor, mit einem Schwerkranken zu sprechen, war zu groß.
Da seine Krankenhausaufenthalte nicht immer geplant waren, kam es ab und an zu Überraschungen am anderen Ende des Telefons, wenn er es war, der das Gespräch entgegennahm. Doch jedem, der unbeabsichtigt in so ein Telefonat hineinstolperte, ging es nach dem Gespräch deutlich besser. Wenn erst mal die Scheu verflogen und die erste Hürde überwunden war, merkten sie, dass es eigentlich ganz einfach war, mit Andi zu reden.
Und genau darum geht es: die Scheu und die Angst vor der ersten wirklichen Begegnung mit einem, der eine Krisensituation durchlebt oder durchlebt hat, zu überwinden. Einfach anfangen und dann schauen, wohin das Gespräch treibt. Je mehr einer im Vorfeld darüber nachdenkt, was er sagen könnte, umso schwieriger wird der Gesprächsanfang. Was soll ich bloß sagen? Wie soll ich es sagen? Wirkt mein Anruf neugierig? Was mache ich, wenn Tränen kommen? Vielleicht ist es der falsche Zeitpunkt? Die Gedanken kreisen und kreisen. Das Problem wird immer größer. Doch über all diesen Überlegungen geht sehr viel verloren: Spontanität, Herzlichkeit, Mitgefühl und eben auch Zeit.
Es ist vergebliche Mühe, auf den richtigen Moment zu warten, denn im schlimmsten Fall ist die Zeit abgelaufen und die Chance für klare Worte vorbei. Wichtig ist es, rechtzeitig den Mut zu deutlichen Worten zu finden. Also eher heute als morgen. Angst zu haben, ist normal, doch diese zu teilen und dabei eine Sprache zu finden, ist wertvoll und entlastend.
Es gibt keinen Grund dafür, Angst zu haben, etwas Falsches zu sagen, denn der Freund, der Verwandte, der die Krise durchmacht, ist immer noch der Gleiche. Der Unterschied besteht nur darin, dass etwas Schreckliches passiert ist, und allein mit der Geste eines Anrufes oder eines Gesprächs kann jeder seine Unterstützung und Anteilnahme ausdrücken. Viele Worte braucht es dafür nicht.
Wenn ich von mir selber ausgehe, hatte ich nach dem Tod meines Mannes ein unheimliches Redebedürfnis. Es war alles so unfassbar für mich, so unvorstellbar, dass ich unsere Geschichte immer wieder erzählte. Wer mich ansprach, mich ehrlich ansprach, sodass ich das Gefühl hatte, er möchte hören, wie es uns ergangen war, der konnte sich die nächsten Minuten auf das Zuhören beschränken. Und damit war das Eis meist schon gebrochen. Es ging allein darum, das Schweigen zu brechen und so seine Sprache wiederzufinden.
Das Gespräch zu suchen, mit klaren Worten, die nichts beschönigen, dem Menschen in der Krise beizustehen – dabei kann man nichts falsch machen. Nicht nur diejenigen, die in einer Krisensituation stecken, profitieren von dem Trost der anderen. Jeder, der sich dazu aufrafft, seine Teilnahme auszudrücken, wird feststellen, dass er sich im Anschluss besser fühlt. Und ist erst einmal die Scheu vor dem ersten Gespräch überwunden, werden weitere einfach folgen.
Nichts falsch machen können, das entlastet. Aber stellt sich eine neue Sicherheit im Umgang mit der Krise denn allein schon dadurch ein, dass der Gesprächsanfang geschafft ist?
Wenn die Worte fehlen, hilft zuhören
Am Tag vor der Beerdigung betrete ich zusammen mit Svenja das Untersuchungszimmer der Kinderarztpraxis. Sie ist nicht krank. Es ist ein Vorsorgetermin, den ich bereits vor Wochen für sie ausgemacht habe. Nun sind wir hier. Ich wollte nicht absagen. Was soll ich heute auch tun? Andi braucht meine Hilfe nicht mehr.
In der Praxis weiß man Bescheid. Auf dem Schreibtisch des Kinderarztes liegt die Todesanzeige. Svenjas Kinderarzt schließt die Tür und setzt sich uns gegenüber. „Wir wussten nicht, ob Sie kommen würden. Aber es ist gut, dass Sie hier sind. Was ist passiert?“ Hilflos zucke ich mit den Schultern, doch dann beginne ich mit leiser Stimme zu reden. Von Anfang an. Und er hört einfach zu. Er sitzt mir schweigend, aber aufmerksam gegenüber, während ich die letzten Monate in Worte fasse und mir die Tränen still über das Gesicht laufen. Svenja sitzt auf meinem Schoß, hat ihr Köpfchen an mich gelehnt und hält mich fest an der Hand.
Anstatt einfach da zu sein, zuzuhören und Anteil zu nehmen, macht sich der eine im Vorfeld so viele Gedanken über seine Worte, dass schnell der Mut zur Begegnung fehlt. Ein anderer verhaspelt sich in Floskeln, um etwas Allgemeingültiges beizutragen. „Die Zeit heilt alle Wunden“, diesen Satz kann nur jemand sagen, der sich noch nie in einer Krisensituation befand. So etwas will man wirklich nicht hören, wenn die Welt für einen in Trümmern liegt, auch wenn der Satz ein Körnchen Wahrheit beinhaltet. Denn Zeit verschafft einen gewissen Abstand. Mit dieser Distanz vom unmittelbaren Geschehen wird es nicht unbedingt gut, aber zumindest anders. Doch bis es so weit ist, dauert es lang. Im konkreten Schmerz hilft dieses Wissen kein bisschen.
Sie haben allein durch Zuhören viel mehr zu bieten, als Sie denken, auch wenn es auf den ersten Blick nach wenig aussieht. Sie müssen nicht viel sagen. Den aktiven Part wird Ihr Gegenüber einnehmen, denn bei ihm sind viele Dinge geschehen und es ist einiges in Unordnung geraten. Machen Sie sich als Familienangehöriger, Freund, Bekannter oder Kollege bewusst, dass es reicht, einfach zuzuhören. Es kann gut sein, dass der Betroffene, der am Anfang des Gesprächs noch äußerlich gefasst wirkte, nach kurzer Zeit in Tränen ausbricht. Tränen sind nicht schlimm. Sie wirken meist sogar reinigend.
Einfach nur zuzuhören ist schwerer als man denkt. Denn spricht man mit jemandem, der Schreckliches erleben musste oder immer noch muss, möchte man nicht, dass sich der andere nach der Begegnung schlechter fühlt. Ganz im Gegenteil. Jeder will helfen und dazu beitragen, dass es dem Gegenüber wieder besser geht. Das ist sehr ehrenhaft, aber es funktioniert einfach nicht. Zumindest nicht so.
Das größte Missverständnis liegt vor allem darin, dass viele denken, dem Betroffenen nun ganz viel Zuspruch und Trost spenden zu müssen. Sie möchten, dass sich ihr Gesprächspartner nach dem Gespräch besser fühlt als zuvor.
Sie verkennen, dass es meist genügt, ein Gespräch anzustoßen. Dazu reicht ein einziger Satz oder eine einzige ernst gemeinte Frage. Das Wichtigste ist, sich bewusst zu machen, dass niemand, kein Betroffener, kein Familienangehöriger, Freund, Verwandter oder Kollege ein Problem lösen muss oder kann.
Der hohe Anspruch an sich selbst macht die Situation häufig nur komplizierter, als sie ist. Niemand muss das Problem, das Leid, den Schmerz, die Ohnmacht und die Hoffnungslosigkeit seines Gegenübers auffangen, niemand kann die Last des anderen einfach beseitigen.
Wann kommt er wieder?
Diesmal halte ich Svenja auf dem Arm, als ich mich mit ihr am Vormittag erneut auf die Bettkante des Krankenbettes setze. Ich habe meine Tochter seit gestern Morgen nicht mehr gesehen. Ich kann sie nur an mich drücken, erklären kann ich ihr momentan nichts. „Pssssst. Papa, heia“, zischt sie ganz liebevoll in mein Ohr, nachdem sie einen Blick auf ihn geworfen hat. Ich zucke zusammen. Schlafen. Ach, würde er doch nur schlafen. Doch ich weiß genau, dass es nicht so ist und kann ihr trotzdem nicht antworten. Mir ist klar, dass ich das nachholen muss, doch im Moment schaffe ich nicht zu sprechen. Die Ruhe und Sicherheit, die meine Bewegung ausstrahlt, könnte meine Stimme nicht widerspiegeln. Es ist friedlich im Zimmer. Ganz anders als noch wenige Minuten zuvor. Ich handele mechanisch. In mir drin ist nichts, alles fühlt sich taub an. Wir sitzen einfach da und sehen ihn an. Kinder spüren besondere Momente. Svenja ist mucksmäuschenstill. Und trotzdem scheint sie sich keineswegs unwohl zu fühlen.
Einen Tag später fasse ich mir ein Herz. Ich kann Svenja nicht tagelang im Glauben lassen, dass Andi weiterhin im Krankenhaus liegt. Sie merkt, dass irgendetwas vorgefallen ist. Um sie herum herrscht Traurigkeit, die sie nicht greifen kann. Trotz ihrer knappen zwei Jahre spürt sie die Veränderung. „Der Papa ist nicht mehr im Krankenhaus. Er ist gestern gestorben und hat nun keine Schmerzen mehr.“ Ich wähle ganz bewusst das Wort „gestorben“. Auch das Wort „tot“ erwähne ich in meinen weiteren Erklärungen. Sie soll es einmal gehört haben. Und zwar in Verbindung mit ihrem Papa. Und von mir.
Wie ich erwartet habe, erhalte ich in kleinkindlicher Sprache die Antwort: „Und wann kommt er wieder?“ Auch das beantworte ich ehrlich: „Wir können ihn leider nicht wiedersehen.“ Auch wenn diese Worte für die Vorstellungskraft eines kleinen Mädchens zu viel sind. Sie sind ehrlich. Wichtig ist, dass sie gesagt wurden. Glauben kann ich sie selbst noch nicht. Auch unser Kind muss erst begreifen lernen. Wichtig für sie ist, dass er nicht einfach eingeschlafen ist, wie das jeder Mensch abends tut. Eben auch die Mama. Diese Angst muss ich ihr im Vorfeld nehmen. „Papa ist gestorben.“ Die Worte faszinieren sie. Das neue Wort erzeugt ungeheure Emotionen und Aufmerksamkeit bei jedem Gegenüber. Das merkt sie, obwohl sie den Satz kaum sprechen kann. Er hat sich in ihrem kleinen Köpfchen eingebrannt und fällt die nächsten Wochen mehrfach am Tag.
Diese Tage beschreiben den Tiefpunkt meines Lebens. Doch auch wenn es mir damals noch nicht klar war: Dieses Gespräch war ein Wendepunkt, denn es beweist, dass aus klaren, wahren Worten Kraft und Stärke entstehen können. Jedes neue Gespräch, das ich heute in dieser Direktheit und Offenheit führe, bestärkt mich auf meinem Kurs. Die ehrlichen Worte haben meiner Tochter gutgetan. Sie haben sie gestärkt und selbstbewusst gemacht. Sie hat keine Scheu davor, ihren Papa zu erwähnen, genauso wenig seinen Tod. Und heute erleben wir, dass wir ihn auch in fröhliche Situationen verbal einbinden können, denn das Reden über ihn ist eine Selbstverständlichkeit geworden.
Die Fragen, mit denen Svenja mich immer wieder aufs Neue aus dem Konzept bringt, zeigen mir, dass sie von mir gelernt hat. Unsere Worte machen uns stark, egal mit was oder wem wir konfrontiert werden, und so wehren wir uns gegen das Ausgeliefertsein. Wir nutzen unsere Stimme. Sie löst kein Problem, aber verändert den persönlichen Zustand. Wir treten der Unsicherheit entgegen und benennen das Unfassbare.
Gespräche verleihen die Stärke, die nötig ist, um sich mit schwierigen Situationen besser auseinandersetzen zu können. Wir erhalten die Möglichkeit, das Leben, den Alltag und die eigenen Gefühle wieder aktiv zu gestalten. Wir können konkret sagen, ob es uns gerade gut geht oder eben nicht, ob wir Hilfe oder einfach einen Zuhörer brauchen. Dieser Dialog, der nicht nur an der Oberfläche geführt wird, verbindet uns mit Menschen. Ich habe diese Erfahrung immer wieder gemacht. Erstaunlicherweise sind es nicht unbedingt die engsten Freunde oder nächsten Verwandten, mit denen man die intensivsten Gespräche führt. Bis heute überraschen mich Menschen, die ich teilweise kaum kenne, mit Mut, ehrlichem Interesse, Mitgefühl und der Fähigkeit, dafür klare Worte zu finden. Dagegen gibt es einige Bekannte, Kollegen oder Nachbarn, die mir seit Jahren regelmäßig begegnen, mit denen ich jedoch noch nie ein persönliches Wort über Krankheit oder den Todesfall gewechselt habe.
Oft denke ich an den sprachlosen Mann vom TÜV, denn er ist zum einen ein Beispiel für die Sprachlosigkeit unserer Gesellschaft und er hat mir auch vor Augen geführt, wie sehr ich selbst mich verändert habe. Früher hätte ich vermutlich auch nicht gewusst, was ich in einer solchen Situation sagen sollte. Heute weiß ich, wie gut es tut, wenn wir das Schweigen brechen und auf den Trauernden zugehen.