Читать книгу Wer ist Miss X? - Andrea Schütze - Страница 5
ОглавлениеThat’s me
That’s me. Mathilda.
Im Moment sitze ich am Schreibtisch und übe meine Unterschrift. Nicht, dass irgendjemand auf der Welt meine Unterschrift bräuchte, aber ich bin gerne vorbereitet …
Ich schwanke noch zwischen Mathilda Zimmermann, M. Zimmermann, Mathilda N. Zimmermann und M. N. Zimmermann. Zimmermann ist eigentlich ganz praktisch wegen des großen Zetts, das kann man rasant und zackig über die Linie wuschen und anschließend die vielen Ms und Ns meines Namens in mehr oder weniger wogenden Wellen hintendransetzen – aber Mathilda hat echt sehr viele Schwungschwingen: Egal wie ich es schreibe, es sieht einfach immer niedlich aus, auch wenn man den i-Punkt nicht kringelt (was ich aber sowieso nicht mache, weil ich keine i-Punkt-Kringlerin bin). Moment, stopp, nicht dass du denkst, ich mag meinen Namen nicht, doch, doch! Auch die vielen Abkürzungen: M, Matz, Tilda, Matti, Matzi, Tildi … Meine große Schwester Olivia, genannt Liv, sagt meistens Milda. Sie hat sich nämlich bis zum Kindergarten geweigert, bestimmte Buchstaben auszusprechen, Ts und Rs und S und Sch und alle Ffff- und sonstigen Zischlaute. Mama zieht sie heute noch damit auf, dass sie auf die Frage der Erzieherinnen, wie ihr Name sei, geantwortet habe: »I-hei-he-Li!« oder auch »I-bi-die-Li.«
Das N steht für Nike, das ist mein zweiter Vorname. Nike, wie die Sportmarke. Die Sportmarke spricht man übrigens Nai-ki aus, nicht Naik, habe ich im Fernsehen gesehen, da hat ein Reporter den Nai-ki-Chef persönlich danach gefragt.
Nike ist die griechische Göttin des Sieges und zu der sagt man ganz normal Niiike. Die römische Göttin des Sieges heißt Viktoria, deswegen ist das auch Livs zweiter Vorname. Weshalb Mama ausgerechnet diese beiden Namen ausgesucht hat, ist ein bisschen peinlich und hat was mit Fortpflanzung zu tun. Die Geschichte geht so: Weil Mama mit vier Brüdern aufgewachsen ist und das ziemlich stressig gewesen sein muss, hat sie sich nichts mehr als eine Tochter gewünscht. Dass ihr erstes Kind dann tatsächlich ein Mädchen wurde, bedeutet ja, dass ein weiblicher Samen das Rennen zur Eizelle gewonnen hat, er war also der Sieger, deswegen Viktoria. Und als ich dann auch ein Mädchen wurde, war es eben Nike.
Na ja, meine Mutter ist speziell. Aber speziell nett. Ein bisschen verrückt vielleicht. Verpeilt. Aber so sind Künstlerinnen halt. Im Moment experimentiert sie mit Marmelade-Bildern. Sag jetzt einfach nichts … Anscheinend gibt es Menschen, die kaufen Gemälde nicht nur, weil ihnen gefällt, was drauf ist, sondern auch wegen der Mal- oder Farbtechnik oder wegen der Crazyhaftigkeit des Künstlers. Wenn du mich fragst, ist der einzige Grund, warum Mama mit Marmelade malt, dass die sehr, sehr viel günstiger ist als echte Künstlerfarbe. Mama hat aber auch noch einen Brotjob, also einen, mit dem sie unser Geld verdient. In einer Kunstgalerie verkauft sie »langweiliges Mainstream-Konserven-Gekritzel«, wie sie das nennt. Und dazu stehen Mamas Bilder echt im krassen Gegensatz. Ich finde sie toll, unser Haus hängt voll davon. Sogar von außen, auf der Terrasse und an der Hauswand auf dem Weg zur Garage. Und zur Not könnte man sie ja sogar aufessen, na ja, zumindest abschlecken.
Es ist überhaupt sehr bunt bei uns. Wir haben rosa Kochtöpfe und jedes Zimmer hat eine andere Wandfarbe. Für Besucher ist das immer erst mal wie ein Schock und in 99 % aller Fälle kommt ein Spruch mit ›Villa Kunterbunt‹. Aber wenn man sich dran gewöhnt hat, kann man sich gar nicht mehr vorstellen, welchen Sinn es ergeben sollte, langweilig weiße Wände zu haben.
Doch eine Ausnahme gibt es: Livs Zimmer ist anders. Kahl und weiß, außer einer Wand, an der mindestens fünf Millionen Ballettbilder hängen, weil Liv eine wirklich sensationelle Ballerina ist. Sie tanzt schon, seit sie fünf ist. Ihre erste Ballettlehrerin war eine steinalte Dame mit einem sperrigen Namen, die ihr wegen ihrer mürrischen Art, dem halbdunklen Tanzraum in einer uralten Villa, bei immer geschlossenen Fensterläden und einem leiernden Kassettenrekorder, höllische Angst eingejagt hat. Aber etwas in Liv wollte tanzen, deshalb hat sie es fast zwei Jahre dort ausgehalten, bevor sie an eine modernere Schule gewechselt ist. Dafür bewundere ich sie wirklich. Ich fand das Abholen nach dem Unterricht schon den Horrortermin der Woche, weil die Ballettlehrerin dann von Mutter zu Mutter gegangen ist und immer etwas an der Schülerin auszusetzen hatte. Ich hab’s später auch mal mit Ballett versucht. Aber Geräteturnen liegt mir mehr. Viel mehr sogar. Ich geh manchmal sogar dreimal die Woche hin.
Liv mag auch kein gemütliches Licht, ihr genügt eine Deckenlampe, die so kalt strahlt, dass man ein echtes Iglu-Feeling kriegt. Sie hat eine Ballettstange im Zimmer und bestimmt sechs Paare zertanzter Spitzenschuhe an der Wand hängen, die sie als Stiftebehälter benutzt. Ihr Zimmer ist also mehr ein Ballettsaal mit Bett und Schreibtisch. Wie zum Ausgleich stehen dafür im Rest des Hauses genügend Kerzen, um bei einem Stromausfall die ganze Straße zu erleuchten.
Ach so, zu Mamas Bildern wollte ich noch Folgendes erzählen: Es gibt eines von mir und Liv auf einer riesigen Leinwand im Wohnzimmer an einer moosgrünen Wand. Darauf sind nur unsere Gesichter zu sehen, in SchwarzWeiß und so echt wie der kleine Schnappschuss aus dem Fotoalbum, von dem Mama es abgemalt hat. Und jetzt kommt’s: Ich glaube, es ist das einzige Gemälde auf der Welt von zwei Kindern, die sich gerade aus vollem Herzen anbrüllen – und niemand weiß mehr, um was es bei diesem Streit eigentlich ging, aber es scheint uns beiden sehr wichtig gewesen zu sein: Man hört Liv fast kreischen, unsere Gesichter sind voller Zornestränen und mein Mund so wütend verzogen, dass ich mich frage, wie ich das hingekriegt habe. Wer immer das Gemälde zum ersten Mal sieht, hält kurz verwirrt inne und muss dann losprusten. Mama wartet schon immer drauf und sagt, dass die Reaktion des Betrachters die eigentliche Kunst an diesem Bild sei.
Gut, jetzt kennst du also meine Familie.
Einen Vater dazu gibt es nicht. Also es gibt ihn natürlich schon, aber nicht als Papa, wie man das so kennt. Mein Vater ›hat sich aus dem Staub gemacht‹, kaum dass ich auf der Welt war. Was aber natürlich nichts mit mir zu tun hat – was einer von Mamas am häufigsten wiederholten Sätzen ever ist, damit ich nicht denke, ich sei daran schuld, und ein Trauma kriege oder so was. Als ich noch kleiner war, habe ich mir immer vorgestellt, mein Vater müsse ein Staubgeist sein, grau und irgendwie neblig und trüb, ohne Gesicht. Das hat für mich ganz gut gepasst. Irgendwann habe ich dann verstanden, dass ›aus dem Staub machen‹ eine Art Umschreibung für ›einfach abhauen‹ ist. Und als wir vor Kurzem in der Schule Sprichwörter analysieren sollten, war es klar, welches ich auswähle. Und siehe da, es bedeutet tatsächlich genau das, was es beschreibt: Früher im Krieg, wenn die Soldaten auf den Schlachtfeldern aufeinander losgingen, wurde immer sehr viel Staub aufgewirbelt. Den haben manche Soldaten ausgenutzt, um ungesehen zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. So was nannte man Fahnenflucht und das war total verboten und wurde hart bestraft, meistens mit dem Tod.
Klar, einen coolen Dad zu haben, fände ich natürlich schon schön, aber wie sagt Omi immer: Man kann nicht alles haben, wo sollte man es auch hintun? Das ist übrigens das Tolle an meiner Omi, dass sie so praktisch ist. Zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten will sie zum Beispiel auf keinen Fall etwas geschenkt bekommen, so hat man schon eine Aufgabe weniger und macht ihr damit gleichzeitig die schönste Freude.