Читать книгу Wer ist Miss X? - Andrea Schütze - Страница 8
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»Mann Matti«, regt sich Mama daraufhin auf. »Okay, ich fasse es dir noch mal zusammen.« Sie holt Luft und setzt sich meinen Kuschelhund auf den Schoß. Oh nein, jetzt bitte nicht mit Hundestimme sprechen, sonst muss ich lachen, obwohl ich wütend bin … Aber Mama wedelt nur einmal mit seinem Schwanz und sagt dann: »Ich bin halt deine Mutter, daran kannst du nichts ändern. Und ich bin als Erziehungsberechtigte dazu berechtigt, dich zu erziehen. Heißt, ich bin verpflichtet, auf dich aufzupassen. Während andere Eltern alles erlauben, wie ich ja schon sehr oft gehört habe, bin ich da ein wenig wählerischer. Im Gegensatz zu anscheinend allen anderen Eltern erlaube ich es ja leider auch nicht, dass du ohne Fahrradhelm fährst, Hotpants anziehst, bei denen dein Po rausplumpst, oder mit bauchfreien Spaghetti-Tops in die Schule gehst, an denen kaum Stoff ist. Oder wir zweihundert Euro für Turnschuhe ausgeben, bloß weil da Streifen oder sonst welche Zeichen drauf sind, die du dir genauso gut selbst draufmalen könntest; und zwar auf alle fünf Paar No-Name-Schuhe, die man eigentlich für das Geld bekommt …«
»Mamaaa«, mischt sich Liv ein und lehnt sich an den Türrahmen, »Tildi hat’s verstaaanden.«
»Also dann«, sagt Mama zufrieden und steht auf, als ob mit ihrem ›Ich bin deine Mutter und ich hab dich lieb und deshalb hab ich doppelt recht‹-Monolog alles gesagt wäre.
»Äh, warte mal«, sage ich, »du hast die Zusammenfassung vergessen.«
»Dein Ernst jetzt?«, fragt Mama und lässt sich wieder aufs Bett plumpsen. »Mein liebes Kind«, sagt sie. »Ich erlaube nicht, dass du einen Jutjub-Sender hast …«
»YouTube-Kanal«, verbessere ich.
»Sag ich doch. Also ich will das nicht, dass du da Videos zeigst …«
»… postest«, murmele ich.
»… von dir und von uns und von deinem Zimmer und von deinem Bett und …«
»Mama, ich mache DIYs«, unterbreche ich sie. »Hast du mich auf denen schon mal gesehen? Da sind höchstens meine Hände drauf.«
»Schlimm genug«, sagt Mama. »Und deine süße Stimme. Und Hintergrund von unserem Zuhause und so.«
»Aber …«, will ich protestieren, doch Mama redet einfach weiter.
»Das ist einfach zu gefährlich und ich hab dir schon tausend Mal …«
»Was ist denn an Backvideos gefährlich? Es gibt keine Backvideo-Stalker«, rufe ich. Ich rufe das immer an dieser Stelle und ich werde das so lang rufen, bis Mama endlich …
»Nicht die Backvideos«, sagt Mama geduldig und klopft neben sich aufs Bett.
Widerwillig setze ich mich.
»Schatz, in den Social-Media-Kanälen sind eine Menge perverser Vollidioten unterwegs. Die dann auf Ideen kommen … was weiß ich für welche. Will ich auch gar nicht wissen. Die nehmen dann mit dir Kontakt auf und schreiben dich an und bitten dich, dass das alles unter euch bleibt oder hinterlassen komische Kommentare …«
»Man kann die Kommentarfunktion doch ausstellen!«, rufe ich.
»Trotzdem«, meint Mama. »Dann versuchen die halt irgendwie anders Kontakt aufzunehmen, im Internet ist das alles möglich, da gibt’s so PI-Adressen und …«
»IP«, verbessert Liv und dehnt mit knackenden Zehen ihre Füße.
Mama schüttelt sich. »Das kann doch nicht gesund sein … Dann eben IP, jedenfalls so Zeug. Und die finden dann Zugangsdaten und Passwörter raus und kommen dir auf die Spur und belästigen dich oder stalken dich oder schicken so Standbilder …«
»… Screenshots oder Snaps«, übersetzt Liv
»… ja, die schicken sie dann in irgendwelche schrecklichen Verbrecher-Ringe im Dings, wie heißt das, Darknet. Und die Fotos werden dann geteilt und das kriegt man nie wieder raus aus dem Internet. Und warte mal, die Kommentarfunktion ausstellen? Das ist doch genau das, was den Jutjubern Spaß macht, dass sie Feedback bekommen und so.«
Ich zucke sicherheitshalber bloß mit den Schultern, weil Mama natürlich völlig recht hat.
»Aber!«, ruft Mama und ich ahne, was jetzt kommt. »Aber«, wiederholt sie, »wenn man sie anlassen würde, kommt da ja nicht nur Lob oder Daumen-Hochs. Stell dir doch mal vor, du spielst jetzt dein Blätterteig-Video ab …«
»Mama, sie lädt ihr Puff-Pastry-DIY hoch«, sagt Liv grinsend zwischen zwei Pliés und erntet von Mama einen unwirschen Blick.
»Also du stellst es online«, fährt Mama fort, »und nach zwei Stunden merkst du, dass es die meisten deiner Zuschauer scheiße finden.«
»Mama!«, protestieren Liv und ich.
»Na, ist doch so«, sagt Mama. »Zwei Likes, achtundneunzig Daumenrunters und siebzig niederschmetternde Kommentare von solchen Neidklopsen, wie nennt man die noch mal?«
»Hater«, sagen Liv und ich im Chor.
»Genau. Was da unter dem Deckmantel der Anonymität alles möglich ist …! Deckmantel der Anonymität, ja, das habe ich jetzt wirklich gut ausgedrückt.« Mama grinst unglücklich. Dann streicht sie mir die Haare hinters Ohr und sieht mir in die Augen. »Matzimäuschen, da will ich dich mal sehen. Nach so einem Erlebnis brauchst du glatt eine Psychotherapie. Ehrlich, so was stelle ich mir schlimm vor. Da kriegt man glatt Albträume von. Und das meine ich echt ernst. Ich weiß doch, wie das ist. Es können mir zehn Leute sagen, dass ihnen meine Bilder gefallen, aber der eine gehässige Kommentar, lässt einen nicht mehr los und beißt sich so richtig tief in die Seele hinein und hinterlässt einen riesigen Haufen Selbstzweifel.«
»Och Mama, also ich finde deine Bilder sehr schön!«, sagt Liv und macht einen Spagat im Türrahmen.
»Ich auch«, sage ich.
»Danke«, sagt Mama, »aber verstehst du, was ich sagen will? Aus so affigen Mistkommentaren kann sich leicht Mobbing entwickeln. Ist wie Mobbing-next-level sozusagen, nur dass man sich noch schwieriger dagegen wehren kann als im echten Leben. Mensch, gegen so ’n Scheißesturm kommt man doch einfach nicht an!«
Liv kriegt einen Lachanfall und wechselt das Bein. »Man sagt Shitstorm«, kichert sie und dehnt sich weiter.
»Das wusste ich ausnahmsweise«, meint Mama. »Sag mal, ich bin mir nicht sicher, ob deine Ballettlehrerin Ahnung von menschlicher Anatomie hat. Wo sollt ihr eure Beine denn noch überall hinbiegen? Okay, also, Scheißesturm klingt noch drastischer, finde ich. Und wenn so was erst mal mit voller Wucht auf einen niederregnet, ist das total dramatisch. Hm, was sagst du, Matzi?«
Ich wiege ein wenig den Kopf, weil ich auf keinen Fall zugeben möchte, dass dieser Punkt an sie geht. Ich bin wirklich ziemlich perfektionistisch bei meinen Videos und manchmal stresst mich mein eigenes Hobby sogar. Und wenn ich mir dann vorstelle, niemandem gefällt es? Ist ja fast so, als ob man nach einer Klassenarbeit ein supergutes Gefühl hat und dann bekommt man sie zurück und hat eine Vier kassiert. Schon allein die Vorstellung macht mir ein mulmiges Gefühl.
Aber Mama ist längst noch nicht fertig … Ihre zwei besten, absoluten Knock-out-Argumente hat sie ja noch gar nicht ausgesprochen. Und die kommen jetzt.
»Und dann stell dir mal vor, dir passiert in deinen Videos ein unbeabsichtigter Versprecher, du benutzt ein falsches oder peinliches Wort und weißt es nicht mal. Oder man kann etwas, das du sagst, falsch verstehen oder interpretieren. Und dir selbst fällt das erst auf, wenn die ganze Sache schon einmal um die Welt gegangen ist … da gibt’s doch auch einen Ausdruck dafür … hat was mit Erkältung zu tun …«
»Viral«, murmele ich.
»Ah ja, dein Video geht viral und Mill-i-ar-den Menschen lachen sich über dich kaputt!«, ruft Mama und tippt sich an die Schläfe. »So weit kommt’s noch! Und dann machen sie aus deinem Versprecher, sagen wir über Eier, noch so eins von diesen dämlichen Kurzfilmchen, die jeder einfügt, wenn es gerade ums Backen oder Kochen geht. Jeder zückt sein Handy und spielt diese Szene ab, in der du was Zweideutiges über Eier gesagt hast, nur weil er meint, das sei megawitzig.«
»Memes«, sagt Liv und ich sage gar nichts.
»Miems.« Mama nickt. »Wie ein Lauffeuer geht so ’n Miem dann rum. Und dann macht jemand einen neuen Text dazu und zack, wird es noch schlimmer … Furchtbar!«
»Ich mache doch nur DIYs«, wiederhole ich schwach, einfach, weil ich es nicht leiden kann, nicht das letzte Wort zu haben.
»So«, sagt Mama und geht gar nicht weiter darauf ein, weil ja jetzt noch ihr stärkstes Gegenargument kommt. »Und überhaupt, du weißt ja, dass es erst ab 16 erlaubt ist, einen eigenen Account zu haben.«
Bumm.
Liv quietscht mit dem nackten Fuß am Türrahmen entlang.
»Liv!«, schimpft Mama.
»Und Insta? Ich könnte das Konto auf ›privat‹ lassen?«, frage ich sicherheitshalber, weil es gut sein kann, dass Mama vergessen hat, dass alles, was sie eben gesagt hat, auch auf Instagram zutrifft, aber jede Diskussion schließlich eine Chance beinhaltet.
»Dito«, sagt sie nur und ich seufze und werfe Liv einen mürrischen Blick zu.
Sie hat nämlich einen Instagram-Account. Einen öffentlichen noch dazu. Und ich frage mich wirklich wozu, denn sie postet so gut wie nie etwas, followed dafür aber allen Tänzerinnen und Tänzern dieser Erde.
Liv zuckt mit den Schultern. Oookay, sie kann ja nichts dafür, dass sie älter ist.
»Ich fahr dann mal«, sagt sie und schlurft in ihr Zimmer.
»Wohin?«, fragt Mama wie immer, auch wenn man es ihr erst zehn Minuten vorher ausführlich erklärt hat und sieht auf die Uhr. »Ist doch quasi schon Abend.«
»Schule«, erwidert Liv und Mama ächzt.
»Ach so, stimmt«, sagt sie.
Seit Liv in der Oberstufe ist, hat sie zu den seltsamsten Zeiten Unterricht. Immerzu fällt ein Kurs aus, wird nachgeholt, ergänzt, zusätzlich angeboten oder auf einen anderen Tag verschoben.
»Wann bist du wieder da?«, fragt sie.
»Um … sechs rum«, erwidert Liv.
Ich schüttle den Kopf. Die Stunde der Verräterin ist gekommen. »Nee, die letzte Stunde ist um 16.35 Uhr aus«, flüstere ich Mama zu. »Ganz sicher.«
»Aha«, wispert Mama. »Und was machst du zwischen halb fünf und sechs?«, ruft sie.
»Ich … äh«, erwidert Liv und stürmt die Treppe hinunter. »Muss noch … mit … Noah wegen der Physik-Klausur reden. Der hatte dieselbe Lehrerin und die macht immer die gleichen Klausuren. Und er gibt mir seine. Tschö-höööss.«
Wir hören die Haustür ins Schloss fallen und sehen uns an.
»Noah, aha«, sagt Mama und runzelt die Stirn. »Der erste Freund etwa? Jetzt schon? Toll, neues Problem für mich als Mutter …«, murmelt sie und seufzt. »Na ja, Herausforderung eher. Trotzdem. Au weia.«