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Küchen-Talk

Ich setze mich wieder an den Schreibtisch.

Ein Problem ist Noah ja eigentlich echt nicht. Von Liv weiß ich, dass er ein Genie ist, was Mathe und Physik betrifft. Er kann mozartmäßig Klavier spielen und eine Band hat er auch. Und eine Schwester in meiner Parallelklasse, Amelie. Er kennt sich also mit Frauen aus. Insgesamt alles ganz okay, würde ich sagen.

Nuuur, ganz vielleicht ist es ein winziges Restproblem, dass Liv bis jetzt ganz allein mir gehört hat. Wenn sie sich in Noah verknallt, und ich nehme an, das ist längst passiert, dann hat sie noch weniger Zeit für mich, als eh schon bei ihrem ganzen Klausurenstress und den vielen Ballettkursen. Das Ding mit Liv ist nämlich, dass ich sie ganz schön doll lieb habe. Sie ist irgendwie so was wie mein Ein und Alles.

Und jetzt sage mir bitte keiner, dass ich vielleicht einfach nur eifersüchtig bin.

Nee, ganz bestimmt nicht.

Eifersüchtig, ich, pfff!

Um mich abzulenken, nehme ich mein Handy und lege mich aufs Bett. Leider hört Mama den Ton und streckt den Kopf in mein Zimmer.

»Was guckste denn da jetzt zum Beispiel auf Jutjube?«, fragt sie ordnungsgemäß, genau wie das in jedem Elterninfo-Zettel zu den neuen Medien empfohlen wird: ›Interessieren Sie sich dafür, welche Inhalte ihr Kind auf den verschiedenen Social-Media-Kanälen konsumiert …‹, oder so ähnlich.

»’ne Koch-Challenge«, sage ich und Mama ist beruhigt.

Als ich von all den Brutzelgeräuschen und bunten Tortenwundern mit Creme und Fluff und schmelzendem Schokokern Appetit bekomme, gehe ich in die Küche hinunter und sehe mich um.

Es ist ja nicht so, dass bei uns kein Obst im Haus ist, aber es ist halt nicht das Obst, was es bei Polina gibt. Blitzblankes, leckeres, frisches Obst zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die Familie von Polina stammt aus Russland. Bei ihr zu Hause ist es, sagen wir mal, acht bis neun millionenmal sauberer als bei uns. Ihre Mutter putzt mehrmals am Tag und das noch neben ihrer Arbeit. Am Anfang unserer Freundschaft war es mir richtig unangenehm, wenn Polina mich besucht hat. Weil ich einfach nicht anders konnte, als vorher das ganze Haus auf Vordermann zu bringen. Aber trotz Sauberkeit habe ich unser Zuhause immer noch mit Polinas Augen gesehen und mich irgendwie geschämt. Für all das Bunte, das Kreative. Mittlerweile stehe ich darüber. Ein bisschen wenigstens. Nur das Gemälde von dem nackten Männerpo hänge ich jedes Mal heimlich ab.

Denn auch wenn es bei Polina immer die leckersten russischen Köstlichkeiten gibt, finde ich es doch ganz praktisch, dass ich hier in der Küche experimentieren und werkeln darf, wie ich will. Im Moment stehen auf dem rosafarbenen Küchentisch (Mama streicht ihn lieber alle drei Monate um, statt ihn zu putzen) fünf verschiedene Schälchen mit meinem Holi-Powder. Ich möchte damit ein Pulver-Selfie machen. Bevor ich mich damit beschäftigt habe, dachte ich, man spräche es Englisch aus, ›holy‹, und ich habe mich gefragt, was an Farbpulver heilig sein soll, also habe ich es gegoogelt: Ursprünglich wurde sogenanntes Gulal-Pulver bei den Feierlichkeiten des indischen Holi-Festes benutzt, um den Frühling zu begrüßen. Und auch heute noch sind die Menschen beim Feiern von Kopf bis Fuß so quietschbunt und farbverschmiert wie nur was. Deshalb heißt es also eigentlich Holi-Gulal-Pulver. Man kann es auch kaufen, aber ich habe meins selbst gemacht. Aus Speisestärke und Lebensmittelfarbe. Nun muss ich die getrockneten Klumpen noch mit der Kuchenrolle zerbröseln. Mit dem Blauen habe ich gestern schon angefangen, es sieht richtig toll aus, der Kontrast aus blauem Pulver und rosa Tischplatte. Polinas Mutter würde die Krise kriegen. Mama hat nur gefragt, ob das was zum Essen sei, und Liv hat ihren Finger reingetunkt und probiert.

Was ich also eigentlich sagen wollte, ist, dass es bei uns natürlich auch Obst gibt, der Obstkorb ist reich gefüllt, aber leider ist nur die steinharte Kiwi echt, die restlichen Bananen, Zitronen, Orangen, Äpfel, Trauben und Pfirsiche sind aus Plastik. Mama braucht sie für ihre Stillleben.

Doch außer mir scheint der Mangel an frischen Früchten niemanden zu stören. Ehrlich, ein bisschen mehr healthy am Start zu sein, könnte uns nicht schaden. Wenn ich in diesem Haus nicht dafür sorgen würde, dass zumindest nach dem Wocheneinkauf für eine gewisse Zeit ausreichend Vitamine in Frucht- oder Gemüseform zur Verfügung stehen, hätten wir wahrscheinlich schon alle längst diese Seefahrerkrankheit bekommen, wie hieß die noch gleich …

»Google, Seefahrerkrankheit wegen keine Vitamine«, spreche ich in mein Handy. »Ah, Skorbut«, lese ich gleich in der Überschrift des ersten Suchergebnisses. Also wir hätten alle schon längst Skorbut bekommen.

Gut, von mir aus, wenn alle anderen sich die meiste Zeit ungesund ernähren, muss ich mich zum Ausgleich ja nicht die meiste Zeit gesund ernähren.

»Dann gibt’s also jetzt für euch mein Spezialrezept für DAS Trendgetränk des Jahres«, moderiere ich mein imaginäres Video und suche Backkakao, Zucker und Sahne zusammen und stelle den Wasserkocher an.

»Whipped Cocoa. Ursprünglich heißt das Zeug eigentlich Dalgona-Coffee und kommt aus, äh … Japan, oder so, jedenfalls ist Kaffee ja WLUÄH!, deswegen zeige ich euch die Variante mit reinem Kakao. Sooo schokoladig, ihr werdet sehen. Ihr benötigt eine Schüssel und einen Schneebesen. Gebt jetzt zwei Esslöffel Zucker, zwei Esslöffel heißes Wasser und zwei Esslöffel Kakao … oh, das war knapp, hat gerade gereicht …«

Ich ziehe mein Handy wieder aus der Hosentasche, um meinen Notizzettel für Einkäufe zu öffnen. Ich muss eigentlich nicht erwähnen, dass ich die Einzige bin, die in dieser Familie überhaupt Einkaufszettel schreibt …

Als ich gerade auf dem Bildschirm herumwische, kommt Mama in die Küche.

»Kannst du nicht ein! Mal! dein Handy weglegen, wenigstens beim Kochen?«, mault sie los und ich positioniere es demonstrativ langsam auf den Tisch, wie im Film ein Verbrecher, der seine Waffe weglegt, um die Hände zu heben.

»Hallo?«, sage ich.

»Sorry«, sagt Mama zerknirscht, »ich meinte das nicht so. Ich bin nur schlecht gelaunt. Das mit diesem Noah überfordert mich irgendwie …«

Ich winke ab. »Ach Mama, keine Sorge, der ist echt nett. Und ein Computergenie. Und ein Physikgenie. Und ein Musikgenie. Und voll freundlich und höflich und alles. Und Livvi ist siebzehn und vernünftig und Noah ist achtzehn und auch vernünftig und …«

Ich kann es nicht fassen, eben schmolle ich noch wegen den beiden rum und jetzt verteidige ich sie …

»Hör mir bloß auf«, sagt Mama. »Achtzehn und vernünftig, die beiden Wörter passen doch gar nicht zusammen. Quasi: was ist das Gegenteil von vernünftig? Achtzehn«, beantwortet Mama sich ihre Frage, greift in den Obstkorb und quetscht mit den Fingern auf der Kiwi herum. »Ich darf gar nicht dran denken, was das alles noch nach sich zieht … Livvileinchen ist doch noch mein kleines Baby. Ich weiß noch genau, wie sie laufen gelernt hat … Das kann doch jetzt nicht alles so schnell gehen …« Mama sieht mich unglücklich an, dann betrachtet sie die Kiwi in ihrer Hand. »Mann, wer isst eigentlich immer das ganze Obst? Nie ist was da, wenn man Lust drauf hat.«

»Wollte ich gerade in die Einkaufsliste schreiben«, sage ich. »Und Backkakao. Und Mehl, Eier und Backpulver. Und …«

»Wir bräuchten so ’ne schöne Tafel, wo wir das alles aufschreiben könnten«, schlägt Mama vor.

»Und dann schleppen wir die Tafel mit in den Supermarkt?«, frage ich und Mama grinst.

»Das wäre wenigstens mal analog«, erwidert Mama. »Warte kurz …«

Sie geht hinaus und kommt mit einem Blatt Papier wieder zurück. Dann holt sie einen Kugelschreiber aus der Kruschtelschublade, nimmt den Kaugummi aus dem Mund, rollt ihn zu einer Kugel und klebt ihn an den Küchenschrank. Mit dem Daumen drückt sie das Papier daran an und schreibt ÄPFEL drauf.

»So, jetzt kann jeder notieren, was fehlt«, erklärt sie ihre Erfindung des selbsthaftenden Einkaufszettels und schreibt noch SCHOKOLADE dazu. »Das ist viel besser, als deine digitale Privatliste, oder nicht?«

»Hm«, sage ich, weil meine Gedanken noch dabei sind, die Sache mit dem Kaugummi zu sortieren, als Mama auch schon weiterredet.

»Weißt du, manchmal frage ich mich, wie wir das früher alles überlebt haben. Schule, Freunde, Verabredungen, alles ohne Internet. Als ich so alt war wie du, da gab’s noch Schallplatten und Kassettenrekorder. Und in den Walkman kam eine Kassette, die hat man selbst aus dem Radio aufgenommen. Am Wochenende bei der Chartshow und auf der Hälfte der Lieder war der Moderator mit drauf oder Verkehrsdurchsagen. Und wenn man einen Film gucken wollte, dann musste man um Punkt Viertel nach acht vor dem Fernseher sitzen, sonst verpasste man den Mord. Also bei TATORT zum Beispiel. Früher konnte man nicht anhalten und zeitversetzt gucken, wenn man aufs Klo musste. Oder ohne Werbung. Ganz früher gab’s nicht mal Werbung.«

»Was ist denn ein Walkman?«, will ich wissen. »Da ist so ’n Typ neben dir hergelaufen und hat für dich gesungen?«

Mama bricht in Lachen aus. »Na, das wär’s noch gewesen.« Dann erklärt sie mir, dass es sich dabei um einen kleinen, tragbaren Musikplayer mit Kopfhörern gehandelt hat. Da konnte man eine Tonbandkassette reinstecken und wenn nach einer Dreiviertelstunde eine Seite abgespielt war, machte man den Deckel auf und drehte sie um.

»Steinzeit«, sagt Mama. »Und die Kassetten, mit denen man Musik aus dem Radio aufnehmen konnte, die waren teuer. Und mein Taschengeld brauchte ich ja für Schokolade mit Erdbeerfüllung, Cherry-Cola und die BRAVO. Die BRAVO war sozusagen unser Internet.«

Ich nicke geduldig. Manchmal hat Mama solche Nostalgieanwandlungen, da muss man sie dann einfach drin schwelgen lassen.

Mama steht auf und deutet auf den Küchentisch. »Wann kommt das Pulver da endlich mal weg?«

»Ganz bestimmt morgen«, verspreche ich.

Mama öffnet den Kühlschrank und holt ein Glas Pflaumenmus heraus.

»Okay, dann geh ich jetzt weiter malen.«

Wer ist Miss X?

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