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Оглавление3 Journalistische Nachrichtenauswahl
3.1 Zum Verhältnis von Realität und Berichterstattung
In der wissenschaftlichen Debatte gibt es verschiedene wissenssoziologische Positionen zum Vorhandensein und zur Erkennbarkeit von Realität (Berger und Luckmann 2003). Aus der Perspektive radikaler Konstruktivisten gibt es keine objektive Realität, über die die Massenmedien berichten könnten. Demnach stellt die Berichterstattung ein Konstrukt dar, und Journalisten besitzen ein Monopol für die Definition von Realität. Die anderen beiden Positionen gehen von einer objektiv erkennbaren Realität aus, sie unterscheiden sich in der Beurteilung, inwieweit die Darstellung der Realität durch die Massenmedien möglich ist. Aus der Perspektive von gemäßigten Konstruktivisten gibt es eine erkennbare Realität. Nach ihrer Ansicht ist es jedoch nicht Aufgabe der Medien, die wissenschaftlich erkennbare Realität darzustellen. So verzeichnen Statistiken Tatsachen, sie besitzen aber keine soziale Bedeutung. Es ist Aufgabe der Massenmedien, Tatsachen zu interpretieren und ihnen dadurch eine allgemeine Bedeutung zu geben. Aus der Perspektive der Realisten gibt es eine objektiv erkennbare Realität und es ist Aufgabe der Medien diese Realität so weit wie möglich angemessen darzustellen. Deshalb sind systematische Vergleiche zwischen erkennbarer Realität, und Realitätsdarstellungen möglich und sinnvoll (Shoemaker und Reese 1996, S. 7). Die erwähnten Sichtweisen sind bedeutsam für die Interpretation der Ergebnisse von systematischen Inhaltsanalysen der Medienberichterstattung, z.B. über Krisen und Konflikte sowie der Anlage und Durchführung von Untersuchungen zu den Ursachen der Nachrichtenauswahl. Dabei kann man mehrere Forschungsrichtungen unterscheiden.
Erstens, Gatekeeper-Studien13: Sie wurden von David Manning White (1950) begründet und von Walter Gieber (1956) fortgeführt. Journalisten wirkten im Prozess der Nachrichtenauswahl als passive Vermittler, die über Publikation oder nicht-Publikation entschieden. Durch den Vergleich von Agenturmaterial und der Berichterstattung, sogenannte Input-Output-Analysen, konnte erstens eine Realitätsdarstellung festgestellt werden und zweitens konnten Aussagen zu den Selektionskriterien durch das Notieren einer Begründung für die Nicht-Berücksichtigung einer Meldung gemacht werden. Der von White im Februar 1949 befragte und beobachtete Redakteur einer mittelgroßen amerikanischen Zeitung wies zwei Drittel der Meldungen aus Platzgründen zurück. Ein weiteres Drittel wurde als uninteressant eingestuft, weshalb White die Schlussfolgerung zog, die Nachrichtenauswahl sei auch subjektiv und erfolge auf der Basis persönlicher Werte, Erfahrungen und Einstellungen (White 1950, S. 390). Snider konnte die Ergebnisse in einer Replikationsstudie mit demselben Redakteur („Mr. Gates“) weitgehend bestätigen. Gründe für die Auswahl waren die eigenen Vorlieben und die Vorstellungen von den Wünschen des Publikums (Snider 1967, S. 427). Eine andere Richtung bekam die Gatekeeper-Forschung mit der Studie von Walter Gieber, der den Redakteur als „caught in a strait jacket of mechanical details“ (Gieber 1956, S. 432) beschrieb. Er charakterisierte den Redakteur als passiv und mit strukturellen Überlegungen beschäftigt.
Zweitens, Nachrichtenwert-Studien: Sie gehen auf eine Anregung von Walter Lippmann zurück. Die Auswahl von Nachrichten für die Publikation, sowie die Entscheidungen über ihre Platzierung und Größe sind Folgen einer Wechselbeziehung zwischen Ereigniseigenschaften und journalistischen Selektionskriterien, aufgrund derer die Ereignisse berichtenswert oder die Nachrichten publikationswürdig sind. Neben den Eigenschaften der Ereignisse, die mit Nachrichtenfaktoren erfasst werden, sind die Vorstellungen der Journalisten von der Berichtenswürdigkeit die Ursachen der Nachrichtenauswahl. Zunächst wurden die Begriffe Nachrichtenfaktor und Nachrichtenwert synonym verwendet. Die Differenzierung brachte Winfried Schulz ein, indem er den Nachrichtenwert einer Meldung aus der Summe und der Intensität ihrer Nachrichtenfaktoren ableitete. Die Grundannahme von Schulz lautete: „Je mehr eine Meldung dem entspricht, was Journalisten für wichtige und mithin berichtenswerte Eigenschaften der Realität halten, desto größer ist ihr Nachrichtenwert“ (Schulz 1976, S. 30). Nach Kepplinger beruht jede nicht rein zufällige Auswahl auf zwei Kriterien – im konkreten Fall auf den Nachrichtenfaktoren einer Meldung sowie dem Nachrichtenwert der Nachrichtenfaktoren aus Sicht von z.B. Redakteuren bei Qualitätszeitungen und Boulevardmedien. Diese können sich erheblich unterscheiden (Kepplinger und Weißbecker 1991, S. 330).
Drittens: news bias-Studien.14 Hier geht es um den Nachweis einer verzerrten Berichterstattung. In Konflikten oder Wahlkämpfen wird der Nachweis erbracht, dass die Berichterstattung systematisch eine Partei oder einen Kandidaten bevorzugt, indem sie häufiger und umfangreicher über diesen Akteur berichtet (Kerrick et al. 1964; Klein und Maccoby 1954). Der Sinn von Bias Studien liegt darin, die Konstruktionsprinzipien von Bias aufzudecken. „Es stellt sich die Frage, welche Merkmale der Welt in den Nachrichten mit der redaktionellen Linie korrelieren“, so Hagen (1992, S. 445). Ob eine Realitätsdarstellung objektiv oder verzerrt ist, kann man auf einem Kontinuum festhalten. Berücksichtigt man, ob der Bias offen oder versteckt ist und ob er beabsichtigt oder unbeabsichtigt ist, dann kann man anhand der „typology of news bias“ vier Arten von Bias unterscheiden. Wenn die Verzerrung offensichtlich und beabsichtigt ist, handelt es sich um Parteilichkeit. Dazu zählen Leitartikel, die politische Kandidaten unterstützen, Meinungskolumnen und Anzeigen. Bei Propaganda handelt es sich ebenfalls um beabsichtigte Parteilichkeit, sie soll jedoch versteckt bleiben. Unbeabsichtigter bias ist sichtbar und unbeabsichtigt, wie die überlegte Auswahl von Themen, die als publikationswürdig aufgefasst werden. Zum vierten Typus gehört Ideologie, die unbeabsichtigten und versteckten Bias enthält, der in Texte eingebettet ist (McQuail 1999, S. 191–194).
„Keines der drei vorangegangenen Modelle charakterisiert für sich allein betrachtet das Verhältnis von Berichterstattung und Realität angemessen“, resümierte Kepplinger (2011i, S. 58), weil sie die Intentionalität des Handelns von politischen Akteuren und die Intentionalität der journalistischen Selektionsentscheidung ausblenden. Am Anfang der Wirkungskette stehe eine Zwecksetzung – die Publikation oder die erwarteten Publikationsfolgen. Erst nach der Zwecksetzung und der Mittelwahl politischer Akteure beginne der Ursache-Wirkungsprozess, der durch die Selektionsentscheidung der Journalisten als intervenierende Variable unterbrochen werde (Kepplinger 2011i, S. 55). Wenn Journalisten bestimmte Zwecke verfolgen, sind die Selektionskriterien geeignete Mittel um Publikationsfolgen zu erreichen (Kepplinger 2011i, S. 56).15
3.2 Modelle der Einflussfaktoren auf die Nachrichtenauswahl
Die Selektionskriterien von Journalisten kann man in intrinsische und extrinsische Kriterien unterteilen: Rein berufsspezifische, sachliche und überindividuelle Kriterien der Nachrichtenauswahl werden als intrinsische Selektionskriterien bezeichnet. Zu den intrinsischen, rein professionellen Selektionskriterien gehören außerdem organisatorische Zwänge wie die rechtzeitige Verfügbarkeit von Meldungen, die Art ihrer Aufmachung, die Nachrichtenlage zum Zeitpunkt der Entscheidung usw. (Kepplinger 1989, S. 11; Flegel und Chaffee S. H. 1971, S. 649). Professionelle Spielregeln haben einen homogenisierenden Effekt auf das Medien- und Nachrichtenangebot – insbesondere die Regeln der Nachrichtenauswahl (Ruß-Mohl 2010, S. 23). Zu den intrinsischen Selektionskriterien gehören die Nachrichtenfaktoren und ihre Nachrichtenwerte. Extrinsische Selektionskriterien sind nicht-professionelle, nicht sachbezogene und folglich individuelle Gründe. Hierzu gehören die tatsächlichen oder vermeintlichen Ansichten von Verlegern oder direkten Vorgesetzten, Einflüsse von Interessengruppen sowie die subjektiven Sichtweisen von Journalisten. Nachrichtenfaktoren mit hohem Nachrichtenwert sind zwar eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für die Publikation einer Meldung. Da es erheblich mehr Ereignisse mit hohem Nachrichtenwert gibt, müssen Journalisten sich notwendigerweise auf andere Kriterien als den Nachrichtenwert der Nachrichtenfaktoren stützen (Kepplinger 2000, S. 107).
Das Akteurs-Modell systematisiert, welche Akteursgruppen Einfluss auf die journalistische Nachrichtenauswahl besitzen. Die wichtigste Einflussquelle sind Journalisten als Einzelpersonen oder als Gruppenmitglieder, die Nachrichten auswählen und aufbereiten. Eigentümer und Manager von Kommunikationsunternehmen können über die redaktionelle und andere Weisung Einfluss auf den Inhalt nehmen, obwohl sie keine genuin journalistischen Aufgaben wahrnehmen. Anzeigenkunden können versuchen, Einfluss auf den redaktionellen Teil der Berichterstattung zu nehmen oder ihre Interessen werden, um eine weitere Zusammenarbeit sicherzustellen, von den Journalisten berücksichtigt. Politische Machtgruppen, Parteien, Verbände oder Organisationen können ihren Einfluss mittelbar über die Eigentümer und Manager oder unmittelbar bei den Redakteuren geltend machen. Informationen sind die Währung, in der bezahlt wird, u.a. auch durch Verweigerung. Wirtschaftliche Machtgruppen, die nicht durch die Vergabe oder Verweigerung von Anzeigenaufträgen einwirken, setzen andere ökonomische oder juristische Mittel ein. Hierzu gehören u.a. Schadenersatzklagen. Schließlich nimmt auch die Öffentlichkeit im Verbreitungsgebiet der Zeitung Einfluss auf den Medieninhalt, indem ihre Wertvorstellungen Berücksichtigung finden (Kepplinger 2011i, S. 50).
Bei der Erklärung der Nachrichtenauswahl kann man unabhängige und abhängige Variablen unterscheiden. Zwischen beiden kann man intervenierende betrachten, deren Ausprägung den Einfluss der unabhängigen Variablen steuert. Beispiele hierfür sind die Distanz zwischen Ereignis- und Berichtsort, die Anzahl der beteiligten Personen und die Dauer des Geschehens. Die Ausprägungen einiger Nachrichtenfaktoren erfassen objektive Eigenschaften. Dazu gehört die Distanz zum Ereignisort. Andere beruhen auf Zuschreibungen. Dazu gehört die kulturelle Nähe zwischen Ereignis- und Berichtsregion. Auch die Entscheidung, was ein Ereignis ist, beruht auf einer Zuschreibung. Selbst wenn zwischen den Individuen hohe Übereinstimmung besteht, beruht diese „zumindest teilweise auf Konsens und nicht auf Erkenntnis“, so Kepplinger (Kepplinger 2011i, S. 50–51).
Mehrere Autoren haben Systematisierungen der Einflussfaktoren erstellt. Sie lassen sich auf verschiedenen Ebenen verorten. Dazu gehört das „Modell zur systematischen Erfassung von Faktoren, welche ein Journalismus-System konstituieren“ (Scholl und Weischenberg 1998, S. 20–22), auch Zwiebel-Modell genannt. Aufgrund seiner Operationalisierbarkeit erlaubt es, diese Einflüsse zu identifizieren. Es ist ein Analyseraster, das heuristischen Zwecken dient. Die äußerste Schicht bildet der Normenkontext. Dem Mediensystem sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, historische und rechtliche Grundlagen, Kommunikationspolitik sowie professionelle und ethische Standards zugeordnet. Die zweite Schicht ist der Strukturkontext. Zu den Faktoren der Medieninstitutionen gehören ökonomische und politische Imperative, organisatorische und technische Imperative. Der Funktionskontext besteht aus Medienaussagen, dazu zählen Informationsquellen und Referenzgruppen, Berichterstattungsmuster und Darstellungsformen, Konstruktionen von Wirklichkeit, Wirkungen und Rückwirkungen. Die innerste Schicht bildet der Rollenkontext. Zu den Merkmalen der Medienakteure gehören demographische Merkmale, soziale und politische Einstellungen, Rollenselbstverständnis und Publikumsimage, Professionalisierung und Sozialisation (Scholl und Weischenberg 1998, S. 20–22).
Einen ähnlichen Aufbau hat das von Esser entworfene Modell. Den Schalen16 Gesellschaftssphäre, Medienstruktursphäre, Institutionssphäre und Subjektsphäre (vgl. Abbildung 1) ordnete er relevante Einflussfaktoren zu, die dem Journalismus jedes Landes seine nationale und kulturelle Identität verleihen. Von den Schalen gehen handlungsprägende Einflüsse und Beschränkungen auf die Akteure im Systeminnern aus, wobei die Akteure dennoch handlungsfähig bleiben. Essers Arbeit operiert mit einem offenen Systembegriff und berücksichtigt innerhalb des Systems Akteure als intentional handelnde Personen. Der Stellenwert der Subjektsphäre lässt sich präziser bestimmen, wenn man folgende Annahmen Essers berücksichtigt:
Die Faktoren der äußeren Schalen prägen das Selbstverständnis und das journalistische Handeln der Medienakteure im Innern (Esser 1998a, S. 459). Diese Prägung kann hauptsächlich mit den Faktoren der Gesellschafts- und Medienstruktursphäre erklärt werden.
Die Faktoren der äußeren Schalen behindern, dass sich subjektive Werte und Motive ungefiltert in den Medieninhalten niederschlagen können (Esser 1998a, S. 459). Um zu klären, ob und wie sich subjektive Werte und Motive der Akteure in den Medieninhalten niederschlagen können, müssen Faktoren der Institutionssphäre berücksichtigt werden.
„Die Faktoren auf den verschiedenen Schalen-Ebenen beeinflussen sich in einem komplexen Prozeß wechselseitig“ (Esser 1998a, S. 459), das heißt, „nicht nur von ‚außen‘ nach ‚innen‘, sondern auch von ‚innen‘ nach ‚außen‘.“ Sie konstituieren das spezifische Gepräge, in dem die Medienakteure eines Landes handeln (Esser 1998a, S. 477).
Abbildung 1: Einflussfaktoren im Journalismus – Integratives Mehrebenenmodell
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Esser (1998a, S. 27).
Das Sphären-Modell von Donsbach ist in Form einer umgekehrten Pyramide aufgebaut. Zur System-Ebene gehören Geschichte, Kultur, Normen sowie politische, wirtschaftliche und mediale Strukturen. Operationalisiert werden die Faktoren u.a. mit dem Rollenverständnis, dem Verhältnis von Politik und Medien und Medienfreiheiten. Zur Institutionen-Ebene gehören Merkmale der Organisation, wie ihre Rechtsform, die wirtschaftliche Grundlage und Hierarchien. Messbar ist dies anhand der redaktionellen Linie, der redaktionellen Kontrolle und den kommerziellen Zielen des Mediums. Die dritte Ebene wird als Gruppen-Ebene bezeichnet. Dazu gehören gemeinsame Prädispositionen der Journalisten aufgrund ihrer Sozialisation, ihrer Profession und ihres sozialen Umfelds. Auf der Individualebene sind subjektive Überzeugungen, das Bedürfnis nach sozialer Validierung von Urteilen und die berufliche Motivation verortet. Der Anteil der erklärten Varianz einer Nachrichtenentscheidung steigt, je weiter man nach unten zur Spitze der Pyramide kommt. Die gruppenspezifischen und individuellen Faktoren werden als erklärungskräftiger eingestuft als die systemischen und institutionellen Faktoren (Donsbach 1987, S. 111–139).
Abbildung 2: Analyse-Ebenen der Forschung über Nachrichtenauswahl
Quelle: Donsbach (2008b, S. 276), eigene Darstellung.
Das Modell von Shoemaker und Vos unterscheidet die individuelle Ebene, die Ebene der Kommunikationsroutinen, die Organisationsebene, die Ebene der sozialen Institutionen und die Ebene des Gesellschaftssystems (Shoemaker und Vos 2009, S. 31–108). Die zusätzliche Ebene der Kommunikationsroutinen zwischen der Individual- und der Gruppenebene macht deutlich, dass z.B. Rollenvorstellungen und ethische Maßstäbe im Rahmen der beruflichen Sozialisation innerhalb der Redaktion erworben wurden. Individuelle Merkmale werden danach innerhalb der Gruppe geformt (Reinemann und Baugut 2014a, S. 484). Routinen sind entscheidend und sie führen zu Uniformität, stellten Shoemaker und Vos (2009, S. 52) fest. Medienroutinen sind dazu da, die Arbeit des Journalisten auch unter Zeitdruck sicherzustellen. Es handelt sich um automatische, unbewusste Entscheidungen, die z.B. aufgrund von internalisierten Normen und Regeln angewandt werden (Shoemaker und Reese 1996, S. 262). „Routines seem to dictate the overall patterns of events, and individual gatekeepers decide which particular news items are used within the standard framework“ (Shoemaker und Vos 2009, S. 52). Die Autoren sehen darin keinen Widerspruch zu den Ergebnissen von Flegel und Chaffee S. H. (1971), die einen erheblichen Einfluss der Meinung von Journalisten auf ihre Konfliktberichterstattung nachgewiesen haben, weil es sich hierbei um unbewusste Routinen handeln würde. Einen Beleg dafür liefern sie nicht.
Indem Journalisten ihre Selektionsentscheidungen von Normen geleitet treffen, repräsentieren sie ihren Berufsstand oder die Gesellschaft, in der sie leben, und handeln nicht als individuelle Entscheider. Shoemaker und Vos nennen drei Ursachen von Routinen: Die Orientierung am Publikum, externe Informationsquellen und die redaktionelle Kultur. Nachrichtenwerte stellen gelernte Routinen dar. Der Einfluss der Routine wirkt sich in allen Medienorganisationen gleich aus. Auf der Organisationsebene werden Faktoren verortet, entlang derer sich Medienorganisationen unterscheiden. Die redaktionelle Linie ist so ein organisationspezifischer Faktor, wobei sein Einfluss nicht einheitlich ist, weil Journalisten die redaktionelle Linie unterschiedlich interpretieren oder wahrnehmen. Weitere Einflussfaktoren sind die Strategien von Gruppen zur Entscheidungsfindung und das groupthink-Phänomen: die Gruppendynamik der Journalisten, „particularly their level of social cohesiveness“ (Shoemaker und Vos 2009, S. 72).
Reinemann und Baugut unterscheiden in ihrem Modell professionelle und nicht-professionelle Einflüsse auf die Nachrichtenauswahl. Zudem unterscheiden sie drei Ebenen, auf denen diese Einflüsse wirksam werden. Die nicht professionellen Merkmale beeinflussen die Entscheidung, Journalist zu werden und die Wahl der Medienorganisation. Die Zugehörigkeit zu einer Medienorganisation hat langfristig durch Sozialisationsprozesse Einfluss auf die professionellen Merkmale auf der Individualebene und kurzfristig durch Nachrichtenentscheidungen.
Abbildung 3: Modell des Einflusses professioneller und nicht professioneller Faktoren auf Nachrichtenentscheidungen
Quelle: Reinemann und Baugut (2014b, S. 333), eigene Darstellung.
Aufgrund der Wechselwirkungen zwischen Faktoren verschiedener Ebenen entsteht ein Problem der Zuordnung zu den Ebenen: Besonders schwierig ist die Verortung des Rollen- bzw. Aufgabenverständnisses. Das Individuum, das den Beruf des Journalisten ergreift, hat Motive für die Wahl des Berufes. Während der beruflichen Sozialisation innerhalb der Gruppe, der Redaktion oder dem Ressort, werden die Vorstellungen von den Aufgaben eines Journalisten angepasst und verändert. Das Aufgabenverständnis ist in starkem Maße abhängig vom Publikum, von der Zielgruppe des Mediums. Boulevardjournalisten und Qualitätszeitungsjournalisten haben ein unterschiedliches Verständnis von ihren Aufgaben. Rollenwahrnehmung und ethische Überlegungen könnten ein Ergebnis der redaktionsinternen Sozialisation sein und folglich von allen Journalisten eines Mediums geteilt werden. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Rollenwahrnehmung von allen Journalisten eines Landes geteilt wird, aus der eine bestimmte Nachrichten- bzw. Journalismuskultur entsteht (Reinemann und Baugut 2014b, S. 331). Durch rechtliche, wirtschaftliche, politische und historische Gemeinsamkeiten entsteht etwas, das als Journalismuskultur bezeichnet wird: eine Homogenität im Aufgabenverständnis von Journalisten eines Landes. Im Folgenden wird vom Berufsverständnis als Faktor auf System- oder Gesellschaftsebene gesprochen, weil es um das Verhältnis von Journalismus und Politik geht.
Mit Hilfe von Journalisten-Befragungen zu ihren Berufsmotiven und ihrem Rollenselbstverständnis, zur Wahrnehmung von Einflüssen auf Publikationsentscheidungen, kann eine Verbindung zwischen Einflüssen der Makro- bzw. Mesoebene und dem individuellen Handeln bzw. Handlungsorientierungen hergestellt werden (Engelmann 2011); (Reinemann und Baugut 2016, S. 313). Die gegenseitige Abhängigkeit von Struktur und Handlung wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass historische Unterschiede zu unterschiedlichen Rollenwahrnehmungen und Arbeitsroutinen geführt haben. Deutsche Journalisten sehen sich – im Gegensatz zu den britischen und amerikanischen – mehr in einer politisch aktiven Rolle (Donsbach 1982; Köcher 1985; Weaver und Wilhoit 1996; Weaver und Wilhoit 1986). In der Folge treffen sie eher Nachrichtenentscheidungen auf der Grundlage ihrer subjektiven Ansichten (Köcher 1985; Patterson und Donsbach 1996). Diese Tendenz wird durch unterschiedliche Redaktionsstrukturen verstärkt. Im Falle einer geringeren Trennung der Arbeitsrollen findet auch weniger professionelle Kontrolle statt, dies wiederum erleichtert subjektive Nachrichtenentscheidungen (Donsbach 1993).
Esser versuchte, die verschiedenen Modelle auf einen Nenner zu bringen: Auf der Ebene der Medienakteure verortet er das soziodemographische Profil, subjektive Werte, politische Einstellungen, Berufsmotive, Aufgabenverständnis, Publikumsbild. Auf der Ebene der Medienroutinen und -produkte verortet er strukturierte Arbeitsabläufe, verankerte Regeln und Normen bei Recherche und Produktion, feststehende Nachrichtenkriterien, Berichterstattungsmuster und Darstellungsformen sowie ritualisierte Interaktionen mit PR- und Nachrichtenquellen. Zur Ebene der Medienorganisation rechnet er die Arbeitsteilung, Kollegenorientierung, Redaktionssozialisation, Entscheidungshierarchien und -programme, innere Pressefreiheit, Eigentümereinfluss und Berufsethik. Der Ebene der Medieninstitutionen ordnet er Einfluss- und Austauschbeziehungen mit anderen gesellschaftlichen Institutionen zu, die sich niederschlagen in Medienrecht, Medienpolitik sowie Konzentrations- und Marktregulierung. Auf der Ebene der Mediensysteme findet eine Charakterisierung als privatwirtschaftlich-libertär, sozialverantwortlich, autoritär oder totalitär statt, sowie eine Einordnung des Verhältnisses zwischen Journalismus und gesellschaftlichen Werten, Traditionen und Ideologien (Esser 2004, S. 157–158).
Die dargestellten Rahmenmodelle haben einige Vorteile für international vergleichende Studien, wie Frank Esser betonte: Auf der Makroebene werden verschiedene Journalismussysteme voneinander abgegrenzt. Sie verbinden systemtheoretische und akteurstheoretische Ansätze und erlauben es, spezifische Kommunikatorprozesse auf den einzelnen Analyseebenen mit unterschiedlichen Theorien mittlerer Reichweite zu verknüpfen. Funktionale Äquivalente in verschiedenen Systemen könnten identifiziert werden, auch wenn sie unter anderem Namen firmieren oder anders konzeptualisiert sind. Die vielfältigen Kontextfaktoren, die mit dem Untersuchungsgegenstand in vielfältiger Beziehung stehen und ihn mitbestimmen, könnten leichter berücksichtigt werden. Zudem seien die Rahmenmodelle für die empirische Forschung gut operationalisierbar (Esser 2004, S. 158–159).
13 Der Begriff des Gatekeepers stammt von Lewin (1947).
14 Denis McQuail (1999: 191) definierte bias als „a consistent tendency to depart from the straight path of objective truth by deviating either to left or right (the word derives from the game of bowls, in which a ball can have an inbuilt tendency to deviate or be made to deviate by a player). In news and Information it refers to a systematic tendency to favour (in outcome) one side or position over another.“
15 Zu den beabsichtigten Publikationsfolgen kommen meist weitere, unbeabsichtigte Folgen hinzu. Diese können positiv oder negativ ausfallen.
16 Die Schalen werden auch als „Orientierungshorizonte“ bezeichnet.