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Schleiermacher und die Religionskritik der Aufklärung

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Mit seinen Reden über die Religion – so stand es im Frühjahr 1799 im Leipziger Messkatalog und auch noch in der Buchhändleranzeige vom September desselben Jahres1 – wandte sich Schleiermacher »an die aufgeklärten Verächter derselben« bzw. »die Aufgeklärten unter ihren Verächtern«. Auf dem Titelblatt war dann von den »Gebildeten« die Rede, wohl vor allem aus Rücksicht auf den Atheismusstreit um Fichte. Der Blick in das Buch selbst belehrt jedoch ohnehin darüber, dass mit den »Verächtern« eher die Indifferenten als die ausgesprochenen Religionskritiker gemeint waren, also jene, die sich nicht um die Provinz in ihrem Gemüt kümmerten, die nach Schleiermacher zur conditio humana gehört: die Religion. Tatsächlich richtet sich Schleiermachers Kritik vor allem gegen Übergriffe von beiden Seiten: von Seiten der Philosophie auf die Religion, von Seiten der Religion auf die Philosophie. Indem Schleiermacher die daraus entstehenden trüben Mischungen aus Metaphysik, Moral und Religion – gleich unter welchen Vorzeichen – kritisiert, betreibt er selbst Aufklärung durch Kritik.

Schon hieran wird deutlich, dass das Verhältnis von Philosophie und Religion bzw. Theologie, auch wenn es für Schleiermachers Denken im allgemeinen nicht die »Würde des Grundthemas« haben mag,2 für unsere Thematik grundlegend ist. Ich werde daher dieses Verhältnis im Blick auf ausgewählte Stationen des Schleiermacherschen Denkweges in den Mittelpunkt stellen, wobei ich mich – da es nicht um den Religionsbegriff an sich, sondern um die Religionskritik geht – vor allem auf den frühen Schleiermacher beziehen werde. Die Betrachtung ist aber über Schleiermacher selbst hinaus zu erweitern, denn Schleiermachers Denken hat, wie abschließend gezeigt werden soll, eine konstitutive Bedeutung für die Radikalisierung der Religionskritik im Ausgang der Klassischen Deutschen Philosophie bei Ludwig Feuerbach.

❶ Schleiermacher selbst, so scheint es, gehörte um 1789 zu den aufgeklärten Verächtern der Religion. Im Oktober 1789 schrieb er an seinen Freund Brinckmann: »Meine Parthie […] ist unwiderruflich genommen, und wenn Wizenmann […] und Sokrates selbst zur Vertheidigung des Christenthums aufstehn […] so werden sie mich nicht zurükbringen.« (KGA V/1, 156)3 In den zwischen 1789 und 1792/93 entstandenen Jugendschriften Schleiermachers spielt die Religion daher, selbst in der ganzheitlichen Sicht auf das Leben, keine eigenständige Rolle. Vielmehr wird, wie z. B. in der Freiheitsschrift, bereits das Gleichgewicht des Interesses an Religion und »Spekulation« zum Hindernis erklärt, die spekulative Position zu entwickeln (KGA I/1, 325). Das Christentum gilt Schleiermacher, hierin ist er sich mit seinem Freund Brinckmann einig, als »Volksreligion von reiner Moral« (von Brinckmann, 26. 6. 1789, KGA V/1, 126); Schleiermacher nennt es »eine Sammlung von Sittenregeln für jedermann brauchbar […] vermischt mit einigen Lehrsäzen, die sich, da sie sich blos auf das Judenthum bezogen, auch nur unter den Juden und ihren Nachkommen erhalten haben würden.« (An Brinckmann, 28. 9. 1789, KGA V/1, 153) Die Parallelen zu den Überlegungen des jungen Hegel über Volksreligion und Christentum sind unübersehbar.4

Hervorzuheben ist, dass Brinckmann seine Überlegungen in Bezug auf die Dogmatiken der Wittenberger und Hallenser Aufklärungstheologie vorträgt; der »fromme Christ«, so seine Schlussfolgerung, »braucht dies alles nicht, und der philosophische Kopf geht einen andern Weg« (KGA V/1, 126). In seiner Antwort stimmt Schleiermacher zu, erinnert aber zugleich daran, dass es noch etwas Drittes gebe, nämlich den »philosophischen Christen« (KGA V/153).5 Auf diese Spezies ist er jedoch nicht gut zu sprechen, denn von ihr rühre jene trübe Mischung her, welche den Geist des Christentums als Sittenlehre verdorben habe: sie wollen »ihre Vorurtheile und gewiße mißverstandene Winke ihres Herzens mit ihren Einsichten vereinigen«, woraus die Dogmatik entstanden sei, an der »zu zimmern und zu hämmern« die philosophischen Christen nicht aufhören werden, während »die jenseits des Rubikons«, zu denen Schleiermacher sich selbst auch zählt, solche Dogmatik »als ein leeres und unnüzes Gebäude verachten werden«. Die Entmischung von Philosophie und Religion ist bereits hier der Grundtenor von Schleiermachers Stellungnahme und er hält diese Position von da an auch durch; in seiner Dialektik-Vorlesung 1818/19 heißt es prägnant: »Der Philosoph braucht […] die Religion nicht für sein Geschäft, aber als Mensch, und der Religiöse braucht die Philosophie an und für sich nicht, sondern nur in der Mittheilung« (KGA II/10, 2, 242).

Was sich ändert, ist freilich die Grundlage dieser Entmischung. 1789 hält Schleiermacher dafür, dass die Religion (und er spricht hier nur vom Christentum) eine Morallehre sei, die vorzugsweise durch die philosophische Vernunft begründet werden müsse. Der Gedanke der Aufklärungsphilosophie von der Seligkeit der Heiden, wie ihn Christian Wolff in seiner Prorektoratsrede von 1721 de Sinarum philosophia practica und auch Schleiermachers Lehrer Eberhard in seiner Neue[n] Apologie des Sokrates 1776 vertreten hatten,6 wird hier gewissermaßen auf das Christentum rückprojiziert: die Philosophie der »Heiden« enthält nicht eine der christlichen Sittenlehre adäquate Moral, sondern das Christentum enthält eine vernünftig zu begründende Auffassung von Sittlichkeit. Diese Position unterscheidet sich von der späteren, nach der Vernunft und Religion, philosophischer und theologischer Gottesgedanke einander entsprechen, ohne sich wechselseitig zu begründen.

Schleiermacher kritisiert um 1789 aber nicht nur die christliche Dogmatik, wie aus den hierfür einschlägigen »Briefen« An Cecilie (1790) hervorgeht, die Günter Meckenstock zu Recht unter den Titel einer »Krisis des religiösen Bewußtseins« gestellt hat.7 Das Fragment bezieht sich auf den Gedankenaustausch zwischen Brinckmann und Schleiermacher, der in fiktiven Briefen des Ich-Erzählers Schleiermacher an eine junge, empfindsame Frau gespiegelt wird. Nur scheinbar findet die religiöse Krisis – mit der Schleiermacher seine eigene Glaubenskrise verhandelt – eine Lösung im Zusammenstimmen von »Herz und Vernunft« (KGA I/1, 211), indem, in Entsprechung zur Position Kants, die Sittlichkeit die Annahme der Ideen Gottes als des höchsten Wesens und die Annahme der Unsterblichkeit der Seele verlangt. Schleiermacher deutet zum Schluss des Fragments an, dass dies nur ein »Ruhepunkt für eine Weile« sei und man nicht »in dieser schöneren Gegend der Philosophie auf immer wohnen« könne (KGA I/1, 212). Damit zeichnet sich ab, dass er mit Kant die Ideen Gottes und der Unsterblichkeit der Seele als theoretische Gewissheiten kritisiert, über Kant hinausgehend aber auch – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – bereit ist, sie als Postulate der reinen praktischen Vernunft aufzugeben.

In diesem Überschritt über Kant liegt Schleiermachers Radikalisierung der aufklärerischen Religionskritik. Dabei, das muss hier ausdrücklich angemerkt werden, bleibt jedoch weitgehend in der Schwebe, inwieweit Schleiermacher Religion als solche kritisiert oder inwieweit er nur eine Religion kritisiert, die meint, sich dogmatisch und philosophisch absichern zu müssen. Für das Erstere sprich immerhin nicht nur seine (wenn auch temporäre) Absage an das Christentum, sondern auch, dass Religion inhaltlich nur als Sittenlehre vorkommt, die allein aus der Vernunft zu begründen sei. Auf der anderen Seite lassen aber die Briefe An Cecilie erkennen, dass die Seite des Herzens in den »unfruchtbare[n] und trostlose[n] Provinzen« (KGA I/1, 212) der Philosophie, in welche die Vernunft uns treibt, keine Befriedigung findet. Dagegen steht aber wiederum die Einsicht in der Schrift Über den Werth des Lebens, dass erst im Verzicht auf den großen Enthusiasmus Verstand und moralischer Sinn »Spuren von Glükseligkeit« finden können, die nicht illusionär sind und die mit dem Schicksal versöhnen (KGA I/1, 470 f.).

❷ Schleiermacher, dies macht seine Abhandlung Über das höchste Gut deutlich, geht mit Kant sogleich über Kant hinaus. Er sieht das Christentum ausdrücklich als eine Philosophie[!] an, welche – nach Unterdrückung der (neu-)platonischen Schwärmerei – »allein die Stelle aller Sittenlehre vertreten« habe (KGA I/1, 118 f.). Im Praktischen liege das Christentum der Kantischen Philosophie nahe, im Theoretischen jedoch seien beide einander »fast gänzlich entgegengesezt«, weil »ein jedes von beiden da anfängt wo das andre aufgehört hat, und da aufhört, wo das andre anfing«: das Christentum beginne mit dem Willen Gottes, um daraus das höchste Gut abzuleiten, während Kant vom Begriff des höchsten Gutes ausgehend das Dasein Gottes postuliere (KGA I/1, 119).

Der Grundfehler bestehe vor allem darin, dass beide, Kant und die christliche Sittenlehre, die »Glükseligkeit als Theil des höchsten Guts« (ebd.) ansehen, auch wenn diese bei Kant ins Jenseits verlagert werde, weil wir im irdischen Leben nur Glückswürdigkeit erwerben können, aber keine unmittelbare Relation zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit bestehe. Nach Schleiermacher ändert diese Verschiebung jedoch nichts, da unter den Bedingungen fortdauernder Sinnlichkeit auch der Hiatus zwischen Tugend und Glückseligkeit fortbestehe oder, unter den Bedingungen eines nichtsinnlichen Jenseits, die Glückseligkeit obsolet bleibe (KGA I/1, 102). Dagegen möchte Schleiermacher die Glückseligkeit und mit ihr die Sinnlichkeit aus dem Begriff des höchsten Gutes ausschließen, denn erst durch diese Vermischung von Sittengesetz und Empirie werde es nötig, im ethischen Kontext zum Gottesbegriff Zuflucht zu nehmen. Die Vernunft aber müsse autonom bleiben und »das, was bei der ganzen Sache sie unmittelbar angeht, auch allein und aus ihren eignen Mitteln in Richtigkeit bringen« (KGA I/1, 88). Das höchste Gut sei kein empirisch zu realisierender Zweck; es sei vielmehr »der vollkomne Inbegrif alles deßen was nach gewißen Regeln in einer gewißen Verfahrungsart nemlich der ungemischten rein rationalen zu erlangen möglich ist« (KGA I/1, 90 f.).

Damit wirft Schleiermacher Kant Inkonsequenz vor, nämlich das Verlassen einer rein rationalen, im Bereich der intelligiblen Welt bleibenden Begründung der Sittlichkeit; er mobilisiert gewissermaßen die Kantische Unterscheidung von intelligibler und sinnlicher Welt gegen Kants Festhalten an der Verbindung von Sittlichkeit und Glückserwartung, aus welcher sich das Postulat der Existenz Gottes ableitet. Und auch in anderen Hinsichten mobilisiert Schleiermacher Kant gegen Kant, wie es Peter Grove prägnant zusammengefasst hat: »Er argumentiert mit der Analytik der zweiten Kritik gegen ihre Dialektik, mit der ersten Kritik gegen ihre praktisch-philosophische Transformation der Metaphysik in der zweiten Kritik.«8

❸ Ich kann dies hier nicht im Einzelnen erörtern und auch nicht der von Grove aufgeworfenen Frage nachgehen, ob Schleiermachers Abhandlung über das höchste Gut letztlich in Anknüpfung an Rehberg in einen »undogmatische[n] metaphysische[n] Atheismus« münde.9 Die bereits angesprochene Uneindeutigkeit, wie weit Schleiermacher mit seiner Religionskritik geht bzw. gehen will, lässt sich m.E. nicht eindeutig auflösen. Seine über Kant hinausgehende Kritik der philosophischen Theologie muss nicht als Kritik der Religion selbst, sondern kann auch als Kritik an der Vermischung von Philosophie und Religion verstanden werden, die durch die Stellvertreterfunktion des Christentums für die Sittenlehre zustande gekommen sei. Deutlich wird nur, dass Schleiermacher auf eine autonome – und d. h. rein rationale – Begründung des Sittengesetzes zielt. Ob die Religion daneben noch eine Rolle spielen könnte, in der sie sich nicht auf trübe Weise mit der Philosophie vermischt, bleibt weitgehend offen.

Auf welche Weise beides – Kritik der philosophischen Theologie und Affirmation der Religion – bei Schleiermacher zusammen bestehen könnte, führt ansatzweise die wohl an Wilhelm Dohna gerichtete briefliche Abhandlung über Wissen, Glauben und Meinen vor, die freilich nicht genau zu datieren und insofern schwer zu den anderen Frühschriften ins Verhältnis zu setzen ist (KGA V/1, 424–428).10 Hier geht es, kurz gesagt, darum, die Religion vom (philosophischen) Wissen so zu trennen, dass sie gleichwohl mehr ist als ein bloßes Meinen, welches immer »mit dem Bewußtseyn der Unzulänglichkeit der Gründe begleitet« wird (KGA V/1, 425). Die Religion als Glaube ist ein Fürwahrhalten aus subjektiven Gründen, welches sich nicht auf ein äußeres Objekt, »sondern auf das fürwahrhaltende Subjekt selbst bezieht« (KGA V/1, 424). Schleiermacher bezeichnet diese Form des Selbstbezugs als »das unmittelbare Selbstbewußtseyn« (ebd.). Auf diese Weise »entsagt« die Religion dem Wissen, um sich auf den Glauben »einzuschränken« (KGA V/1, 426); – eine bemerkenswerte Akzentverschiebung gegenüber Kant, der ja das Wissen beschränken wollte, um dem Glauben Platz zu machen.11 Schleiermacher kritisiert auch hier, auf Positionen verweisend, die er in der Abhandlung über das höchste Gut vorgetragen hatte, dass Kant mit seiner Postulatenlehre so etwas wie einen »nothwendige[n] Glaube[n]« (ebd.) konstruieren wolle, während er sich nur auf das Selbstverhältnis des Subjekts beziehen könne, welches sich in Hinsicht auf die Religion für Schleiermacher nicht auf die menschlichen Natur überhaupt, sondern die Modifikation der menschlichen Natur im Individuum bezieht und insofern gerade nicht notwendig ist (KGA V/1, 424).

Nahegelegt wird die religiöse Selbstdeutung nach Schleiermacher durch das »Bedürfniß […] dem bei uns von innen so sehr angefochtnen Sittengesetz eine äußre Stütze zu verschaffen« (KGA V/1, 426). Entgegen dem ersten Anschein ist diese Äußerlichkeit nicht objektiv zu verstehen, sondern beruht allein darauf, dass eine »allgemein als nothwendig erkannte Idee« – gemeint ist m. E. das Sittengesetz – gegen die individuell gegebenen »Widersprüche der Sinnlichkeit« autorisiert werden kann (KGA V/1, 427). Dies geschieht so, dass die Möglichkeit einer praktischen Bestimmung allein durch Vernunft, wie sie das Sittengesetz fordert, durch die Annahme Gottes als eines entsprechenden praktischen Ideals »anschaulich gemacht wird« (ebd.). Ich kann hierin, anders als Peter Grove, keine Schleiermachersche Postulatenlehre erkennen. Schleiermacher legitimiert lediglich die Möglichkeit einer anschaulichen, d. h. nicht rein intelligiblen individuellen religiösen Selbstdeutung im praktischen Zusammenhang. Dass diese nur im praktischen Zusammenhang möglich ist, ergibt sich allein daraus, dass jede Begründung der Religion im Kontext der theoretischen Vernunft ein bloßes Meinen wäre. Von der Postulatenlehre indes unterscheidet sich Schleiermacher dadurch, dass er der religiösen Selbstdeutung jede Beimischung von Objektivität und damit jede begründende Funktion nehmen will, welche sie zu einem notwendigen Glauben machen würde. So bleibt nur die reine Selbstbezüglichkeit in praktischer Hinsicht als Ort eines legitimen Glaubens und damit der Religion übrig – das insofern »unmittelbare«, d. h.: nicht auf Gegenstände bezogene – Selbstbewusstsein. Es trifft daher zu, dass Schleiermacher in der brieflichen Abhandlung »die Religion im unmittelbaren Selbstbewußtsein« verankert.12 Sie ist dadurch aber weder notwendig (sondern vielmehr kontingent) noch allgemein (sondern individuell), weshalb die autonome, notwendig-allgemeine und wissensmäßig vollzogene Begründung des Sittengesetzes sowie die theoretische Vernunft davon ganz unberührt bleiben.

In der Folge rückt Schleiermacher sowohl von der moraltheoretischen Interpretation des Christentums als auch von der Begründung von Religion im Kontext praktischer Philosophie ab. Am deutlichsten wird dies in der Trennung von Metaphysik und Moral auf der einen und Religion auf der anderen Seite, wie sie in den Reden vollzogen wird. Was bleibt, ist jedoch die Bindung der Religion nicht nur an die Subjektivität, sondern auch an die Sinnlichkeit qua Anschauung, wie sie – anknüpfend an die vermittelnde Funktion der Religion bei Kant – zuerst in der brieflichen Abhandlung über Wissen, Glauben und Meinen hervortritt. Die spätere Verlagerung von der Anschauung zum Gefühlsbegriff ändert hieran grundsätzlich nichts; die sinnliche Komponente bleibt bis hin in die Bestimmung der Religion (parallel zur Kunst) als individuellem Symbolisieren erhalten.

Auf der anderen Seite gibt Schleiermacher bereits in seinen Jugendschriften die von Kant übernommene Trennung von sinnlicher und intelligibler Welt auf, was auch zu einer Neuausrichtung des Verhältnisses von Philosophie und Religion führt. Die individuellen Vermittlungsleistungen der Religion müssen jetzt auch eine philosophische Entsprechung finden und beide, Wissen und Handeln (Philosophie) sowie Religion, sind notwendige Bestandteile der Totalität des Lebens. Ihr gemeinsamer Grund ist jetzt ein Absolutes, das im Gefolge der Jacobi- und Spinoza-Studien in Schleiermachers Blickfeld tritt und den Blick auf Kant entscheidend verändert. Die Verankerung beider in einem Absoluten erlaubt es, Philosophie und Religion zu trennen, zugleich aber aufeinander beziehbar zu halten. Die Religionskritik Schleiermachers vollendet sich als Entmischung, die zugleich Affirmation sowohl der Selbständigkeit der Philosophie als auch der Religion ist. Wenn immer eine grundsätzliche Kritik der Religion selbst auf Schleiermachers Denkweg gelegen haben mag, so ist sie jetzt für ihn nicht mehr möglich.

❹ Mit der Position einer Parallelität von Religion und Philosophie setzt Schleiermacher voraus, dass Religion eine Tatsache des menschlichen Bewusstseins darstellt, die nicht nur zu den historischen Beständen des menschlichen Geistes, sondern gleichsam zur Naturausstattung des menschlichen Gemüts gehört. Sie ist ein Vermögen, das man ignorieren, aber nicht vertilgen kann. Eine radikale Religionskritik mit atheistischen Konsequenzen, wie sie vor allem die Französische Aufklärungsphilosophie hervorgebracht hatte,13 ist für Schleiermacher in jedem Falle haltlos und beruht auf einer Verkennung der menschlichen Natur und der Natur des Universums. Die radikale Religionskritik erwächst für ihn, so scheint es, aus einer Nationaleigentümlichkeit der Franzosen, die in der ersten Rede wie folgt charakterisiert wird: »frivole Gleichgültigkeit mit der Millionen des Volks, der wizige Leichtsinn mit dem einzelne glänzende Geister der erhabensten That des Universums zusehen, die nicht nur unter ihren Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens bestimmt« KGA I/2, 169). Mit anderen Worten: Der Atheismus ist für Schleiermacher immer nur Schein, der auf einem Selbstmissverständnis beruht, wie es auch später noch in der Glaubenslehre14 und in den Vorlesungen über die Dialektik bekräftigt wird, nach denen es »wahren Atheismus« nicht geben könne (KGA II/10, 1, 38).

Aus dieser Perspektive ist Atheismus nicht ein theoretisches, sondern vielmehr ein praktisches Problem, eben ein Problem der Verächter der Religion. Schleiermacher befindet sich damit im mainstream der Aufklärungsphilosophie, welche vor allem einen praktischen Atheismus kannte; erst durch den Spinoza-Streit erfolgte eine Wendung, sofern nun die Frage im Raum stand, ob eine Philosophie aufgrund ihrer Prinzipien atheistisch sein könne. Siegmund Jakob Baumgarten etwa hatte in seiner einflussreichen, von Semler herausgegebenen Geschichte der Religionspartheyen die These vertreten, sofern Religionsspötter und ungläubige Freigeister Atheisten genannt werden könnten, seien sie dies in der Regel deshalb, weil sie unter »diejenigen begriffen« werden, »deren Verhalten der Ueberzeugung von GOtt widerspricht; welche auch practische Atheisten, d. i. thätige Gottesverleugner heissen, im Gegensatz der theoretischen oder der atheorum speculativorum.«15 Zu letzteren zählt vor allem Spinoza, den Schleiermacher freilich gerade für das religiöse Bewusstsein in Anspruch nehmen will. Auch hiermit befindet er sich in bester Gesellschaft. Seitdem Jacobi 1785 seine Version des Wolfenbütteler Gesprächs mit Lessings Bekenntnis zu Spinoza veröffentlicht hatte,16 galt Spinoza vielen – mit Ausnahme vor allem Kants und Jacobis selbst – als »theissimus« und »christianissimus«, wie Goethe es formulierte.17

Das Schleiermacher nicht unter die spekulativen Atheisten gerechnet werden kann und vielleicht – dies bleibt eine offene Frage – nie gerechnet werden konnte, stellt ihn nicht ins Abseits der vorherrschenden aufklärerischen Religionskritik, deren Begriff ja wesentlich von Kant her datiert und darauf zielt, ungerechtfertigte Geltungsansprüche der Religion gegenüber der Philosophie abzuweisen. Dem wird Schleiermacher durch sein Programm der Entmischung gerecht, das letztlich darauf beruht, der Religion als nicht-reflexiver individueller Selbstdeutung der Subjektivität einen Platz anzuweisen, an dem sie in keine Konkurrenz zu philosophischen und wissenschaftlichen Selbst- und Weltdeutungen tritt.

❺ Die Subjektivierung der Religion, auf der Schleiermachers aufgeklärter Religionsbegriff beruht, ist für sich genommen freilich nicht dagegen gefeit, zum Ansatzpunkt einer radikalen Religionskritik gemacht zu werden. Feuerbach inszeniert in diesem Sinne ein kunstvolles Spiel, in dem er Hegelsche und Schleiermachersche Positionen sich wechselseitig kritisieren lässt. In seinem Aufsatz Zur Beurteilung der Schrift »Das Wesen des Christentums« (Anfang 1842) erklärt er sich näher darüber.18 Hierbei stilisiert Feuerbach sich zunächst in polemischer Absicht, d. h. gewiss in übertriebener Weise, als Anti-Hegelianer.19 »Hegel«, so heißt es, »identifiziert die Religion mit der Philosophie, ich hebe ihre spezifische Differenz hervor; […] Hegel objektiviert das Subjektive, ich subjektiviere das Objektive; […] Hegel unterscheidet, ja, trennt den Inhalt, den Gegenstand der Religion von der Form, von dem Organ, ich identifiziere Form und Inhalt, Organ und Gegenstand; Hegel geht vom Unendlichen, ich vom Endlichen aus; Hegel setzt das Endliche in das Unendliche […]; ich setze das Unendliche in das Endliche«.20

Die entscheidenden Stichworte sind »Subjektivierung« und »Verendlichung«. Hierauf basiert Feuerbach sein grundlegendes Einverständnis mit Schleiermacher: »Ich tadle Schleiermacher nicht deswegen, wie Hegel, daß er die Religion zu einer Gefühlssache machte, sondern nur deswegen […], daß er nicht den Mut hatte, einzusehen und einzugestehen, daß objektiv Gott selbst nichts andres ist als das Wesen des Gefühls, wenn subjektiv das Gefühl die Hauptsache der Religion ist. Ich bin in dieser Beziehung so wenig gegen Schleiermacher, daß er vielmehr eine wesentliche Stütze, die tatsächliche Bestätigung meiner aus der Natur des Gefühls gefolgerten Behauptungen ist.«21

Tatsächlich aber ist die Feuerbachsche Konsequenz aus Schleiermachers Gefühlsbegriff, wie Walter Jaeschke gezeigt hat, »eine Hegelsche«,22 denn in ihr wird das Gefühl wiederum als subjektive Form eines objektiven Inhalts verstanden. Gleichzeitig jedoch wird diese Objektivität ihrem Wesen nach als subjektiv bestimmt, sofern es sich dabei um die Selbstobjektivierung des fühlenden Subjekts handelt. In diesem Sinne hatte Feuerbach bereits im Wesen des Christentums auf Hegel und Schleiermacher verwiesen.23 Gleich der Beginn der Einleitung über das »Wesen des Menschen im allgemeinen« führt die Religion auf die differentia specifica von Mensch und Tier zurück: Tiere haben keine Religion, weil sie kein Gattungsbewusstsein haben.24 Damit wird auf Hegels Polemik gegen Schleiermachers Gefühlstheologie angespielt, wo es hieß: »Soll das Gefühl die Grundbestimmung des Wesens des Menschen ausmachen, so ist er dem Thiere gleichgesetzt«.25 Feuerbach, so scheint es, stimmt dieser Konsequenz zu, wenn er schreibt, »daß da, wo das Gefühl zum Organ des Unendlichen, zum subjektiven Wesen der Religion gemacht wird, der Gegenstand derselben seinen objektiven Wert verliert«.26 Das freilich ist für Feuerbach gerade der Kern der Sache. Hegels Schleiermacher-Kritik ist für ihn Bestätigung und Bekräftigung seiner Lesart des Schleiermacherschen Gefühlskonzepts. Mehr noch. Weil Hegel Religion nicht radikal subjektivieren wollte, habe er ihren Begriff verfehlt; er sei »ebendeswegen nicht in das eigentümliche Wesen der Religion eingedrungen, weil er als abstrakter Denker nicht in das Wesen des Gefühls eingedrungen ist«.27 Die Subjektivierung der Religion bedeutet jedoch für Feuerbach, dass die menschliche Subjektivität als solche den objektiven Gefühlsinhalt ausmacht: die Religion »ist identisch mit dem Selbstbewußtsein, mit dem Bewußtsein des Menschen von seinem Wesen «.28

Diese Subjektivierung versteht Feuerbach, durchaus an Schleiermacher anknüpfend, als Individualisierung. Hierin liege jedoch eine Täuschung, welche der Religion eigentümlich sei. Mache, so heißt es, das Individuum »seine Schranken zu Schranken der Gattung, so beruht dies auf der Täuschung, daß es sich mit der Gattung unmittelbar identifiziert«.29 Das religiöse Bewusstsein ist somit ein defizitäres Selbstbewusstsein, denn das wahre Selbstbewusstsein ist für Feuerbach reflexiv: »An dem Gegenstande wird […] der Mensch seiner selbst bewußt: das Bewußtsein des Gegenstands ist das Selbstbewußtsein des Menschen.«30 Dagegen solle das Individuum »sich als beschränkt fühlen und erkennen«, indem »ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung Gegenstand ist, sei es nun als Gegenstand des Gefühls oder des Gewissens oder des denkenden Bewußtseins.«31

Indem Schleiermachers Subjektivierung der Religion nach Feuerbach für die Religion nichts anderes zurückbehält als das individuelle Selbstverhältnis des Subjekts, wird Schleiermacher zum »letzten Theologen des Christentums«.32 Er übernimmt dessen Bestimmung des Gefühls als Organ des Religiösen, um darzutun, dass das Gefühl seinem Wesen nach »sich selbst Gott« sei und die Theologie selbst insofern auf einen »religiösen Atheismus« des Herzens hinauslaufe.33

1 Staats- und gelehrten Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, 7. 9. 1799, Nr. 144, 6.

2 Hans-Joachim Birkner, Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation, München 1974, 43. Gerhard Ebeling sah im Unterschied zu Birkner in dem Verhältnis von Philosophie und Theologie »das Kernproblem der Schleiermacherinterpretation« (Gerhard Ebeling, Theologie und Philosophie, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 31957–1962, Bd. 6, Sp. 813 f.).

3 Schleiermacher bezieht sich auf Thomas Witzenmann, Die Geschichte Jesu nach dem Matthäus und Johann Konrad Pfenniger (Anonym), Sokratische Unterhaltungen.

4 Vgl. Walter Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983, 42 ff.

5 Es ist unverständlich, dass Uwe Glatz, Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher, Stuttgart 2010, 81, dies so verstehen will, als ob Schleiermacher diese Position affirmieren wolle.

6 Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, hrsg. v. M. Albrecht, Hamburg 1985 (zuerst 1722); Johann August Eberhard, Neue Apologie des Sokrates oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden, Berlin und Stettin 1776.

7 Günter Meckenstock, Deterministische Ethik, 132–147; vgl. auch Bernd Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin und New York 1995, 167–180.

8 Peter Grove, Deutungen des Subjekts, 124.

9 Ebd., 125.

10 10 Ebd., 126 ff.

11 11 KrV B XXX, AA 3, 19.

12 12 Meckenstock, Deterministische Ethik, 157; Grove, Deutungen des Subjekts, 131 möchte dagegen individuelles und unmittelbares Selbstbewusstsein unterscheiden. Mir scheint, dass in dem Brief beides gerade als identisch aufgefasst ist.

13 13 Vgl. Winfried Schröder, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998.

14 14 Vgl. KGA I/7,1, 124: »Will man [...] das auf Gott sich beziehende Selbstbewußtsein mißkennen, als sei es kein anderes als das auf die Welt Bezug nehmende: so kann dies mit einigem Scheine nur geschehen, wenn man in diesem lezteren selbst die Seite des Freiheitsgefühls aufhebt.«

15 15 Siegmund Jacob Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen, hg. v. Johann Salomon Semler, Halle 1766, 25.

16 16 Vgl. Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1, 1, 16–30.

17 17 Goethe an Jacobi, 9. 6. 1785, in: Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Heinrich Jacobi, Briefwechsel, hg. v. Max Jacobi, Leipzig 1846, 85.

18 18 Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, hg. v. W Schuffenhauer, Berlin 1967 ff., Bd. 9, 229–242.

19 19 Zum Kontext der Feuerbachschen Stellungnahme in den religionsphilosophischen Diskussionen der Zeit vgl. Walter Jaeschke, Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, Kap. IV, bes. 396 ff.

20 20 Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 9, 231.

21 21 Ebd., 230.

22 22 Jaeschke, Die Vernunft in der Religion, 398.

23 23 Ein Einfluss Schleiermachers wird vorher – auch literarisch – kaum greifbar; zwar begründete Feuerbach 1824 seinen Wechsel von Heidelberg nach Berlin auch damit, dass dort der »große Schleiermacher« lehre, wobei er ihn auffälligerweise vor allem als Kanzelredner und Exegeten und nicht als Systematiker erwähnt (an den Vater, 8. 1. 1824, in: Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 18, 41), aber tatsächlich muss gerade der Exeget Schleiermacher für Feuerbach eine Enttäuschung gewesen sein, denn der Besuch einer Vorlesung über die Paulinischen Briefe – der einzigen von Schleiermacher gehaltenen, die Feuerbach belegt hatte – wurde abgebrochen (vgl. die Erläuterungen ebd., 401 und 407).

24 24 Vgl. Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 5, 28 f.

25 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorwort zu: H. F. W. Hinrichs: Die Religion, in: GW 15, 137.

26 26 Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 5, 41.

27 27 Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 9, 230.

28 28 Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 5, 29.

29 29 Ebd., 37.

30 30 Ebd., 34.

31 31 Ebd., 37.

32 32 Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 9, 230.

33 33 Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 5, 42 f.

Schleiermachers Philosophie

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