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Am Mittwochmorgen standen die älteren Schüler kurz vor Unterrichtsbeginn zumeist in der geheizten Pausenhalle zusammen, tauschten Neuigkeiten aus oder waren vereinzelt mit ihren Handys und Smartphones beschäftigt, während sich viele Fünft- und Sechstklässler draußen noch mal richtig austobten. Beim ersten Läuten stritten sich zwei Mädchen heftig und wurden sogar handgreiflich.

»Das hast du nicht gesagt!« behauptete lauthals die eine. »Doch, habe ich wohl!« schrie die andere.

Ein Jugendlicher, dem sie dabei zu nah auf die Pelle gerückt waren, blaffte schroff, sie sollten sich verpissen, und die beiden zogen wortlos Leine.

Beim zweiten Klingeln gabs ein Gedränge vor den Eingängen, als würde eine neue Spielkonsole verhökert, allein die Begeisterung fehlte.

Simon hatte schlecht geschlafen und keine Eile. Zögernd setzte er sich im Kursraum neben Lisa Schnell auf seinen Platz, die wie er in allen Fächern zu den Leistungsstärksten gehörte – fleißig und adrett, aber leider völlig humorlos. Er kannte sie nur als Nebenfrau hier aus dem Mathekurs.

Ullrich erschien plötzlich in der Tür, murmelte sein „Guten Morgen“, stellte seine Tasche ab und schaute sich um.

»Fehlt heute jemand?... Ach ja, ich sehe schon: Julian Laarmann.« Unwillkürlich zog das notorische Grinsen über sein Gesicht und Patrick Stirner schnitt im nächsten Moment fast schon dieselbe Grimasse.

»Hoffentlich ist er nicht länger krank, damit aus seinen Verständnislücken keine schwarzen Löcher werden«, spottete Ullrich. »Wird sonst noch jemand vermisst?«

»Nein, Sir. Sonst sind alle an Bord, Sir.«

»Gut, dann wenden wir uns doch am besten gleich wieder der Kurvendiskussion zu.«

Dr. Ullrich hatte selbst keinen guten Tag, da störte ihn dieser Schüler sogar durch seine Abwesenheit. Wenigstens war dem neulich bei der Klausurrückgabe sein subversives Lachen vergangen.

Er schrieb eine Funktion an die Tafel und fragte, wer sie ableiten kann. Da sich niemand meldete – keiner wollte sich schon am frühen Morgen die Zunge verbrennen – richtete er sich direkt an Simon, ob er eventuell eine Idee dazu hätte, was wie üblich der Fall war.

Was wäre gewesen, wenn ich nein gesagt hätte, dachte Simon nachher, während Ullrich seine Lösung noch einmal erläuterte. Mann, was ist das eigentlich für ein Unterricht? – Mir gegenüber ist der ja wirklich immer scheißfreundlich. Im Grunde doch nur, weil er mich braucht. Erstaunlich, wie brav hier alle mitmachen. Außer Julian vielleicht und Patrick Stirner.

No no, mit Lisa Schnell ist definitiv nicht zu reden, ging ihm durch den Kopf, während er beobachtete, wie sie gerade nach irgendwas in ihrer Tasche kramte.

Sie war die gut betuchte Filiale eines großen Bekleidungshauses und erschien in der Schule immer im Dresscode ihrer Mutter. Kostüme, Blazer usw., alles vom Feinsten, aber sturzbieder. Vermutlich hatte sie keine Freundin, die ihr mal ehrlich die Meinung sagt. Heute trug sie einen langen Rock und eine Kurzjacke in khakibraun.

Ja, das ist echt khakibraun, dachte er.

Lisa schaute ihn jetzt an und lächelte freundlich, wahrscheinlich mochte sie ihn tatsächlich. Mike hatte das mal vermutet.

An diese matte Stunde erinnerte sich Simon, als er am späten Nachmittag durchs Küchenfenster beobachtete, wie Julian mit seiner Schultasche über der Schulter und einem Lied auf den Lippen vom Rad stieg und zum Hauseingang kam.

Er klingelte pünktlich wie die Eieruhr und zog noch in der Eingangstür die neue Wir-sind-Helden-CD aus der Tasche. »Vielleicht hast du ja Lust, da mal reinzuhören?!«

Sie gingen hoch in sein Zimmer, das Julian ganz gemütlich fand. Überall lagen und standen Bücher herum. Eine mysteriöse Katze streifte seine Beine.

Er sah ihr verwundert nach. »Wow, ist die scharf, sieht ja aus wie ein Waschbär. Wieso hat sie denn so ’n buschigen Schwanz?«

»Damit du sie schöner finden kannst! Ist irgendeine Edelzüchtung. Meine Mutter hat sie im letzten Jahr aus Spanien mitgebracht«, erklärte Simon.

»Na Speedy, schon gemerkt, du hast einen neuen Verehrer!«

Die Katze miaute selbstbewusst und sprang auf die Fensterbank. Sie wollte offenbar raus. Simon ging noch mal runter und machte ihr die Balkontür auf.

»Bist du ganz alleine hier?«

»Yes is the answer, wenn man von Speedy absieht. Meine Mutter ist Ärztin und hat heute Spätdienst.«

»Oh, ich wünschte, ich hätte zu Hause mal so viel Ruhe.«

»Hat alles seine Vor- und Nachteile...«

Julian nickte, obwohl er nicht genau wusste, was Simon meinte, und fragte, was am Morgen in Mathe gelaufen war, ihm sei es nach der Klausurrückgabe echt beschissen gegangen, hätte das heute nicht ertragen können. Die Schule ziehe ihn echt total runter, besonders Ullrich mit seiner sadistischen Art.

Sie setzten sich an den Schreibtisch und Simon erklärte die Ableitungsprinzipien. Er merkte, dass Julian den Stoff zwar kapierte, sich aber anscheinend nicht hinreichend konzentrieren konnte, um die Berechnungen fehlerfrei durchführen zu können.

»Sag mal, hast du eigentlich eine Idee, warum du in der Schule nicht damit klarkommst? Ich meine, wenn man mal von Ullrich absieht«, fragte er als sie fertig waren, Julian das Schulzeug in seine Tasche packte und schon nach seiner Jacke griff.

»Naja, teilweise verstehe ich den Kram in der Schule auch, aber ich krieg ’s dann schriftlich nicht auf die Reihe, bring ’s stattdessen völlig durcheinander. Liegt wohl auch an meiner Sauklaue. Und außerdem bin ich bei den Klausuren immer voll aufgeregt und unkonzentriert. – Vor ein paar Jahren war ich sogar mal beim Psychiater. Der hat dann eine Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert. – Tja, so ist das, ich bin krank«, sagte er augenzwinkernd, »nur leider hilft mir das jetzt auch nicht weiter. Ich brauche in der nächsten Klausur mindestens 6 Punkte. Aber du hast mir wirklich sehr geholfen, ehrlich, vielen Dank! Ich hab’s jetzt zum ersten Mal richtig kapiert und bin froh, dass du so gut in Mathe bist. Ich hätte mich nie getraut, Leute wie die Lichtenberg oder Schnell zu fragen.«

»Wieso, was meinst du?« wollte Simon wissen.

»Die hätten mich hundertpro abblitzen lassen. Mit der Schnell bin ich schon in der sechs in einer Klasse gewesen. Die hat früher oft versucht, mich vor den anderen lächerlich zu machen. Mit so Sprüchen wie "Oh du armer, lahmer Laarmann, du". Hört sich jetzt wahrscheinlich albern an, aber das war damals echt ’ne ziemlich üble Tour für mich.«

»Was denn, die brave Lisa Schnell?!«

»Das war oder ist nicht immer so, die kann ziemlich assig sein.

»Also so ähnlich wie Stirner?!« sinnierte Simon.

»Ah, hör bloß auf – das ist mein persönlicher Feind.«

»Man müsste sie irgendwie zur Rechenschaft ziehen, irgendwas gegen solche Leute unternehmen«, sagte Simon, erstaunt über seine eigene Courage. Das musste an der Camuslektüre liegen.

»Meinst du das ernst? Daran habe ich nämlich auch schon gedacht – zum Beispiel nachts in der Pausenhalle ein paar passende Sprüche an die Wand zu sprühen«, sagte Julian und legte seine Jacke wieder ab.

»Hm, das ist heikel. Hast du so was mal gemacht?«

»Bis jetzt noch nicht, ich hatte bisher auch keine zündende Idee. Außerdem sind Malen und Zeichnen auch nicht gerade meine Stärke.«

»Aber Mike könnte das. Die Frage ist nur, ob er da Bock draufhat«, meinte Simon.

«Mike Röder? Ist der dafür nicht ’n bisschen zu cool?«

»Ach, sag das nicht, den nerven diese Leute auch, der kümmert sich nur nicht weiter drum. Ich frag ihn gleich, was er davon hält. Wir wollten eh telefonieren. – Und wir können ja morgen in der Schule noch mal drüber reden.«

Julian machte sich auf und Simon beobachtete ihn wieder durchs Fenster. Wie er gemächlich auf sein altes Fahrrad stieg – er hatte es nicht abgeschlossen – und seine Rastazöpfe beim Zuknöpfen der Jacke frei legte. Als er losfuhr, auf den ersten Metern Schritttempo in Schlangenlinien, weil es leicht bergauf ging, baumelte seine Tasche von der Schulter am langen Tragegurt und schlug wild kreuz und quer gegen seinen Oberschenkel. Julian hatte seine liebe Not sie zu bändigen. Es schien fast so, als hätte sie ein Eigenleben und wollte mit ihm spielen.

Ja, es gibt doch mehr Assis als man denkt, und Patrick Stirner ist wirklich einer der Schlimmsten, sagte Simon im Stillen zu Krabat. Er ging hoch in sein Zimmer und hörte die Wir-sind-Helden-CD, die ihm Julian mitgebracht hatte. Dann probierte er es gleich mal bei Mike – Anne war jetzt sowieso beim Handballtraining – und erreichte ihn nicht.

Simon legte sich aufs Bett und überlegte schon, wie und wo man was mit wem sprayen könnte. In dem Moment schneite Speedy herein, schmiegte sich an ihn und miaute als wollte sie sagen: »Ich bin dabei.«

Nach ein paar Minuten rief Mike zurück. »Hi, wie siehts aus?!«

»Danke, alles okay. Julian war vorhin hier.«

»Ach ja, genau, und wie war’s? Ist Ullrich ein Schwein?«

»Nicht nur der«, meinte Simon.

»Hey Mann, wie bist du denn drauf?«

»Ach, wir sind beide der Meinung, dass es doch eine ganze Menge Vollassis gibt, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr fallen mir ein. Und soll ich dir noch was sagen? Das nervt mich!«

Mike konnte nicht ganz folgen. »Echt, das nervt dich! Hm, was solls, das ist halt so. Kannste eh nichts gegen machen!«

»Nein, nicht wirklich, aber Julian hatte die Idee, ein Graffiti zu sprayen.« Da stutzte Mike. »Julian? Moment. Das ist ja wohl mein Job!«

»Genau, aber die wichtigste Frage ist: Was schreiben wir?«

»Ach, da findet sich schon was.«

Jetzt hatte Mike angebissen, er betätigte sich schon seit der neunten als Sprayer, aber bisher immer nur just for fun, ohne jeden Anspruch. Es waren meistens bloß ein paar kleine Tags gewesen, mehr nicht, und zwar fast immer zusammen mit Sven.

Die beiden waren beim Sprayen aber auch schon erwischt worden und mussten alles wieder wegschrubben. Eine Heidenarbeit war das. Hatte außer Simon auch niemand erfahren. Nicht mal seine damalige Freundin. Nach der Pleite hatten sie keine Aktion mehr unternommen.

Mike merkte, dass er da jetzt richtig Bock draufhatte. »Wer nimmer strebend sich bemüht...«, schlug er gleich vor.

»Nicht schlecht, aber es sind ja nicht unbedingt die Streber. Für mich gehts mehr um Ellenbogenmentalität und Egoismus!« erklärte Simon.

»Sind das nicht die Streber?«

»Hm, nicht unbedingt, die sind doch in der Regel total harmlos. Duckmäuser und Automaten. Da gibts ganz andere. Ich denke da zum Beispiel an Stirner, den kennst du doch auch.«

»Klar, kenn ich den.«

Mikes Handy klingelte. »Wart mal ’ne Sekunde. Hallo, hier ist Mike... Hi Esther! Alles im grünen Bereich?... Ja, Superidee.... Okay... Ich kann dich abholen, wenn du willst... Ja. Ich telefoniere gerade mit Simon auf dem Festnetz... Ciao... Ja, ciao.«

»Grüße von Esther. Wir wollen uns morgen treffen.«

»Hats schon gefunkt?« wollte Simon wissen.

»Bin mir noch nicht sicher, wird sich aber bald herausstellen. Ähm, wo waren wir stehen geblieben?« fragte Mike.

»Bei Stirner. Und bei den Paukern gibts ja auch nicht nur den schrägen Ullrich. Denk mal an die Henlein. Anne kann von der ein Lied singen. Vor zwei, drei Jahren wollte die Daniel Zochol eins reinwürgen und hat ihm nur 4 Punkte gegeben, weil er dauernd stört, zu spät kommt. Die übliche Nummer halt. Hab ich dir das schon mal erzählt?«

»Kann mich nicht erinnern«, antwortete Mike.

»Also Anne fand das voll daneben und meinte, er hätte mündlich genauso viel mitgearbeitet wie sie. Sie wollte wissen, wieso er nur 5 Punkte dafür kriegt und sie 9. Darauf sagt ihr die Henlein: Ja, sie haben Recht, sie kriegen auch 5 Punkte! Das ist doch ’n Witz oder? – Obwohl die das dann letztlich doch nicht gemacht hat.«

»Das machts auf keinen Fall besser, eher noch schlimmer.«

Sie waren sich am Ende einig, dass Anne auch dabei sein sollte und wollten sich mit ihr und Julian in konspirativer Runde treffen.

Drei Tage später saßen sie schon im schummrigen Licht einer altmodischen Stehlampe auf Julis Sofagarnitur zusammen und tauschten ihre Ideen aus.

Mike wollte zunächst ästhetische Fragen klären, also ob es ein Style-Writing oder Stencil sein sollte e t c, aber Anne winkte ab und meinte, das Formale wäre sekundär. Sie bräuchten erstmal einen guten Inhalt. Ihr schwebten Rainbows for Elbows in Regenbogenfarben auf grünem Untergrund vor.

Da stellte sich Mike quer, fand, das sähe aus wie im Schaufenster für Lackierbedarf, und Julian sah es genauso, obwohl ihm der softe Flowerpowertouch doch eigentlich gefallen sollte. Sicher machte er sich gar keine Vorstellung davon.

»Kommt darauf an, wie man es umsetzt«, hielt sie brüskiert dagegen und Mike erwiderte: »Genau das sage ich ja die ganze Zeit.« Die beiden schauten sich wortlos an.

In dem Augenblick sprang Julian auf und sang: »Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna, Krishna Hare Hare...« Er drehte sich dabei mit ausgestreckten Armen und zur Seite gelegtem Kopf wie ein türkischer Derwisch schwungvoll auf der Stelle. War also offensichtlich wieder bis in die letzten Windungen seiner Dreadlocks zugedopt.

»Hey, kannst du bitte mit dem Quatsch aufhören?« Anne wurde richtig sauer und war schon kurz davor auszusteigen.

»Wie wärs mit Streber, wir kriegen Euch!« Das war jetzt Julians Vorschlag und Simon fragte sich, wie er darauf kam. Das ist ja fast die gleiche Idee wie die, die Mike neulich hatte. Der blickt anscheinend selber nicht genau, worum es wirklich geht.

»Mensch Juli, die Streber sind doch völlig harmlos!« sagte er leicht genervt.

»Und außerdem bitte keine unqualifizierten Anspielungen auf den Feminismus!« stöhnte Anne kopfschüttelnd.

»Wie wäre es mit Neid ist geil!?« überlegte Mike.

»Hey cool«, meinte Julian sofort. Er schien nun etwas mehr bei der Sache zu sein. »Wie ging das noch: meine Yacht, mein Auto...«

Anne unterbrach ihn. »Oh nein, stopp, voll daneben. Bloß keine Kommerzsprüche. Wir wollen doch hoffentlich nichts verkaufen!«

Simon ignorierte das und wurde langsam ungeduldig. »Ich finde, das trifft es alles nicht so richtig. Ich dachte, es geht uns um was ganz Anderes?!«

Danach allseits bedächtiges Schweigen statt geistigem Ringen. Julian hielt das nicht lange aus und ging in die Küche. Holte Süßigkeiten. Mike leerte derweil seine Bierflasche, räkelte sich auf der Couch und legte die Füße auf den Tisch. Anne dachte angestrengt nach und Simon spielte mit den Fransen am Stehlampenschirm – bis Krabat ihm soufflierte: »Freunde macht die Egoisten fertig!«

Der Stein der Weisen war das auch nicht, aber Julian hatte dann noch die Idee eine Chiffre drunter zu setzen, um die Leute neugierig zu machen. LGK zum Beispiel – Liga gegen Konkurrenzverhalten – und sie arrangierten sich damit.

Am Ende meinte Mike, damit das Graffiti richtig rüberkommt, müssten sie es über die gesamte linke Außenwand neben dem Eingang der Pausenhalle sprühen. »Und Leute«, sagte er, »das ist erst der Anfang!«

Dann ließen sie die Gläser klingen. »Together we stand, divided we fall!« rief Julian enthusiastisch.




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