Читать книгу Mein eigenes Ding - Andreas Bäcker - Страница 8
Zu allem bereit
ОглавлениеDie Graffitiaktion startete im fiesen Nieselregen gegen 23 Uhr. Glücklicherweise war die Mauer an der Pausenhalle überdacht und daher trocken geblieben. Anne hatte sich wegen Klausurvorbereitungen ausgeklinkt, wollte aber später in die Oase nachkommen. Okay, selbst zu dritt waren sie noch einer zu viel.
Mike legte gleich los und packte Schablonen, rote und gelbe Sprühfarben, Gummihandschuhe, Terpentin und Putzlappen aus, während Simon noch die Lage checkte. Es war zum Glück niemand in Sicht. Das Risiko, um diese Zeit ertappt zu werden, ging wirklich gegen Null. Auch alle VHS-Kurse waren längst zu Ende. Trotzdem blieb er vorsichtshalber vorne an der offenen Eingangsseite stehen, um sich weiter umzusehen.
»Was ist los, hast du Schiss?« fragte Mike.
»Ich denke, ein Foto der LGK vor dem Burner würde genügen, um uns selber fertig zu machen.«
»Hm, wären wir dann Freunde oder Egoisten oder beides? Oder egoistische Freunde oder freundliche Egoisten?« kicherte Julian. Er war also offensichtlich wieder stoned, wahrscheinlich Pegelkiffer oder sowas in der Art.
Mensch, da sollte man sich eigentlich Sorgen machen. Simon bekam außerdem eine Ahnung, dass Julian die Tour am Ende vermasselt.
Mike fing inzwischen damit an, die Außenwand, die er schon Tage zuvor genauer inspiziert hatte, komplett mit mehreren Dosen gelber Farbe zu besprühen. Ein paar Minuten später sprayte er darauf mithilfe der Schablonen den Schriftzug in großen roten Lettern und darunter dann zuletzt LGK.
Juli hatte dabei nicht mehr zu tun, als ab und zu überschüssige Farbe wegzuwischen. »Mann, echt magisch wie das hier im Dunkeln leuchtet!« meinte er zuguterletzt.
»Hey Alter, was sagst du dazu?« rief Mike, selbst noch etwas skeptisch Simon zu, der nun endlich das Schmierestehen bleiben ließ und zu ihnen rüberkam. Simon fands klasse und sie gaben sich alle lachend high five.
»Wow, ist dieses Gelb nicht geil? Echt abgefahren!... Farbe, Form und Textgestalt sind fast so fantastisch wie der Sinngehalt!« reimte Julian inspiriert und tanzte ein paar Moves zur Funky Music seines MP3-Players.
»Ja, macht richtig Laune die Farbe. Wieso ist sie bloß so selten zu sehen?« fragte Mike und Simon meinte: »Zu grell und lebenslustig, gibts so eigentlich nur in der Waldorfschule – oder im Kindergarten.«
Sie machten sich schleunigst vom Gelände. Unterwegs zog sich Julian den nächsten Sticky rein.
Danach erschien ihm der Spruch wie ein göttlicher Auftrag. Wäre allerdings eher martialisch als christlich, wenn Freunde Egoisten fertigmachen, dachte er. Du Heiliger Hadschi, wo kämen wir da hin? Da bliebe ja am Ende niemand mehr übrig, außer vielleicht der Dalai-Lama und der Papst. Und ein Freund oder ein Egoist. Aber keine Frau, also letztlich doch niemand. Schade eigentlich.
Am selben Abend erfüllten auch Toni und Patrick ihre Mission. »Was für ein Pisswetter. Wollen wirs nicht lieber auf nächste Woche verschieben?«
»Nein Kamerad, dann wird das nie was. Es muss jetzt passieren.« Toni schaute durch die Seitenscheibe auf die Straßenpfützen und grölte trotzig los: »Wir gehen drauf, für ein Leben voller Schall und Rauch – bevor wir fallen, fallen wir lieber auf.«
Wenig später hielt Patrick auf dem Gehsteig, kurz vor 23 Uhr in der Nähe des Sadomasostudios, mit Blick auf Ullrichs Schrottkiste, die wie jedes Mal auf dem Parkplatz am Schwimmbad stand. Der alte Sack hatte jetzt garantiert abgespritzt und würde bald runterkommen. Das Timing hatten sie zweimal gecheckt, nachdem Toni ihn da vor einigen Wochen zufällig gesehen hatte und sofort wusste, dass der das scheißeregelmäßig macht.
Sie saßen voll angespannt im Auto, hörten Musik, starrten still auf das Haus Nummer 49, bis Ullrich tatsächlich durch die Tür trat und in sicherer Entfernung von ihnen die Straße überquerte.
Die beiden Droogs zogen sich Skimützen auf und die Kapuzen ihrer Jacken drüber – sahen aus wie zwei dieser finsteren Gestalten aus dem Herrn der Ringe, fehlten nur die Pferde – stiegen aus dem Auto und gingen ihm vorsichtig nach. Sie wollten ihn in einen verlassenen Schuppen neben einer Reihe von Garagen manövrieren und dann ordentlich tollschocken.
»He Cheffe, sie ham’s aber eilig. Momentchen ma.«
Ullrich drehte sich um, sah die vermummten Gesichter und schreckte zurück. Er fühlte sich ertappt und war sofort in Scham befangen.
»Woll’n wir ma’ zusammen in der Schuppen gehn? Hast du keine Angst, is’ sonst niemand da, genauso wie oben bei der Nutte im dritten Stock?« so sprach Toni seinen eingeübten Text und zeigte ihm sein Messer.
»Keine Zicken Alter, ok!?« meinte Patrick und ging zwei Schritte voraus.
Ullrich bekam weiche Knie und war nicht in der Lage sich zu wehren. »Was wollt ihr von mir? Wollt ihr mein Geld? Ich habe fast alles ausgegeben.«
»Ja los, gib schon her!«, sagte Toni und nahm ihm das Portemonnaie ab, wo tatsächlich so gut wie nix mehr drin war.
Dann waren sie am Schuppen. Ullrich blieb stehen und wandte hektisch den Blick zur Straße.
»Hey, keine Chance Alter. Bloß vorsichtig, sonst wirds ernst! Hastu kapiert?!« Toni wurde laut und verlor fast den Akzent. Er stieß ihn kurz gegen die Schulter und gab ihm das leere Portemonnaie zurück.
Die Droogs öffneten die Tür, schubsten Ullrich rein und zogen sie hinter sich gleich wieder zu. Ein paar Lichtstrahlen der Straßenlaternen schienen durch die Spalten der geschlossenen Fensterläden. Man konnte kaum mehr als die Silhouetten erkennen. In einer Ecke stand ein klappriger Stahlschrank.
Ullrich bekam richtig Angst, Scheißangst sogar. Was sollte er tun? Und vor allem: Was haben die vor? Irgendwas stimmte hier nicht, ums Geld schiens nicht zu gehen, soviel war klar. – Das mussten Schüler von ihm sein, ehemalige wahrscheinlich. Mein Gott, aber wer? Dieser Akzent – er konnte sich beim besten Willen nicht an diese Stimme erinnern. Es sprach auch fast nur der Größere.
Nicht erst jetzt wurde Ullrich klar, dass es ein Fehler ist, regelmäßig zu ihr zu gehen. Da war so ein Desaster wie das hier natürlich nur eine Frage der Zeit. »Woher wissen die überhaupt davon? Das Studio ist im dritten Stock. Das ist von der Straße nie und nimmer einzusehen?!«
»Los, runter auf die Knie, du Hammel. Leck meine Schuh.«
»Was? Für wen haltet ihr mich?«
»Los, mach schon, ich kann mit Messer umgehen. Runter aufs Knie, haste nich’ kapiert?!«
Ullrich ging auf die Knie und machte, was von ihm verlangt wurde.
»Und jetzt seine. Einfach lecken... He, was ist, mach schon.« Red ich arabisch. »Umarim yakında tekrar görüşürüz.« Die Jungs lachten höhnisch.
»Und wenns dir gefällt, können wir gerne das öfter machen. Mach ja kein’ Mucks!... Gefällts dir bei der Nutte? Na, was is’? Ich hab dich was gefragt... Besser du lässt das mal. Hast du verstanden? He, hab dich was gefragt.«
»Ja ja, ihr habt Recht, ich höre auf damit.«
Ullrich zitterte am ganzen Körper, weil er ernsthaft befürchtete, er würde vielleicht doch noch erstochen.
Aber dann war der Spuk endlich vorbei. »Los abhauen jetzt«, sagte Toni. Sie schoben von außen den rostigen Türriegel vor, gingen an Ullrichs Auto vorbei und zogen mit dem Messer und fiesem Grinsen einen Kratzer über die Beifahrerseite. Danach liefen sie zu Muttis Premiumlimo und verschwanden.
»Und wenns dir gefällt, können wir gerne das öfter machen«, spottete Patrick im Auto und sie brachen in Gelächter aus.
»Gib mir fünf!« sagte Toni und sie klatschten sich ab. »Voll cool Mann, das wird der so schnell nicht vergessen. Echt, super gelaufen! Mission completed. Vielleicht sollten wir uns den in ein paar Wochen noch mal vornehmen.«
»Besser nicht. Könnte ja sein, dass der dann ’ne Knarre hat oder so. Und wozu denn noch, dem haben wir die Tour gründlich vermasselt«, meinte Patrick.
»Hast du etwa Schiss?«
»Wovor sollte ich Schiss haben? Du gehst mir langsam auf die Nerven mit dem Spruch?«
Toni zuckte mit den Schultern. »Sorry, aber die Nummer hatte der sich auf jeden Fall verdient.«
»Das stimmt.«
»Naja, vielleicht wäre jetzt auch erstmal die Henlein dran?!«
«Keine schlechte Idee, aber wirklich klein ist die nicht!?« wandte Patrick ein.
Toni brach in Lachen aus... »Ja und? Das könnte dann wie ’n Sexualdelikt aussehen!« und Patrick lachte mit.
»He Vorsicht!!« – Fast hätte er bei der ganzen Aufregung jemandem die Vorfahrt genommen. »Au Mann, das wär ja voll der Supergau geworden.« Und wieder lachten sie.
»Wollen wir noch zu mir fahren, ein Bier trinken?«
»Okay, ich bring dich schon mal nach Hause und dann grad das Auto zurück. Ich komm gleich mit dem Fahrrad zu dir.«
»Warum lässt du das Auto nicht einfach bei mir stehen?«
»Meine Mutter braucht die Kiste morgen, um meine Schwester in die Schule zu fahren.«
»Das „Chormädel“. Wieso das denn?«
»Wieso das denn?! Was weiß ich?! Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass die mir total auf die Eier geht.«
»Deine kleine Schwester?«
»Ja! Wenn ich nur die Klamotten von der sehe, krieg ich zu viel. Dagegen ist das Outfit von deiner Mutter richtig trendy.«
»Lass meine Mutter da raus.«
»Hey, ich sag ja gar nichts gegen sie.«
»Ich sag das ungern zweimal.«
»Au Mann, Alter.«
Tonis Blicke wurden plötzlich bitterernst, er verzog keine Miene mehr und Patrick war klar, dass er jetzt vorsichtig sein musste.
Ullrich zitterte unterdessen immer noch am ganzen Körper, war schockiert, nicht so sehr wegen der Demütigung, sondern vor allem aus Angst vor den Folgen seiner Entdeckung. Das ist mehr als peinlich. Jetzt kann ich sie nicht mehr besuchen. Das nächste Mal könnte schlimmer werden. – Scheiße, die würden bestimmt noch weitergehen. Wieso wissen die überhaupt von meinen Neigungen? Runter auf die Knie. Vielleicht sind die mit ihr befreundet, verwandt oder einer von denen ist in sie verliebt. – Das könnte der jüngere Bruder gewesen sein, zusammen mit einem Freund. Aber sie hat gesagt, ihre Familie wohnt in Oberhausen, sie sei wegen ihres früheren Freundes hierhergekommen? Verdammt, wie war das noch mal? Haben die in Oberhausen Wind davon gekriegt und wollten Stress machen, ohne dass sie davon wusste?
Aberwitzige Vermutungen, in seinem Kopf brach das Chaos aus, aber Ullrich setzte sich trotzdem mechanisch wie ein Roboter in Gang. Er konnte die Tür leicht aus den Angeln heben. Die ganze Hütte war morsch wie Ötzis Knochen. Er spürte und hörte nur den starken Regen. Eine Empfindung wie an der See. Das gab ihm Ruhe und Sicherheit zurück. Ullrich ging mit eiligen Schritten die Straße entlang und stieg in sein Auto, ohne den hässlichen Kratzer auf der Beifahrerseite zu bemerken.
Simon, Julian und Mike waren nach der Graffitiaktion auf dem Weg in die Oase noch voll euphorisch, obwohl es Bindfäden regnete. Denn eigentlich brachte es das doch erst richtig: eine Heldentat vollbracht, drei Kilometer zu Fuß durch Wind und Wetter, in der Heimstatt abgekämpft den Frauen imponieren. Juli gönnte sich den nächsten Joint und bewegte sich nachher so selig beschwingt wie der Dude auf der Bowlingbahn oder im Orbit auf seiner Kugel.
»Anne, ich sag dir, sei froh, dass du nicht dabei warst, der Job war kein Zuckerschlecken«, scherzte er gleich zur Begrüßung in der Oase.
»Mann Julian, merkst du überhaupt nicht, wie sehr dein Gerede nervt?« Sie verdrehte die Augen. Seine ständigen Blödeleien gingen ihr total gegen den Strich, vor allem, weil es doch um seine Interessen ging. Sie war sich sicher, dass Simon sie verstand.
Der zeigte allerdings keine Regung, während Mike und Julian sie wie Tim und Struppi musterten.
»Anne weißt du zufällig, ob Esther heute kommen wollte?« fragte Mike, um die Situation zu entkrampfen.
»Nein, keine Ahnung«, antwortete sie immer noch gereizt, »ich habe ewig nichts von ihr gehört...« Anne war locker mit Esther befreundet und unternahm gelegentlich was mit ihr.
»Ich würde wirklich gerne verstehen, warum du dauernd so angepisst bist?« fragte Mike. »Merkst du gar nicht, wie das hier alle runterzieht.«
Er dachte, hat die ihre Jahre oder was?
»Ich habs doch wohl deutlich genug gesagt. Mir geht das hohle Geblubber von Laarmann auf die Nerven!« entgegnete Anne etwas betroffen. Julians und ihre Blicke trafen sich.
»Vielleicht wäre es besser gewesen, du wärest doch mitgekommen«, sagte Simon.
»Ich glaube kaum, dass ich dann eine andere Meinung hätte«, beharrte sie unversöhnlich.
»Wie wärs, wenn wir uns erst mal was zu trinken holen und auf die Aktion anstoßen?« fragte Simon und schaute in die Runde, kriegte aber wenig Resonanz. Juli war noch bedient und Mike hatte auch genug von Anne. Schade, dass die Euphorie hier so verpuffte. Er hielt Ausschau nach Esther, entdeckte tatsächlich zwischen all den Köpfen ihr Gesicht und war sofort verschwunden.
»Bin mal gespannt, was morgen in der Pause darüber geredet wird«, meinte Julian. Er hatte die Nörgelei schon weggesteckt.
»Mach dir keine Illusionen! Ist schließlich nicht der erste Graffitispruch, den die Leute sehen«, blaffte Anne. »Die meisten werden es vermutlich nicht mal lesen.«
»Warten wirs ab. Ist schon ziemlich schrill geworden. Du wirst Augen machen«, hielt Simon dagegen. »Wisst ihr was, ich spendiere uns eine Runde Sekt!« sagte er spontan und ging rüber zur Theke.
Anne und Julian brachten kein Wort raus, solange er weg war.
Ein paar Minuten später kam Esther zu ihnen, um Anne kurz hallo zu sagen. »Hi wie schauts? Schon wieder ein Glas in der Hand. Muss ich mir etwa Sorgen machen oder gibts hier was zu feiern?« scherzte sie.
Esther spielte auf die Alkoholismusdiskussion im Englisch-Leistungskurs an, wo aktuell das Theaterstück Wer hat Angst vor Virginia Woolf Thema war. Die Hauptfiguren Martha und George waren bekanntlich permanent betrunken.
»Immer diese Neugier –, warte es einfach ab, morgen früh erfährst du mehr!« antwortete Anne wie gehabt auf dem Schlechte-Laune-Kanal.
Simon war verwundert, sie nun auch mit Esther so reden zu hören, zumal die als Mikes neue Freundin früher oder später eh erfahren würde, wer das Graffiti fabriziert hatte.
Julian schnappte sein Glas und verabschiedete sich, als er Marie Krange sichtete. Anscheinend war sie heute alleine gekommen und nicht mit ihrem Lover – momentan ausgerechnet Kotzbrocken Stirner.
Marie war genau sein Typ. Groß, lange Haare und superlässig. Warum die auf dieses Arschloch reingefallen ist, wird wahrscheinlich ewig ein Rätsel bleiben. Das konnte und durfte nicht gut gehen. Also nix wie hin!
Immer noch high wie ein Indianer beim Friedenstanz konnte er sie jetzt ganz easy angraben. Schließlich hatten sie ihr kleines Geheimnis.
Marie hatte ihm vor einem Jahr, als sie kaum zwei Wochen an der Schule war, an seinen Dreadlocks sofort angesehen, dass er ein Kiffer ist, und direkt gefragt, wie sie an gutes Dope kommen könnte.
»Howdi Marie, ein attraktives Mädchen wie du ganz allein unterwegs, ist das nicht zu gefährlich? Wo ist denn dein Bodyguard?«
»Was ist los – willst du mich anmachen oder bist du bloß stoned!?«
»Hey, nicht so laut. Beides, muss hier ja nicht gleich jeder wissen!«
»Vergiss es. Als wenn das hier irgendjemand nicht wüsste. Übrigens, wo wir gerade dabei sind, danke noch mal. War wirklich gutes Harz. Eigentlich wollte ich mit Patrick kommen, aber der ist höchstwahrscheinlich wieder mit diesem Österreicher unterwegs.«
»Hast du etwa Vorurteile?«
»Du etwa nicht? Also nee, Pichler hat wirklich voll den Schlag an der Schüssel.«
»Kann ich nicht beurteilen. Kenne den Typen überhaupt nicht«, erwiderte Julian.
»Da hast du auch nichts verpasst. Und wie siehts bei dir aus? Ich habe dich eben mit Simon und Anne am Tisch gesehen. – Sind das deine neuen Freunde?« fragte sie.
»Oh, du hast mich beobachtet!?«
»Ihr seid in mein Blickfeld geraten, als ich mich umgesehen habe, wer sich hier rumtreibt. Habt ihr irgendwie was miteinander zu tun. Gleiche Kurse oder so.«
»Hm, ja schon, habe mit Simon Mathe bei Ullrich.« Julian wollte ihr jetzt nicht unbedingt auf die Nase binden, dass er ihm Nachhilfe gegeben hatte.
»Ihr Ärmsten, und da klagt ihr euch euer Leid – kann ich verstehen.« Mathe war auch ihre Stärke nicht.
»Naja, wir haben uns gerade über unsere gemeinsame Aktion unterhalten.«
Sie wurde neugierig. »Was für ’ne Aktion?«
»Lass dich überraschen.«
Marie schweifte ab, dachte an Patrick. Überraschen lassen, keine Erwartung haben, offen sein? Fuck nein. Warum meldet der sich nicht – wenigstens eine SMS?
Julian schwieg unterdessen und lächelte zufrieden.
Sie setzte auch eine freundliche Miene auf, sagte, sie wolle noch weiter nach PS Ausschau halten, und mischte sich unters Volk.
Stimmte nicht. Marie wollte nur weg, spontan was passieren lassen. Self-surprising. Draußen vor Tür das Handy auf den Asphalt knallen for instance. Ach Mädel, nein. Lieber ihm eine.
Der Typ ist sonstwo und ich gehe nachts um eins allein nach Haus, checke ständig das Phone. Sie blieb, kurz nachdem sie die Oase verlassen hatte, stehen und schaltete es aus. In dem Moment ging Simon mit Anne an ihr vorbei. Sie kannten sich aus dem Ethikunterricht, wo sie oft ähnliche Meinungen hatten.
»Sollen wir dich mitnehmen?« fragte er. Anne hoffte sofort, sie sagt nein.
Aber Marie freute sich. »Gerne, das wäre nett, ich habe schon etwas Angst, um diese Zeit drei Kilometer alleine nach Hause zu gehen.«
»Wo ist Patrick denn abgeblieben?« fragte Simon.
»Das wüsste ich auch gerne, habe den ganzen Tag noch nichts von ihm gehört. Schätze, der ist wieder mit diesem Pichler unterwegs.«
»Uuh, echt, mit dem?!« stutzte Simon und Marie nickte zögerlich. »Ja leider, ich kann euch sagen, der Typ ist echt extrem drauf – ihr wisst schon, wie ich es meine.«
»Ja, ich glaube, ich weiß wie du es meinst... und dein Freund, ist der nicht auch recht extrem?« hakte Anne nach, als sie das Auto erreicht hatten.
Simon betätigte die Zentralverriegelung, schaute prüfend zu den beiden rüber und setzte sich ans Steuer.
»Habe ich bisher nicht ganz klar... Ich bin ja auch noch nicht so lange mit ihm zusammen.« Die Frage brachte sie in Verlegenheit. Patrick war zweifellos ein Macho. Er hatte ihr mal erzählt, er hätte schnell kapiert, dass individuelle Freiheit Selbstbehauptung ohne falsche Rücksicht ist. Mir geht nichts über Mich. Und Shit, genau auf diesen Egoismus stand sie. Aber das konnte man ja nicht laut sagen.
Marie saß auf dem Beifahrersitz, weil sie ja gleich wieder raus musste, und schaute Simon zwei-, dreimal wie zufällig an.
»Dein Auto?« fragte sie.
»Ach nein, woher denn!? Es gehört meiner Mutter.« Marie nickte stillschweigend. Ein paar Minuten später hielten sie auch schon vor dem Haus ihrer Eltern.
Sie bedankte sich rasch und stieg aus.
Anne klappte den Vordersitz vor und setzte sich neben Simon. »Scheint ja dein Typ zu sein?«
»Ja klar, kann ich nicht bestreiten.«
»Mhm«, murrte Anne.
»Hallo, was ist los? Jetzt komm, was heißt das denn schon? Du bist auch mein Typ.«
Endlich lachte sie. »Na danke, lassen wir das lieber. Nächste Frage: Nervt Julian Laarmann dich denn eigentlich gar nicht?«
»Nein, für mich ist der einfach nur ein bisschen abgedreht. Ich find ihn wirklich ganz in Ordnung.«
»Hat der bei der Graffitiaktion nicht wieder nur dummes Zeug geredet? – Sag nichts, ich kanns mir schon denken!«
»Zuerst ja, dann gings aber. War eigentlich sogar ganz witzig«
»Gut, dass ich nicht dabei war.«
Sprechpause.
»Der ist halt etwas speziell, – und kifft zuviel. Okay, ja, er hat vielleicht sogar ein echtes Drogenproblem.«
»Genau spiel noch den barmherzigen Samariter, die Rolle passt zu dir«, spottete sie jetzt.
»Anne, mach dich mal locker.«
»Was denn, wenn der weniger kiffen würde, liefe es wahrscheinlich auch in der Schule besser. Die Lehrer merken das ja auch.«
Sie fuhren wie meistens zu ihr, weil sie da ungestört waren. Zwar nur juveniles Singlebett ein Meter mal zwei, aber spoon style war ihnen sowieso am liebsten. Anne hatte sich schon auf die Seite gedreht. Simon küsste sie auf Schulter und Nacken, legte seinen Arm auf ihre Hüfte und schmiegte sich an sie.
Er liebte ihren unregelmäßigen Haaransatz, ihre kleinen Ohren, den großen Po – ein bisschen wie die Schauspielerin Swenja Prinz – und auch ihr Gesicht, die herben, hanseatischen Züge, mochte er sehr. Es war spät geworden und sie schliefen schnell ein.
Marie ging zur gleichen Zeit mit Wut im Bauch ins Bett, zwei mal ein Meter, und trotzdem fielen auch ihr bald die Augen zu, komischerweise mit irgendwelchen Bildern von Simon Sternfeld im Kopf, Patrick war ihr grad egal.
Der wiederum blieb in dieser Nacht noch lange wach. War zu aufgedreht um einzuschlafen. Überlegte tatsächlich sie anzurufen. Hätte ihr aber nichts zu sagen gehabt und hatte es deswegen nicht gemacht. Zuvor auch wieder Nerv mit seiner Schwester, die sich wie üblich beschwerte: »Patrick, kannst du bitte den Fernseher leiser stellen? Patrick, ich kann dabei nicht schlafen!« Immer das gleiche Lied. Patrick dies und Patrick das.
Irgendwie ging ihm die Frau in letzter Zeit auch auf den Keks. Er hatte gedacht, die wäre cooler, halt so wie sie aussieht, arrogant und anders. »Wie man sich täuschen kann. Aber okay, im Bett gehts gut ab. – Zu allem bereit.«
Er sah sich bis um halb zwei zum x-ten Mal Karatetiger an. Immer noch einer seiner Lieblingsfilme.
»Wieso hast du mich getroffen? War ich nicht schnell genug? Kenne ich nicht genügend Tricks?«
»Du brauchst volle Konzentration. Denke nur an das, was du tun musst!«
»Ja, Meister, ich will es versuchen.«
Schließlich schlief er in Straßenkleidung vor dem Fernseher ein und erwachte gegen fünf Uhr. Da sprang er auf, als müsste er sich vor einem gehörnten Ehemann in Sicherheit bringen. Mutter und Schwester machten keinen Mucks, der Alte war in der Nacht wieder nicht heimgekommen. Patrick zog sich an, schlich leise wie eine Katze die Treppe hinunter und verließ das Haus. Er hatte keine Lust auf Diskussionen beim Frühstück, über was auch immer. Vögel zwitscherten. Es war kalt. Er fror und der Magen knurrte. Niemand auf der Straße um die Zeit.
Er ging in die Schule, Richtung Pausenhalle, um eine Weile abzuhängen.
Was ist das denn für ein Kindertheater? fragte er sich da. Soll das etwa eine Anspielung auf mich sein. Oh, Mann, wahrscheinlich steckt der Hippie dahinter. Abrupt war seine Laune auf dem Nullpunkt. Er betrachtete das Graffiti einen Moment geistesabwesend, ohne einen klaren Gedanken zu fassen und wurde müde. Machte sich rüber zu den Sitzbänken und Tischen. Hockte sich hin, lehnte mit dem Rücken an der Fensterscheibe und wurde erst wieder wach, als schon haufenweise SuSis da waren. Musste fest geschlafen haben. Niemand hatte ihn angesprochen.
»Scary, hab hier gehockt wie ein Penner!« Und bei Penner fiel ihm Clockwerk Orange ein und natürlich wieder die Ullrichnummer. Nun bin ich ein Gewalttäter ohne Motiv.
Und dann auch noch das. Er bemerkte aus dem Augenwinkel, dass die Tuss mit diesem Gammler rumsteht. Er machte sich zu ihr, als die Schulglocke zum ersten Mal läutete.
»Hi Marie, hab dich gar nicht gesehen.«
»Ja, ich dich auch nicht – zum Beispiel gestern.«
»Tut mir leid, ich war mit Toni unterwegs. Und Julian –, noch alles klar so früh am Morgen.«
»Bis gerade eben schon«, antwortete der und ging zum Kursraum C.
»Wenns dir leidgetan hätte, hättest du ja wenigstens mal anrufen können, Spaßbacke.«
»Ich hatte mein Handy nicht dabei und als ich zu Hause war, wars zu spät.«
»Ich muss in den Unterricht.«
»Was hast du eigentlich mit dem Hippie?«
»Was soll ich mit dem haben? Und was gehts dich überhaupt an? – Was hast du denn mit dem Fascho?«
»Wieso Fascho? Nur, weil der nicht verlogen rumschleimt. Ich dachte, du fährst auf solche Typen ab.« Patrick grinste verschmitzt.
»Und wieso Hippie? Nur weil er Dreadlocks trägt?« Sie tat erstaunt.
In der ersten Pause gingen sie zusammen über den Hof. Marie eher widerwillig, Patrick schon ein wenig eifersüchtig. Was er natürlich nie zugegeben hätte, ihn aber sogar anmachte. »Und wie siehts aus mit ’nem bisschen Nahkampf heute Abend?« Er tätschelte ihren Po.
Marie konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. »Treffen wir uns bei dir?« fragte sie.
»Klar, kein Thema.«
»Und deine Schwester?«
»Die kriegt ’n Lolly.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich find das ganz schön scheiße, wie du mit ihr umgehst.«
»Was denn? Die liebt mich, glaubs mir. Also, was ist mit diesem Typen?«
»Überhaupt nix ist mit dem. Wie du weißt, war ich gestern alleine in der Oase und da haben wir ein bisschen miteinander gequatscht... Meine Güte, ich habe nichts mit dem. Ist mir viel zu lasch. Der hat manchmal ein paar lockere Sprüche drauf. Ist ganz witzig. Das ist alles. Dass du so eifersüchtig bist, hätte ich echt nich’ gedacht!«
»Ja, und dann steht ihr gleich am nächsten Morgen vor der Schule zusammen.«
»Mannomann, was soll das werden – ein Verhör?« stöhnte sie. »Typ, ich hab noch nicht mal was gegessen. Vergiss es einfach. Sag du mir doch mal, was du mit Pichler zu tun hattest. – Grabsteine umkippen, Frauen nageln, Ausländer klatschen?« Maries Stimme wurde lauter. »Na was?!«
»Nein, haben wir nicht...« Schweigeminute.
»Hey, mal was anderes: hast du schon dieses Graffiti an der Wand gesehen?«
»Wart ihr das etwa?«
»Seh ich so aus.« Patrick verzog keine Miene.
»Seh ich so aus. Wie sollte man da aussehen? – Hätte mich auch sehr gewundert. Ich könnte mir vorstellen, dass Julian das gewesen ist«, sagte sie.
»Was der, wie kommst du darauf?« Patrick wurde hellhörig.
»Ach, der hat gestern Abend so ’ne Anspielung gemacht.« sagte sie zögernd und ärgerte sich augenblicklich, das ausgeplaudert zu haben, weil sie Julian damit verraten hatte.
»Dann würde ja noch besser passen, was ich schon vermutete.«
Marie runzelte die Stirn. »Was denn?«
»Na, dass der Spruch auf mich abzielt.« Patrick grinste selbstzufrieden. »Wieso das denn?« Sie schüttelte den Kopf. »Au Mann, jetzt wirst du auch noch schizo.«
»He, halt dich zurück, ja. – Wetten, dass ich Recht habe!?«