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Kein Sinn für das Alltägliche
ОглавлениеSickmann würde zu spät zur Fortbildung kommen, soviel war klar, als er sah, wie die beiden Kollegen das Hotel verließen während er sich eben erst zum Frühstück bequemte. Er war bis Mitternacht allein in der Stadt unterwegs gewesen und hatte den Wecker überhört. Was ihn allerdings nicht beunruhigte. Er brauchte momentan einfach sehr viel Zeit für sich.
Sickmann schaute gedankenverloren aus dem Fenster, bis die Kellnerin an den Tisch kam und etwas vorlaut fragte, wie er sein Ei haben möchte.
»Für mich bitte hartgekocht!«
Sie stellte ihm einen O-Saft auf den Tisch, wobei ihr ein wenig über den Glasrand schwappte, und eilte weiter zum Nebentisch, um ihn abzuräumen. Nahm, als sie sich ein paar Schritte von den Gästen entfernt hatte, ein übrig gebliebenes Croissant aus dem Brotkorb und biss ungeniert hinein. Seltsam, aber irgendwie anrührend, dachte Sickmann und wurde langsam richtig wach.
Plötzlich war eine ruhige, aber sehr bestimmte Anweisung zu hören: »Silke, kommst du bitte zu mir in die Küche?!« – Durch den besonderen Tonfall wurde ihm intuitiv klar, dass Silke lernbehindert ist.
Als sie wieder in den Gästesaal kam, stellte sie einem seriös wirkenden älteren Ehepaar zwei Kaffee hin und fragte, ob sie ein weiches oder hartes Ei möchten.
»Wir hatten sie schon weich bestellt!« antwortete die Frau leicht ungehalten.
Silke wandte sich von ihnen ab und ging wieder in die Küche. »Die tickt doch nicht richtig«, meinte die Frau despektierlich und der Mann zuckte mit den Schultern.
»Möchten sie ein weiches oder hartes Ei«, wiederholte sie schnippisch und laut.
»Wollen sie Kaffee oder Tee oder Tee oder Kaffee«, sagte er dann und sie lachten beide. Die zwar unbeholfene, aber gerade deswegen sympathische Kellnerin hatte den Raum noch nicht verlassen und musste sie gehört haben.
Naja, wer weiß, ob sie das wirklich kränkte und nicht allein ihn. Sie könnte an solche Kommentare längst gewöhnt sein. Sickmann sah ihr nach.
Silke verschwand in der Küche und erschien nach ein paar Minuten wieder im Saal. Sie stellte ihm sein Frühstücksei hin, das, wie sich herausstellte, leider weichgekocht war.
Komisch, was schiefgehen kann, geht bei ihr schief, dachte er und sah wieder aus dem Fenster.
Nachdem Sickmann die Hotelrechnung beglichen hatte, endlich draußen, gleich die nächste merkwürdige Begegnung. Er bemerkte, wie eine perfekt gekleidete Frau, Ende vierzig, und ein deutlich jüngerer Mann im Maßanzug vor dem Hotel aus einem noblen, silberfarbenen Sportcoupé stiegen. Sie hatte am Steuer gesessen, spannte aus dem Auto heraus ihren Schirm auf – es regnete Bindfäden – und warf schräg über das Autodach einen säuerlichen Blick zu ihm rüber. Prompt ertappte sich Sickmann dabei, dass er sich irgendeine Jet-Set-Story zusammenphantasierte.
Lass den Quatsch und überleg dir lieber, was du Natalie mitbringst. Ein Dirndl will sie bestimmt nicht. Blödes Mistwetter! Er hatte seinen Schirm vergessen und würde völlig durchnässt in diesem Institut ankommen. Typisch, er hatte einfach keinen Sinn für das Alltägliche, was seine Ex immer bemängelt hatte. Die Trennung lag zehn Jahre zurück. Natalie war damals sechs und vorzeitig eingeschult worden – anfangs eine gute Schülerin mit vielen Freundinnen, nun eine Jungfeministin mit Kurzhaarschnitt und Girliegetue.
»Paps, du nervst.«
»Danke, gleichfalls.«
Halt, Moment mal, verlauf dich nicht! Kehrtwendung, zurück in die Seitenstraße. So, hier bist du wieder auf Kurs.
Die Leute saßen im offenen Kreis und Sickmann setzte sich nur widerwillig dazu, weil ihm dieses Setting, erst recht in durchnässten Hosen, nicht behagte. Also, was soll ich mit ihr am Wochenende anfangen. Am besten Ausgang bis drei und 20 Euro. Ach, die kommt ja sowieso wieder nicht. Mama wird sich freuen.
»Please excuse my being late, I’ve slept very bad this night.«
Es ging hier um den Umgang mit Gewalttaten, insbesondere um Amokläufe an Schulen. Das Konzept stammte aus den USA. Der Leiter der Veranstaltung hatte dort ein flächendeckendes Netz lokaler, sogenannter O-Commitees gebildet, die Erste Hilfe in solchen Krisenfällen organisierten. Die Teilnehmer diskutierten heute am zweiten Tag der Fortbildung Möglichkeiten, ein ähnliches System auch in Hessen zu etablieren. Allerdings waren nicht alle Schulbezirke vertreten und ohnehin wäre das wohl eher eine Aufgabe für das Landesinnenministerium, fand Sickmann. Trotzdem entwickelten sich die üblichen Meinungsäußerungen, Diskussionen, Selbstdarstellungen und Dispute, mit anderen Worten: das allzu vertraute Aneinander-Vorbeireden, nur eben in holprigem Englisch.
Dem Leiter des Workshops gelang es kaum, die Beiträge zusammen zu führen, was nicht gerade ein Beweis für sein organisatorisches Geschick war, aber vielleicht waren die Umgangsformen in den USA ja kooperativer und Deutschland für ihn auch in dieser Hinsicht Neuland. Sickmann war das aber letztlich sowieso egal, denn er hatte am Vortag eh schon beschlossen, sich seelisch-geistig soweit wie möglich raus zu halten.
Also, was soll ich mit ihr am Wochenende unternehmen? Keine Lust auf Kino oder Basketballturnier, nein, nicht mit Natalie.