Читать книгу Die Ferienmeister - Andreas Burkhardt - Страница 3
Alptraum im Strafraum
ОглавлениеAm letzten Spieltag der Saison verwandelte sich der Schiedsrichter in einen Frosch. Ich langweilte mich gerade an der Außenlinie, weil ich mal wieder nur Einwechsler war, und döste vor mich hin. Da passierte es. Die grüne Schiedsrichterkluft verschwamm zu einer glänzenden Froschwampe. Dick und rund hob sie sich von den dünnen Schenkeln ab, auf denen der Schiedsrichter anfing, über den Rasen zu hüpfen. Überrascht rieb ich mir die Augen, denn der schmale Haarkranz, den der Schiri gerade noch auf dem Kopf getragen hatte, verwandelte sich in eine goldrote Krone und leuchtete mich an. Während ich noch überlegte, ob ich lachen oder schreien sollte, legten die Gegner unseren Mannschaftskapitän Nico kurz vorm Strafraum aufs Kreuz. Wütend blies der Schiedsrichter in seine Trillerpfeife. Doch nein! Statt eines Pfiffs quoll ein ohrenbetäubendes „Quäääk!“ aus dem Froschmaul. Mit gewaltigen Sätzen sprang der Schiri-Frosch Richtung Tor, vor das sich unsere Gegner zurückzogen. „Quaki, quaki, quäk!“, schimpfte der Frosch den Spieler voll, der Nico gefault hatte. Dann schoss Flori einen herrlichen Freistoß und mein Papa klopfte mir beim Torjubel kräftig auf die Schulter. Da zerplatzte der Frosch und ich war zurück in der traurigen Wirklichkeit.
Ich, Tina Sturm, zehn Jahre, fuhr mir mit den Fingern durch die roten Locken, weil ich die Hände nicht höher bekam, um mitzujubeln. Wir hatten gerade das Eins zu Vier geschossen. Die Freude auf dem Platz fiel dementsprechend bescheiden aus. Und sowieso waren alle heilfroh, dass wir nach diesem Spiel eine Pause machen konnten. Manche hatten sogar beschlossen, unsere erste Ligasaison vorzeitig zu beenden. Drei Jungs hatten heute am Treffpunkt gefehlt und nur noch wenige Eltern wollten zum Zuschauen mit nach Mosern kommen. Vielleicht hatte es am grauen Wetter gelegen, das den Junitag vermieste. Aber viel mehr glaubte ich, dass sich keiner mehr unser Elend auf dem Rasen ansehen wollte. Die Enttäuschung war einfach zu groß. Unser Eröffnungsspiel auf dem neuen Fußballplatz an der Apfelwiese lag unendlich weit zurück. Man hätte meinen können, Frau Schnetts Training hätte uns zu einer eingespielten Mannschaft gemacht. Doch tief in uns drin schienen wir immer noch die alte Bolztruppe zu sein, und unsere Gegner nutzen das gnadenlos aus. Naja, wenigstens meine eigenen Eltern fuhren noch mit zu den Spielen. Klara und Alexander heißen sie. Mama trägt Zopf und Papa große Ohren. Beide fahren gern Auto, deswegen wechseln sie sich oft ab. Heute Morgen war Mama dran. Und obwohl sie ordentlich Gas gab, zog die Fahrt sich lang wie ein Kaugummi. Meine Schwester Leo starrte mit ihren grünen Augen aus dem Fenster, als träumte sie sich weit, weit weg. „Wann sind wir endlich da?“, fragte sie irgendwann. Das klang wie saure Milch mit Cornflakes.
„Ich denke, du hast keine Lust“, meinte Papa.
„Na und! Würdest du ständig der Depp sein wollen? Ich kann mir Mühe geben wie ich will!“
Leo übertrieb nicht. Wenn sie zehn Bälle hielt, flogen ihr trotzdem fünf rein. Das schien ihr Torwartschicksal zu sein. Sie war darüber so sauer, dass wir bei ihrer Geburtstagsfeier keinen Fußball spielen durften. Aber zum letzten Spiel mussten wir trotzdem fahren, von Süden nach Norden, von unten nach oben, so wie es auch in der Liga-Tabelle aussah.
„Nachher trampeln wieder alle auf mir rum“, klagte Leo, als wir den Sportplatz erreichten.
„Und ich darf wie immer nicht mitspielen“, sagte ich dazu. Und so geschah es auch.
Okay, wirklich wundern durfte ich mich nicht. Mir liefen die Gegenspieler einfach davon. Das gefiel weder den Jungs, noch mir, noch unserer Trainerin und Sportlehrerin, Frau Schnett. Ich hätte eine Altersklasse tiefer spielen sollen, aber mit wem?
„Wenn du dich beim Training reinhängst, kommst du in der nächsten Saison häufiger dran“, meinte Papa auf dem Weg zur Umkleide. Er hatte gut reden. Vielleicht probierte ich es besser einmal im Tor. Leo würde dann bestimmt niemand an der Außenlinie schmoren lassen.
„Auf dir trampelt überhaupt niemand rum, Leo! Du hältst prima“, ermunterte Mama meine Schwester. Leo und ich verdrehten die Augen. Diese Sprüche hörten wir zu oft.
Wir waren ziemlich spät dran. Die Moseraner Spieler erwärmten sich bereits – alles große Kerle! Frau Schnett verteilte die goldenen Trikots, nur Leo bekam wieder das grüne Torwart-Shirt.
„Ach, nee...“, sagte sie, aber ganz leise, weil Frau Schnett es nicht mochte, wenn wir über die Aufstellung meckerten.
„Wir stellen die Abwehr heute besonders eng“, erklärte sie. „Ein Stürmer an die Mittellinie und lange Bälle nach vorn! Wollen wir doch mal sehen, ob wir hier nicht eins zu null gewinnen können.“ Endlich mal gewinnen! Ich hoffte es wirklich. Aber Leo und die Jungs kamen schon mit ängstlichen Gesichtern aus der Kabine.
„Hey, jetzt geht‘s los!“, rief Papa. Leo lief in den Kasten und klatschte die Pfosten ab, ich trottete zur Außenlinie und Mama klatschte mich ab, damit ich nicht so traurig war.
Leider dauerte es nicht lange, bis wir hinten lagen. Den ersten Schuss auf unser Tor konnte Leo gerade noch halten, aber der Ball prallte von ihren Händen nach vorne, wo schon ein Stürmer wartete. Der krachte ihr die Pille ins Netz.
„Ihr müsst mit zurück kommen!“, rief Frau Schnett ins Spiel. Aber auf dem Platz hörte man die Zwischenrufe kaum. Wir verloren den Ball, sobald der Anstoß getreten war. Wie eine Welle rollte der Angriff auf Leos Tor. Wir konnten nicht mal so schnell gucken, wie die Moseraner Stürmer unsere Abwehr zerpflückten. Schnelle Pässe, direkt gespielt, das war echt ein Traum! Nur für uns leider ein Alptraum! Zum Glück schaltete Leo in diesem Moment schnell. Sie rannte los, warf sich an der Strafraumgrenze gegen den Ball und lenkte ihn ins Seitenaus. Mama und Papa klatschten Beifall. Mit nur einem Gegentor schafften wir es in die Halbzeit.
„Das war gut!“, rief Frau Schnett. „Stellt euch den anderen auf die Füße, dann haben sie bald keine Lust mehr! Wir schießen noch unser Tor!“ Alle nickten, auch Leo und Nico. Vor meinen Augen erschien ein Bild, in dem sich unsere kräftige Frau Schnett auf die Füße des Moseraner Trainers stellte. Ich musste grinsen. Ob wir das wirklich packen konnten? Mosern hatte in dieser Saison fast nie verloren. Wir hätten ein Unentschieden wie einen Sieg gefeiert.
Wenn ich wenigstens hätte mitspielen dürfen! Den guten Start in die zweite Hälfte sah ich wieder nur von draußen. Flori bediente Nico mit einem Querpass, aber der war so überrascht, dass er viel zu früh aufs Tor schoss. Der Torwart hielt natürlich, das war schade! Und nach zwei weiteren Chancen war Schluss mit lustig. Leo flogen die Bälle jetzt nur noch um die Ohren. Nach einer echten Bananenflanke köpfte Mosern das Zwei zu Null. Leo trat wütend gegen den Pfosten.
„Ich hab doch gesagt, wir kriegen ´ne Packung“, rief sie „Ich will endlich mal vorne spielen!“ Mama zuckte hilflos mit den Schultern. Papa schüttelte den Kopf.
„Pass lieber auf!“, rief er. Da war es schon passiert. Leo sah den nächsten Schuss zu spät, sprang zur falschen Seite und der Ball kullerte über die Linie. Das gab Theater! Mattu, Enno und Flori, unsere ganze Abwehrreihe schimpfte gleichzeitig los. Bei Leo rollten schon die Tränen.
Frau Schnett rannte übers Feld und schubste die Jungs von Leo weg, damit sie die Klappe hielten. Beim vierten Tor winkten dann alle nur noch ab. Woher sollte da der Jubel über unser spätes Ehrentor kommen?
„Schlaf aus, Tina! Du bist dran!“ Was? Wie? Papa schüttelte mich aus den Tagträumen. „Frau Schnett hat schon zweimal gerufen!“
Du liebe Güte! Ich rannte zu ihr und für die letzten Minuten mit aufs Feld. Doch was sollte ich jetzt noch ausrichten? Uns noch einmal heran bringen? Warum nicht? Mosern hatte seine Spiele meistens viel höher gewonnen, da würde sich vier zu zwei noch ganz gut anhören. Ich rannte gleich nach vorn. Und ha! Ich hatte Glück. Mattu spielte mir den Ball vor die Füße und ich schob ihn dem ersten Gegner durch die Beine. Der schnaufte wütend. Wie weit war es noch zum Tor? Verdammt weit! Ich hetzte los, die anderen rannten schneller. Beinahe schaffte ich es in den Strafraum, nur noch ein Verteidiger stand mir im Weg. Ich täuschte einen linken Haken an, sprang aber nach rechts. Gleichzeitig lupfte ich den Ball über den Fuß des Verteidigers, und rums! Er zog das Knie genau in dem Moment hoch, als ich von hinten einen Schubs bekam.
Ich hob ab wie ein Flieger und flog genau in das Knie hinein. Aua! Auweia! Mir blieb die Luft weg. Ich stürzte auf die Wiese und krümmte mich vor Schmerz.
„Foul!“, hörte ich Papa vom anderen Ende des Platzes. Aber der Schiri hatte schon gepfiffen. Frau Schnett eilte aufs Spielfeld, zog mich hoch und streckte mich, damit ich wieder atmen konnte. Ich verkniff mir die Tränen und ging erst mal in die Abwehr zurück. Auf Flori‘s Posten, damit er den Freistoß schießen konnte. Beinahe traf er noch einmal. Sein Schuss streifte den Pfosten und flog ins Aus. Ich stöhnte enttäuscht. Flori schlug mit der Faust auf den Rasen. Derweil startete Mosern schon den nächsten Angriff. Mann, waren die schnell! Mit zwei, drei Zuspielen legten sie unser Mittelfeld aufs Kreuz. Mattu und Dome wurden auch überrannt. Der Ball kam aufs Tor, Leo stürzte nach vorn, aber sie rutschte vorbei. Der Angreifer spitzelte den Ball zur Seite, wo sein Freund ankam. Der schoss und …
Was jetzt passierte, war keine Absicht. Es war nur ein Reflex, wie bei einem Frosch, der in seinen Teich springt. Der Ball sollte einfach nicht in unser Tor. Ich hechtete ihm entgegen, so wie Torleute das tun. Er patschte an meine Hand und flog über die Latte ins Aus. Wieder schrillte der Pfiff. Und diesmal zeigte der Schiri auf den Punkt. Strafstoß für Mosern und rote Karte für mich! Mein Spiel war gelaufen, bevor ich richtig auf dem Platz stand.
Und damit lief das Fass über!
Alles, was ich an Fußball jemals toll gefunden hatte, löste sich in Luft auf. Wozu hatten wir diesen gruseligen Kampf um die Apfelwiese gewonnen? Wozu einen Verein gefunden und einen Sportplatz gebaut? Für das hier? Mama wollte mich trösten, ihre langen Haare umschlossen mich wie ein Vorhang. Doch ich war zu wütend, wand mich aus ihrer Umarmung und reckte dem Schiedsrichter die Faust entgegen. Papa riss sie sofort herunter. Die Moseraner grinsten schadenfroh und klatschten sich ab.
„Die Kleine hat die Sportart verwechselt“, lachte einer. Am liebsten hätte ich ihm eine geknallt.
„Bombe schießt!“, rief jemand anders.
Auch das noch! Bombe war der größte Kerl auf dem Platz und der fetteste auch, also verlor er jedes Sprintduell. Aber seine Schüsse waren hammerhart. Leo konnte froh sein, dass sie die bislang nicht abbekommen hatte. Nun nahm er sich den Ball. Leo schaute genau zu und rückte auf der Torlinie ein bisschen nach links. Sie hoffte wohl, dass Bombe absichtlich in ihre vermeintlich schwache Ecke schoss. Ich kannte diesen Trick und er funktionierte auch. Bombe lief an, vier, fünf Schritte; er stoppte beinahe und zog gewaltig ab. Der Schuss ging hoch ins linke Eck, genau wie Leo gedacht hatte. Sie hechtete hinein, streckte den Arm aus... sie hatte ihn! Doch der Schuss kam viel zu scharf. Ihre Hand wurde einfach zur Seite gedrückt und der Ball raste ins Netz. Enttäuscht blieb Leo auf der Linie liegen. Erst als Papa zu Schimpfen anfing, erhob sie sich widerstrebend. Kaum zwei Minuten später war das Spiel vorbei.
„Toller Einsatz, Leo!“, lobte Frau Schnett. Doch Leo schüttelte sich. Nach dieser Pleite brauchte sie nichts mehr.
Mosern schenkte uns eine Packung Schaumküsse zum Abschied. Lieb gemeint, wusste ich. Während ich meinen in mich rein stopfte, wuschelte Frau Schnett uns über die Köpfe. „Seid nicht traurig! Nächste Saison sind wir besser eingespielt. Da sieht alles anders aus!“ Wir schwiegen und mampften. Dann warfen wir die Trikots und Hosen in ihre große Tasche und zogen uns um. Frau Schnett ging den Spielbericht schreiben.
Plötzlich schaute Mama in die Umkleide. Wir mussten ziemlich getrödelt haben, denn sie fragte ungeduldig: „Wo bleibt ihr denn?“
Als wir zum Auto schlichen, sprach Papa gerade mit Frau Schnett. „Na, dann viel Erfolg!“, antwortete sie ihm, aber ich verstand nicht wofür. „Wir sehen uns in der Schule!“, rief sie noch aus dem Auto und fort war sie.
„Wo ist euer Fußball?“, fragte Mama.
„Oh, in der Kabine vergessen.“
„Dann hol‘ ihn, Leo! Hopp!“
„Nö, ist doch Tinas Pille.“
„Dann holt ihn eben Tina!“
„Wieso ich? Leo hat auch damit gespielt!“, protestierte ich.
„Beide rein und holen, sofort!“ Papas Machtwort schallte aus dem Auto. Das hatten wir davon!
„Nimm du!“, kickte mir Leo die ungeliebte Kugel zu.
„Nimm selber!“, schoss ich zurück.
„Was ist bloß mit euch los? Ihr habt nur ein Spiel verloren!“, warf Mama den Ball ins Auto.
„Ich spiele nie wieder Fußball!“, motzte Leo sie an. Und ich war voll ihrer Meinung.
Unser Traum, ein toller Fußballverein zu werden, schien weiter entfernt als je zuvor. Wir konnten einfach nicht mehr, und wir wollten es auch nicht. Wenn es dabei geblieben wäre, hätte es die folgende Geschichte nie geben. Doch mitten in der finsteren Stimmung, zündete jemand ungefragt ein Licht für uns an. Davon will ich dir erzählen.
Also komm mit! Jetzt drehen wir das Ding!