Читать книгу Mit Entsetzen Scherz - Andreas Dorschel - Страница 7

Folie à deux

Оглавление

Folie à deux, ›Wahn zu zweit‹, lautet der Name einer Anomalie, derer sich früher die Seelenärzte annahmen.1 Die Nähe der Patienten zu einander war in einem solchen Fall dafür verantwortlich, daß sie verrückt sein konnten; also mußte der entscheidende erste Schritt zur Besserung darin bestehen, beide von einander zu trennen. Einstweilen ist die folie à deux bei den Psychiatern in Ungnade gefallen; das neueste Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (DSM–5, 2013) führt sie nicht mehr, da die Kriterien zu ihrer Bestimmung vage seien. Von falscher Exaktheit befreit zu sein könnte den Namen zu uneigentlichem Gebrauch befreien. Folie à deux scheint jedenfalls keine schlechte Metapher für Konstellationen, die tragikomisch genannt werden. Zwei Qualitäten statt zwei Personen wären es in der figurativen Rede, die zusammenkommen. Entscheidend ist hier wie dort die Nähe, bis zur Intimität. Wie die Zusammenziehung in das eine Wort, ›Tragikomik‹, andeutet, geht es nicht darum, daß in einer Ecke die Komik spielt und in einer anderen die Tragik; wie bei einer richtigen folie à deux muß sich eine gemeinsame Sphäre bilden. Daß in dieser Sphäre eine Portion Wahn, der Therapie entzogen, Platz hat, wird diese philosophische Untersuchung in drei Fallstudien erweisen. Deren Beispiele sind der europäischen Dichtung entnommen. Damit ist nicht bestritten, daß es im Leben öfter tragikomisch zugeht. Aber wer Leben so versteht, greift auf Vokabular zurück, das der Dichtung entstammt. Dieser Umstand weckt Zweifel an der Vorstellung, Dichtung ahme das Leben nach. War es in der Geschichte vielleicht manchmal umgekehrt? Die Fallstudien erproben den Gedanken, mit der Rede von Tragikomik lasse sich in historisch prägnant unterschiedlichen Zusammenhängen etwas anfangen: dem des klassischen Athen, dem Englands unter Jakob I. sowie dem der Habsburgermonarchie in ihrer letzten Phase. Euripides’ Bakchai (erstmals aufgeführt 405 v. Chr.), Shakespeares Tragedy of King Lear (gedruckt 1623) und Kafkas Der Process (verfaßt 1914/15) umkreisen je auf ihre Art Fragen des Status. Die Könige Pentheus und Lear ebenso wie der »Prokurist einer großen Bank« Josef K. erleben den Zerfall ihrer Macht und des Respekts, den sie zuvor genossen. Doch nicht, daß dies geschieht, schafft tragikomische Situationen, sondern die Art, wie es geschieht. Bestimmte Situationen innerhalb der Werke so zu charakterisieren, schließt kein Urteil über den Charakter der Werke im Ganzen ein. Bakchai, King Lear, Der Process sind, was immer sie sein mögen, keine Tragikomödien. Die drei Fallstudien tragen nichts bei zu literaturwissenschaftlichen Gattungsdiskussionen. Statt einem angeblichen Genre ›Tragikomödie‹ gilt die Untersuchung bestimmten Konstellationen, die – so die These – in erhellender Weise als tragikomisch begriffen werden. Daß sie so begriffen werden können, ist indes erstaunlich. Den Fallstudien zu Euripides, Shakespeare, Kafka gehen Kapitel zum jeweils nach Zeit und Ort veränderten Sinn der Begriffe ›tragisch‹ und ›komisch‹ voraus, die darlegen, aus welchen Gründen im Griechenland des 5. Jahrhunderts (›Dionysos’ Duplicitas‹), in der Renaissance (›The trick of singularity‹) und in der Kultur des Bürgertums deutscher Sprache nach 1800 (›Teilen, Herrschen und Genießen‹) eine Verbindung jener beiden Qualitäten zu so etwas wie Tragikomik durchaus unwahrscheinlich war: sie schien jeweils einfach eine Ungereimtheit darzustellen. Das Unwahrscheinliche möglich machte Euripides durch Ironie, Shakespeare durch Intervention, Kafka durch Travestie; was das genau bedeutet, ist nicht auf die Schnelle zu sagen, sondern nur in den jeweiligen Kapiteln zu entfalten. Die drei Kunstgriffe unterscheiden sich in charakteristischer Weise; gemeinsam ist ihnen, daß sie, auf Geschehenes reagierend, jeweils Gegenwart mobilisieren. Ein Leitmotiv der Überlegungen – daher der Untertitel des Buches – bildet das Verhältnis zur Zeit: Komisches ist im Moment zuhause,2 Tragisches beschreibt einen großen Bogen. Die Frage der Ungereimtheit, als Kern des Buches, exponiert das Kapitel ›N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch?‹ bereits zu Anfang umfassend. Dem Umstand, daß alles irgendwo herkommt und irgendwo hingeht, ohne daß sich präzis angeben ließe, woher und wohin, entspricht, gleichsam an den Rändern des Buches, die Form bloßer Skizzen. Sie sollen es nicht panzern – bei diesem Thema wäre das besonders verfehlt –, sondern nach beiden Seiten öffnen. Tragikomik, wenn’s denn welche ist, avant la lettre und après la lettre: Die kleine Studie am Anfang des Buches (›Sterben vor Lachen‹) widmet sich der Homerischen Welt als Vorgeschichte des Tragikomischen; wie es in der Obhut digitaler Technologien weiter gedeihen mag, fragt das Fragment am Ende des Buches. Fragend ist jedenfalls sein Sinn, auch wenn es sich in der sprachlichen Form behauptend ausnimmt. Dies Stück heißt: ›Miniatur‹. Denn es wäre doch gelacht, wenn eine Folie à deux, die eine so große Vergangenheit hinter sich hat, nicht wenigstens eine kleine Zukunft vor sich haben sollte. Falls diese Meditation über das Endgerät einen enttäuschenden Schluß ergibt, wäre zu erwägen, in welchem Anteil das Enttäuschende der Wirklichkeit, in welchem dem Autor, der von ihr handelt, zuzuschreiben ist.

1Enoch, Puri u. Ball, ›Folie à deux‹. Genauere Angaben zu den Schriften, auf die Bezug genommen wird, verzeichnet die Bibliographie.

2– oder einer Abfolge von Momenten; s. Kap. ›N.s Malheur‹, ¶ 21.

Mit Entsetzen Scherz

Подняться наверх