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N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch?

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1Der Gegenstand dieser Studie, das Tragikomische, ist zunächst ein Klischee: das des Bajazzo, dem zum Heulen ist, während er seine Possen reißt. Klischee bedeutet Abklatsch, zunächst den Probeabzug einer originalen Druckform. Ein Paradoxon, wie das Tragikomische, mag einmal gegen Klischees erdacht worden sein; ein solcher Umstand bietet und bot noch nie Gewähr gegen die Möglichkeit, selbst abgegriffen und nichtssagend zu werden. Guter Geschmack geht Klischees grundsätzlich aus dem Weg; aber derart unbehelligt bleiben sie, was sie sind. Gerade daß etwas Klischee wurde, wäre ein Grund, es so lange mit Fragen zu behelligen, bis es wieder frisch ist. Es kann sich herausstellen, daß dies mißlingt. Aber selbst das wäre eine Lehre.

2Zu den Klischees (¶ 1) zählen gestanzte Antworten auf vorgefertigte Fragen. Die erste Frage, die sich stellt, wäre die nach der richtigen Frage. Darf sie lauten: Was ist Tragikomik? Oder ist die Frage, so gestellt, verpönt, weil essentialistisch – und zu ersetzen durch Erkundigungen nach dem Wortgebrauch? Manche Leute werden tragikomisch genannt, auch Situationen, Ereignisse, Vorgänge. Was für Vorgänge? Jenseits des Klischees nach einer Sache gefragt wird erst, wenn sich nicht mehr von selbst versteht, was sie ist. Vielleicht hilft ein Beispiel weiter, das schnell jenes Etikett auf sich ziehen würde; jedenfalls bietet es reichlich Stoff zum Nachdenken über Tragikomik. Anton Tschechow notierte im Jahr 1901 in eine Kladde zum Kirschgarten:

Die Lehrerin N. hört, als sie abends nach Hause geht, von einer Bekannten, X. habe sich in sie verliebt, wolle ihr einen Antrag machen. N. ist häßlich, hat nie zuvor ans Heiraten gedacht, kommt zitternd vor Angst nach Hause, kann nicht schlafen, weint, gegen Morgen verliebt sie sich in X.; und mittags erfährt sie, daß es nur eine Vermutung war, daß X. nicht sie heiraten werde, sondern Y.1

Ein Anti-Aschenputtel. Auf den ersten Blick mag die Geschichte aussehen wie der simple Witz des Erzählers über eine Frau, für die es das höchste der Gefühle wäre, eines Tages geheiratet zu werden. Sein Sexismus ließe sich vielleicht daran festmachen, daß das Attribut »häßlich« N. von vornherein zum Opfer stempelt. Eventuell würde man hinzufügen, der Witz beute eben das stets reichlich vorhandene Gefühl der Schadenfreude aus, die sich leicht einstellt, wenn jemand – in diesem Fall die Protagonistin N. –, wie man so sagt, selber schuld ist. Aber ist die Sache wirklich so einfach?

3Was ist mit der Geschichte anzufangen? Sofern Schadenfreude (¶ 2) hier nicht das erste und zugleich letzte Wort hat, liegt Mitgefühl, wie traurig der Vorgang sei, unmittelbar nahe. Daß N. Opfer eines banalen Versehens wird, macht, was da passierte, erst recht trostlos: Gleichgültig, nämlich ungeprüft Hingesagtes erzeugt, über Stadien von Angst und Zittern, äußerste Involviertheit, die am Ende auf manifeste Gleichgültigkeit trifft. Hätte ein Nicht-Indifferenter, ein Feind, N. angegriffen, dann könnte sich ihr Leid und des Lesers Mitleid in Haß auf den Angreifer Luft machen. Sie könnte kämpfen. Aber N. hat keine Ansprüche an X., sie kann sich nicht zu Unrecht zurückgesetzt,2 also im Recht fühlen. Ihr ist benommen, ihrer Enttäuschung in Empörung Luft zu machen. Wenn man N. ein Opfer nennt, fragt es sich doch: wessen Opfer? Von bösen Absichten der drei anderen Beteiligten ist keine Rede. Niemand hat etwas gegen N. Und gerade daß sich nicht die Spur eines solchen Konflikts andeutet, läßt die Geschichte an Komik, bis zur Absurdität, teilhaben. Alles vollzieht sich an der Oberfläche, ohne Tiefe, ohne Sinn. Komisch ist, daß N. allein im Bett liegend ihr Herz an X. verliert.3 Daß dies Sichverlieben den anderen nicht braucht, spiegelt ironisch voraus, daß es ihn nachher nicht bekommt – eine Parodie poetischer Gerechtigkeit. Bloße Worte liegen diesem Entflammtwerden zugrunde, bloße Worte entziehen ihm die Grundlage. Es ist Tschechows Kunst, zur Sprache zu bringen, wie wenig auf Sprache zu geben ist. Die Komik von N.s Fall speist sich aus dem bizarren Mißverhältnis zwischen der Nichtigkeit der Ursache – ein Tratsch, eine bloße Vermutung, die sich als Mißverständnis, als Verwechslung entpuppt – und der Macht ihrer Wirkung: Ein Leben, das, wie es scheint, nie an Liebe teilhatte, wird in dieses stärkste aller Gefühle gestürzt. Etwas Großes wird ausgelöst und dann für überflüssig erklärt. Es läuft ins Leere. Jene Nichtigkeit verschärft, daß X., um den sich alles dreht, nichts ahnt von dem, was sich um ihn dreht. Vorsichtshalber erklärt Tschechow N. für »häßlich«, so die Idealisierung vermeidend, die Männer für ihre reinen tragischen Heldinnen vorsahen – solche, für die Helden sterben. X. soll keinen Grund haben, N. auch nur zu bemerken. Zugleich ist die »Bekannte« als allenfalls gedankenlos oder verwirrt, nicht als hinterlistig zu denken. Die Auflösung einer vehementen Emotion in nichts ist geläufig als Struktur vieler Witze,4 zugleich aber bezeichnet gerade sie den für N. tragischen Ausgang. Als Zerplatzen einer Seifenblase ist der geschilderte Verlust einer Illusion komisch; doch sobald N. sich in X. verliebt hat, ist mehr im Spiel als eine Illusion über irgend etwas da draußen. Die Illusion hat verändert, wie N. sich selber sieht – und daran rührt dann deren Zerstörung. Der merkwürdige Fall ist eingetreten, daß N. gedemütigt aus der Geschichte hervorgeht, ohne daß jemand sie gedemütigt hätte. Falls es triftig ist, das Ereignis tragikomisch zu nennen, dann jedenfalls nicht, weil Tschechow Tragisches und Komisches in etwa gleichen Anteilen kombinierte; statt neben einander zu stehen, erscheinen sie vielmehr verschlungen in einander und damit unentbehrlich für einander.

4Tragisches und Komisches in einander verschlungen (¶ 3): Das könnte erst recht gelten, stellte man die Notiz in den Zusammenhang von Tschechows Werk. Seine Stücke zeugen zur Genüge von weiblichem Unglück in der bürgerlichen Ehe. Wir erfahren aus der kleinen Skizze etwas darüber, wer N. ist – aber nichts darüber, wer X. ist. Vielleicht ist gerade der desperate Ausgang der Geschichte ihr Happy-End, der vermiedene Abstieg einer Lehrerin zum »Angel in the House«5? Allerdings schließt die Geschichte ja nicht – sie hört nur auf, mit einem Schmerz, den Tschechow nicht nennt und nicht nennen muß, sondern unausgesprochen in der Luft hängen läßt. Als Grund ließe sich vermuten, daß eben nur eine Skizze vorliegt. Doch bloßes Aufhören entspricht auch einem poetischen Grundsatz Tschechows. Zu Iwan Bunin sagte er 1895, bei ihrer ersten Begegnung: »Meiner Meinung nach sollte man, wenn man eine Erzählung geschrieben hat, den Anfang und den Schluß streichen. Da reden wir Belletristen den meisten Unsinn …«6 Falls das Happy-End der Komödienschluß wäre und der Untergang der Tragödienschluß,7 dann kann offenes Aufhören die Tragikomik wahren. Was aber bedeutet das: ›offen aufhören‹? In einem bestimmten Sinne hört jede Geschichte offen auf, weil man nie weiß, wie es weitergeht. Es kommt nicht vor, daß ›alles vorbei‹ ist, sofern das Wort ›alles‹ bedeutet, was es bedeutet. Auch nach der Hochzeit in der Komödie oder nach dem Tod des tragischen Helden könnte es auf vielerlei Art weitergehen. ›Offen‹ heißt daher ein Ende nicht in einem absoluten Sinne, sondern relativ auf das Problem, um welches das Drama jeweils kreiste. Und das gilt ja von dem Miniaturdrama der N. Offenes Aufhören und Tragikomik widersetzen sich beide der Eindeutigkeit. Daß nur offenes Aufhören die Tragikomik wahren kann, ist damit nicht gesagt; ein Schließen, das nicht in die eine oder andere Richtung kippt, bleibt denkbar.

5Die antike Tragödie war Kritik des Helden: Er erweist sich als unfähig, den Gang der Dinge zu bestimmen. Schon zwischen falsch und richtig zu unterscheiden gelingt ihm nicht. Der tragische Held hat, nüchtern gesagt, weder Erfolg noch Urteil. Das bedeutet nicht, er sei insgesamt eine einfältige Figur. Die Sphinx durch Klugheit zu besiegen gelang Oidipous; aber in der Führung des eigenen Lebens hat er, wiederum ohne Pathos gesprochen, weder Erfolg noch Urteil. Dies gilt auch von N.; von tragischen Helden unterschieden und zur komischen Figur designiert scheint sie jedoch durch die Art ihres Fehlers. Damit nun ein Geschehen, wie das um N., tragikomisch sein könnte, müßten die beiden Seiten, die das eine Wort benennt, einander in einem Punkt treffen. Im Mißverhältnis zwischen den Absichten, die sich mit einem Tun verbinden, und den Folgen dieses Tuns liegen Möglichkeiten nach jenen beiden Seiten, der tragischen und der komischen. Das Dritte, in dem sie einander treffen, scheint die Verletzlichkeit und Schwäche von Menschen zu sein. Auf diese beziehen sich Komik und Tragik in unterschiedlicher Weise – worin der Unterschied besteht, wäre herauszufinden. Den Punkt, in dem beide einander treffen, bezeichnet manchmal das Wort ›peinlich‹, das einerseits von dem Nomen ›Pein‹, also Schmerz, abstammt, andererseits Attribut von Verhaltensweisen ist, die, weil merkwürdig, ins Alberne oder Lächerliche ziehen.

6Verletzlichkeit und Schwäche (¶ 5) kann vielerlei Quellen haben; im Fall von N.s Geschichte rühren sie offenbar vom Phantasieren her. Einsamkeit macht anfällig für Phantasien von Zweisamkeit. Wer phantasiert, stellt im Kopf eine zweite Welt neben die erste. Das kann komisch werden durch die Inkongruenz des Realen und des Imaginierten. Es kann tragisch werden durch den tiefen Fall von der Höhe des Phantasierten auf den harten Boden der Realität. Und den Ausschlag in die eine oder die andere Richtung, die tragische oder die komische, gibt die Antwort auf die Frage, worum es ging in der Phantasie: Was für ein Bedürfnis liegt ihr zugrunde und welcher Gehalt kommt der Phantasie selber zu? N.s Bedürfnis, geliebt zu werden, ist menschlich und mag tief loten; sich ihm hinzugeben aufgrund eines bloßen Berichts, ist albern. Die Kunst, so etwas vorzuführen, kann aber groß sein und größer als der reine Ernst. Nur einem, der vom Inhalt ohne weiteres auf die Form schließt, erscheint aufgrund der umrissenen Differenz Tragik als das Hohe und Komik als das Niedere. Weil Form stets die eines Inhalts ist, muß allerdings Substanz da sein, an der sich die komische Kunst bewährt; komisches Gefuchtel ohne Substanz heißt Klamauk.8 Aber das ist kein Einwand gegen Komik. Es gibt schließlich auch tragisches Gefuchtel ohne Substanz.

7Obschon sie plausibel klingt, kann, einerseits, die Charakterisierung von N.s Malheur als tragikomisch (¶¶ 34), wie jede Charakterisierung, bestritten werden. Schon daß die Worte ›tragisch‹ und ›komisch‹ dabei vorerst nur intuitiv verwendet werden, macht sie anfechtbar. Doch irgendwo muß man schließlich anfangen. Andererseits kann man fragen, was mit einer solchen Charakterisierung geleistet wäre. Versteht man damit eine solche Situation, die ja nicht nur in Notizbüchern von Schriftstellern vorkommt? Denn auch wenn Tschechow die Geschichte der Lehrerin N. erfunden hat: Alles könnte sich im Leben so zugetragen haben – ja es ist unwahrscheinlich, daß dergleichen noch nie passiert ist. Das heißt nicht, daß Literatur das – übrige – Leben spiegelt; es könnte, gemäß Oscar Wilde,9 umgekehrt sein. Es heißt auch nicht, daß der Unterschied zwischen Literatur und übrigem Leben nichts ändert; Adam Smith weist, wenngleich nicht unironisch, darauf hin:

The loss of a leg may generally be regarded as a more real calamity than the loss of a mistress. It would be a ridiculous tragedy, however, of which the catastrophe was to turn upon a loss of that kind. A misfortune of the other kind, how frivolous soever it may appear to be, has given occasion to many a fine one.10

Der Verlust eines Beines ist im allgemeinen als größeres wirkliches Unglück anzusehen als der Verlust einer Geliebten. Doch eine Tragödie, deren Wendepunkt ein solches Ereignis wäre, nähme sich lächerlich aus. Ein Mißgeschick der anderen Art hingegen, selbst wenn es leicht wiegt, hat schon zu mancher schönen Tragödie Anlaß gegeben.

Nicht etwa das nach den praktischen Maßstäben des Lebens schlimmere Ereignis ist das für literarische und speziell theatralische Tragik ergiebigere, sondern das nach den eigenen Maßstäben von Literatur und Theater pittoreskere, das schön – »fine« – darstellbare. Jedenfalls galt dies in einem Zeitalter des Geschmacks, wie es das 18. Jahrhundert war.

8Im Fall von Tschechows Lehrerin macht deren Status als Fiktion (¶ 7) einen maßgeblichen Unterschied. N. kann einem leid tun (¶ 3), doch das stört die Komik nicht. Es ist gleichsam ein Leidtun in Klammern. Für eine Erdichtung kann keiner etwas tun. Sich auf einen wirklichen Menschen moralisch einlassen, heißt hingegen, es ernst mit ihm meinen; die Komik hört auf. Aber man hat eben auch im Leben nicht immer Mitleid; Furchtbares passiert, das zugleich komisch ist, und komischer, weil furchtbarer. Falls, unter solchen Voraussetzungen, ›tragikomisch‹ ein treffendes Wort wäre für ein Ereignis, sei es in der Literatur, sei es im Leben, dann ist damit noch nicht geklärt, wie etwas tragikomisch sein kann. Wer Gutes und Schlechtes vermengt, erhält Mittelmäßiges. Wegen des Schlechten ist die Sache weniger gut, wegen des Guten weniger schlecht. Gegensätzliche Qualitäten schwächen einander. In tragikomischen Situationen hingegen scheint die eine Seite die andere zu steigern: so, eben Seite an Seite, werden sie noch schneidender. Vielleicht liegt dies daran, daß das Tragikomische kein Vermengtes ist. Oder es liegt daran, daß ›tragisch‹ und ›komisch‹ ein Gegensatz anderer Art ist als ›gut‹ und ›schlecht‹. Wo Tragik ins Große greift, macht ihr Gegenspieler, Komik, sich als das Verkleinernde geltend. Ein solcher Antagonismus braucht, weil er sich als Bewegung vollzieht, zunächst Abstand. Daß Tragik und Komik einander nah rücken können – wenn sie es denn können –, und zwar nah bis zum Ineinander-Verschlungensein (¶ 3), bleibt erstaunlich und erklärungsbedürftig.

9In tragikomischen Situationen scheint die eine Seite die andere zu steigern (¶ 8): Dies Wort, ›steigern‹, legt nahe, es ergebe sich jeweils ›mehr‹ der einen und der anderen Qualität. So ist es auch gemeint. Aber das schließt nicht aus, daß die beiden Seiten, statt einander nur zu stärken, in ihrem Verschlungensein (¶ 3) einander auch ändern, sich wechselseitig eine neue Note geben, zum Beispiel die des Grellen oder des Absurden. Daß Tragik und Komik einander steigern können – wenn sie es denn können –, impliziert ferner nicht, eine von ihnen sei für sich genommen mangelhaft. Beides wird verwechselt in dem konventionellen Kritikerlob, die Komik zum Beispiel Chaplins sei so groß, daß sie an Tragik heranreiche. Was aussieht wie ein ästhetisches Urteil, zeugt lediglich von einer arbiträren Vorliebe. Von Kritikern, die so loben, wird man nicht lesen, die Tragik Sophokles’ sei so groß, daß sie an Komik heranreiche. Jenem kritischen Gemeinplatz liegt eine Rangordnung der Modi zugrunde. Tragik soll irgendwie besser sein als Komik; daher soll sich diese an jener nobilitieren können. Doch weit und breit ist kein Gedanke erkennbar, der eine solche Rangordnung begründen würde. Denn vom Inhalt zur Form führt nur ein Fehlschluß (¶ 6). Das Interesse am Tragikomischen (¶¶ 25, 8) ist anders beschaffen; es kommt ohne implizites oder explizites Mäkeln an Komik aus.

10Falls es sich so verhält, daß Tragisches und Komisches je einander stärken, oder stärken können (¶ 8), dann ist nach einer Antwort, eventuell auch eher nach Antworten, auf die Frage zu suchen: Wie kann das sein? Das Rätsel sei leicht gelöst, ließe sich einwenden. Zugespitzter Skepsis gälte Tragikomik als in sich widersprüchlicher Begriff. Einen Widerspruch weist man als scheinbaren auf, indem man zwei Hinsichten unterscheidet; die eine Seite gilt in einer Hinsicht, die andere in der anderen, und so bilden sie keinen Widerspruch mehr. Welche Hinsichten diese bewährte Strategie, Paradoxien auf den Leib zu rücken, zu unterscheiden hätte, liegt nahe. Um Tschechows Geschichte als tragikomisch aufzufassen, ohne daß darin eine Schwierigkeit fürs Denken läge, wäre zwischen der Innenperspektive der Lehrerin N. und der Außenperspektive von Lesern zu unterscheiden. Mit einer solchen Unterscheidung nähert man sich schon der gefährlichen Zone, die Wordsworth in ›The Tables Turned‹ benennt: »We murder to dissect.«11 Die Sache geht schief, sobald man beginnt, seinen Analysen von Geschichten mehr abzugewinnen als den analysierten Geschichten.12 Aber dazu führt der Gedanke vielleicht noch nicht ganz – sondern nach wie vor zur Geschichte selbst. Für N., so würde der Einwand besagen, sei der Vorgang überhaupt nicht komisch, er schneide tragisch in ihr Leben ein; für Leser hingegen sei das Ganze komisch.

11Für Leser (¶ 10) ist das Ganze nicht einfach komisch. Daß sich N. im Zeitraum eines Tages desavouiert sieht als eine, die es wert sein könnte, geliebt zu werden, kann ein Leser begreifen. Wird er eine solche Erfahrung tragisch nennen, ist anscheinend nichts dagegen zu sagen. Der selbe Leser kann den Vorgang komisch finden, aus den genannten Gründen (¶ 3). Und er kann auch noch sehen, daß der Vorgang für N. einschneidender tragisch wird, eben weil er komisch ist, nämlich für N.s Mitmenschen, die ihn mitbekommen. Das Opfer eines Angriffs kann Trost bei seinen Mitmenschen finden und auf Hilfe hoffen. Mit Geschlagenen können alle sich in dem Maße identifizieren, in dem jeder im Leben zum Geschlagenen werden kann. Für einfältig hält sich hingegen kaum jemand, nicht einmal die Einfältigen. (Denn ihre Einfalt schützt sie vor solcher Selbsterkenntnis.) Dieser Umstand arbeitet einem Sichidentifizieren des Lesers entgegen; N. wird so zum Objekt, mit dem der Erzähler spielt. Da ihre Desavouierung als einer möglicherweise Liebenswerten sich unter so komischen Umständen vollzieht – eine Verwechslung, eingebildete Zustände –, ist ihre Geschichte durchaus trostlos und durchaus hoffnungslos. Wenn man das Wort hier in diesem Sinne versteht, ist sie tragisch, weil sie komisch ist. Ohne eine Perspektive (¶ 10) käme es nicht zu einer solchen Einschätzung. Aber da ist etwas, das aus einer solchen Perspektive gesehen wird. Die Einschätzung geht, anders gesagt, nicht in der Alternative ›subjektiv‹ versus ›objektiv‹ auf.

12Niederschreiben läßt sich so ein Satz leicht: Etwas sei tragisch, weil es komisch ist (¶ 11). Papier ist geduldig. Aber passen diese Züge wirklich in ein und demselben Bewußtsein zusammen? Es kann einer nicht zugleich weinen und lachen. Jemand kann etwas ›mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehen‹; aber das mag nur ein Bild sein. Wäre es nichts weiter, dann entzöge das möglicher Tragikomik von vornherein den Boden.

Es entsteht die Tragikomödie, die Kunstgattung, deren Wesen darauf beruht, daß ein sich vor uns abspielendes Geschehen gleichzeitig und untrennbar komisch und tragisch ist. Die positive Bedeutung dessen ist sehr gering; es ist in der Praxis ohnehin undurchführbar, weil diese gleichzeitige Doppelseitigkeit des Sehens doch nie zum spontanen Erlebnis werden und die tragische Seite eines komischen Falles, oder die komische eines tragischen nur nachträglich – und zwar großenteils intellektuell – empfunden werden kann.13

Georg Lukács hat den Gedanken in seiner Studie von 1914 derart nachlässig in Worte gefaßt, daß man meinen könnte, es sei keiner da. Denn ist Empfinden Sache des Intellekts? Muß man sich über den Grad der »positive[n] Bedeutung« von etwas den Kopf zerbrechen, wenn es »ohnehin undurchführbar« ist? Die Fragen sind angebracht, aber sie setzen sich darüber hinweg, daß im achtlos Gesagten ein Einwand steckt, der eine Antwort fordert.

13Wogegen richtet sich derjenige Einwand Lukács’, der zunächst eine Antwort fordert? Das sagt der erste Satz des Passus: Ihn stört »die Tragikomödie« als »Kunstgattung«. Für sie fand Lukács nämlich keinen rechten Platz in der Geschichtsphilosophie der literarischen Gattungen, an der er zu dieser Zeit arbeitete und deren wichtigstes Stück, Die Theorie des Romans, zwei Jahre später erschien. Es ist allerdings eine Sache, Zweifel an einer Gattung namens Tragikomödie anzumelden, und eine andere Sache, zu bestreiten, daß eine Situation als tragikomisch erlebt werden kann. Mit Gérard Genette ist zwischen Modus und Genre zu unterscheiden. Modi sind adjektivisch, Genres substantivisch. »Il y aurait donc du tragique hors tragédie«14 – tragisch kann es zugehen jenseits der Tragödie, komisch jenseits der Komödie und tragikomisch jenseits der Tragikomödie. In letzterem Fall gebührt sogar dem Modus ein ästhetischer Vorrang vor dem Genre. Gegen eine Gattung namens Tragikomödie mag in der Tat einiges sprechen, wenn auch nicht gerade, daß eine Geschichtsphilosophie kein Fach für sie bereithält. Zu einer wirklichen Gattung schließen sich Werke stetig, zugleich bewahrend und erneuernd, zusammen – siehe Ballade, Symphonie, Stilleben –; davon kann bei sogenannten Tragikomödien keine Rede sein. Daß es sich so verhält, ist nicht einmal schade. Starke tragikomische Wirkungen entfacht eher, wer die Zuschauer ungewiß darüber sein läßt, in was für einer Vorstellung sie sitzen. Anzukündigen, halb tragisch, halb komisch werde sie sein, wie Beckett mit dem Untertitel von Waiting for Godot, A Tragicomedy in Two Acts, ist zu adrett. So verpaßt ein Autor die Gelegenheit zu verwirren. Denn Verwirrung, und mit ihr die Erfahrung, in gegensätzliche Richtungen gezogen zu werden, kann ästhetisch ein Gewinn sein – und zugleich epistemisch, da sie das Denken fordert.15 Weder ist sie zwingend künstlerisches Versagen noch ihre Vermeidung zwingend künstlerisches Verdienst. Ins Unbequeme ihrer Lage fällt ein Glanz: der des Überraschenden. Im Programmheft angemeldete Verunsicherung verunsichert keinen; man weiß Bescheid. Die eindringlichsten tragikomischen Momente treten jenseits als Tragikomödien annoncierter Werke auf. Gäbe es eine solche Gattung, es wäre desto schlimmer für sie. Vielleicht ist ein Feld auszumachen, in dem sich Gattungen wie Tragödie und Komödie überschneiden, ohne daß dieses selbst zur Gattung würde. Nicht ob ein Genre namens Tragikomödie besteht, ist zu erwägen, sondern ob eine Handlung oder Lage als tragikomisch erlebt werden kann; erst an diesem Punkt wird das, was Lukács ausführt, bedenkenswert.

14Lukács’ Einwand (¶ 12) lautet, an Tragikomik sei nichts, weil sie hinzustellen nicht genüge. Sie müsse ankommen; das aber werde nicht geschehen. Im Jargon gesprochen: Lukács argumentiert von der Seite der Rezeption her gegen die Produktion – gegen bestimmte Produkte. Das Publikum könne diese nicht so erfahren, wie sie intendiert seien – tragikomisch nämlich –, weil sein Bewußtsein nicht auf eine entsprechende »Doppelseitigkeit« angelegt sei. Träfe dies zu, dann wäre Tragikomik als Thema wirklich erledigt; allenfalls ließe sich noch spekulieren, wie es je zu diesem künstlerischen Irrläufer kommen konnte. Allerdings muß Lukács die Perspektive des Publikums verzerren, um sein Argument durchzuführen. Seine Taktik steht und fällt mit dem Begriff des »Sehens«. Beim Sehen leuchtet es in der Tat ein, daß man eine Sache nicht zugleich als etwas und etwas anderes sehen kann. Das demonstrieren die Kippbilder oder Inversionsfiguren. Am Necker-Würfel sieht einer immer nur entweder das linke Quadrat oder das rechte als dessen Vorderseite; Edgar Rubins bekannte Figur kann jemand als eine Vase oder als zwei Gesichter sehen, doch nicht als beides zugleich; der von Wittgenstein erörterte Kaninchen-Enten-Kopf16 läßt sich als Kaninchen oder Ente sehen, aber nicht, im selben Augenblick, als Kaninchen und Ente; wenn der Zeichner William Hill die Betrachter auffordert, in einer berühmt gewordenen Zeichnung seine Gattin und seine Schwiegermutter zu entdecken,17 finden sie immer erst die junge oder die alte Frau. Es vermag einer jeweils beides nur nacheinander, nicht gleichzeitig in den Bildern zu sehen, weil Sinnlichkeit durchweg im Jetzt operiert. Sehen erschöpft indes nicht das, wozu man ins Theater geht: das Drama zu verfolgen. Aischylos’ Persai, aber ebenso Agatha Christies The Mousetrap ist mehr als ein Spektakel. Allerdings: Wenn es nichts zu sehen gäbe, würde man auch nicht ins Theater gehen, sondern zu Hause bleiben. Doch ›Zuschauer‹ schauen nicht nur; weil vielmehr das Medium des Werks Sprache ist – der Autor gestaltet nur diese, nicht das Sichtbare der Szene – und Sprache verstanden sein will, gehen Verstand und Sinnlichkeit im Erleben des Dramas ineinander. Das Verstehen ist nie lediglich im Augenblick, sondern noch im bereits Gehörten und schon in dem, was es zu hören erwartet: nur darum gibt es, manchmal, Spannung im Theater oder Überraschung. Zwar ist die Spannung am höchsten im Moment, da nichts gesagt wird. Aber sie ist es nur, weil sich vor diesem Moment etwas andeutete. Und Andeutungen muß man als solche verstehen. Lukács’ Argument hätte die für seine Theorie fatale Konsequenz, daß es im Theater nicht nur keine Tragikomik, sondern ebensowenig Tragik und Komik gäbe, denn auch diese sieht man nicht, sondern versteht sie allenfalls, in einem Zusammenspiel dessen, was man sieht, hört, denkt. Selbst in wortlosem Theater, einem gestischen, mimischen oder pantomimischen,18 wollen die Zuschauer nachvollziehen, was ausgedrückt oder gezeigt werden soll – auch dies geht auf ihrer Seite bereits über ein Hingucken hinaus. Gewiß meint Lukács »Sehen« in dem Passus irgendwie metaphorisch; aber Metaphern benutzen einen Aspekt des eigentlichen Sinnes, um etwas anderes zu charakterisieren. Diese Metapher verdunkelt die Erfahrung des Theaters, um die es geht, eher, als daß sie diese erhellte. Mit der in jedem Drama, das den Namen verdient, angelegten Rolle des Verstandes erledigt sich Lukács’ abschätziges »großenteils intellektuell«. Tragikomik kann erlebt werden, insofern es in diesem Zusammenhang niemals allein um punktuelle Sensationen geht, sondern um ein Bewußtsein, das vor- und zurückgreifen muß, wenn, weil und indem es überhaupt etwas erlebt.

15Doch wenn das Bewußtsein hier derart tätig wird (¶ 14), kann dies erst recht den Verdacht rege machen gegen die Rede von Tragikomik. Nach Lukács kommt Tragikomik überhaupt nur in einer Form vor: als verfehltes literarisches Projekt (¶ 12). Und er wendet sich damit gegen eine Rede von Tragikomik, die solche nicht nur als ein faszinierendes künstlerisches Phänomen kennt, sondern auch als etwas, das im Leben, außerhalb der Literatur, spielen kann (¶¶ 78). Solche Rede scheint wiederum anfechtbar, und zwar von folgender Unterscheidung her: Innerhalb der Geschichte von N. (¶ 2) bietet sich ein Schnitt an zwischen dem, was ein Element der Wirklichkeit sein kann, und dem, was es a limine nicht ist. Als wirklich läßt sich denken, daß N. nach Hause ging und daß sie weinte. Tragikomik hingegen sei nichts Wirkliches, sondern eine Deutung von Wirklichem. N.s Malheur lasse sich als Fall von Tragikomik auslegen oder auch ganz anders. Daran leuchtet zwar ein, daß Tragikomisches keine natürlich vorkommende Art bildet, wie etwa Pyrit (Schwefelkies, FeS2) oder der Europäische Aal (Anguilla anguilla). Gesellschaft aber besteht aus lauter Wirklichem, das aus Deutungen hervorgeht. Wer sich auf ein Versprechen verläßt, der hat Lautäußerungen in einer bestimmten Weise aufgefaßt. Daraus folgt nicht, es sei noch niemals ein Versprechen gegeben worden. Unter einer Deutung, die sich mit Gründen verteidigen läßt, kann von einem Vorgang gesagt werden, er sei tragikomisch. Das ist der Sinn, in dem manchmal gesagt wird, etwas – eine Situation, ein Vorgang, ein Ereignis – sei wirklich tragikomisch gewesen.

16Deutungen (¶ 15) haben die Eigenart, sich nicht der Dichotomie ›objektiv‹ versus ›subjektiv‹ zu fügen. Objektiv sind sie nicht, weil es nicht die eine richtige Deutung einer Situation gibt, sondern typischerweise mehrere, die sich verteidigen lassen. Einfach subjektiv sind sie nicht, weil nicht Beliebiges als Deutung einer Situation durchgeht. Manche Aussagen sind schlechte Deutungen, manche sind gar keine Deutungen dieser Situation, auch wenn sie als solche angeboten wurden. Obwohl Deutungen nicht subjektiv sind, kommen sie nicht ohne Subjektivität zustande. Welche Aspekte von Subjektivität sind im Spiel, wenn eine Situation als komisch oder tragisch oder tragikomisch eingeschätzt wird? Henri Bergsons Satz, nur wenn das Herz anästhesiert sei, stelle Komik sich ein,19 beerbt den klassischen Aphorismus Horace Walpoles, die Welt sei eine Komödie für die Nachdenkenden, doch eine Tragödie für die Fühlenden: »[T]his world is a comedy to those that think, a tragedy to those that feel«20. Es gibt niemanden, der nur denkt, und niemanden, der nur fühlt. Aber kalte Leser würden die Geschichte von Tschechows N. eher nur komisch finden, sentimentale eher gar nicht komisch. Für diese extremen Typen von Lesern ist die Geschichte nicht tragikomisch. Wer von Tragikomischem reden will, muß entweder solche Leser, falls es sie gibt, als Adressaten ausscheiden, oder ihre Lesarten als einseitig kritisieren. Allerdings geht die Sache nicht so rein auf, wie Walpole sie der aphoristischen Kürze zuliebe stilisiert. Gibt es Komik für jemanden, der »nur denkt«? Statt zu lachen, verfiele so jemand doch eher auf Spinozas »sedulo curavi, humanas actiones non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere«21: »Mit Fleiß habe ich Sorge getragen, die menschlichen Handlungen weder zu verlachen noch zu betrauern, noch zu verachten, sondern sie zu verstehen«. Sich an oder über etwas belustigen ist entweder eine Emotion oder nah an einer solchen. Walpole zu folgen ist aber in der Frage: Welche Seiten der Subjektivität sind im Spiel, wenn eine Situation als komisch oder tragisch oder tragikomisch eingeschätzt wird?

17Von Walpoles Satz her kann Tragikomik als fauler Kompromiß oder als halbe Sache erscheinen. Es liegt nahe, Walpoles »[to] feel« als ›mitfühlen‹ oder ›sich einfühlen‹ zu verstehen. Tragikomik wäre ein fauler Kompromiß oder eine halbe Sache, wenn ferner angenommen wird, daß Einfühlung das Denken beeinträchtigt und Denken Einfühlung verhindert. Die beiden Zugänge sei’s zum Geschehen auf der Bühne, sei’s zum Geschehen in der Welt würden dann einander und damit das Komische respektive Tragische an den Vorgängen mindern. Die zusätzliche Annahme verficht die Figur des Thomas in Brechts Messingkauf-Dialogen. Man kann nicht sagen, daß Brecht sie verficht; was er dazu zu sagen hat, ist weder kohärent noch auch nur konsistent.22 Von der »Einfühlung« sagt aber jedenfalls Brechts Thomas, daß sie es »unmöglich macht«, zu »erkennen«, wie eine gegebene Lage beschaffen ist. Sie trübt ihm zufolge das kritische Urteil, auf das Denken zielt. Wer sich einfühle, sei somnambul und passiv: »Anstatt zu wachen, schlafwandelt er. Anstatt etwas zu tun, läßt er etwas mit sich tun.« Mit einem Wort: Der Sicheinfühlende »vegetiert«.23

18Doch Einfühlen (¶ 17), dieses spezielle Fühlen, das an anderen Anteil nimmt, kann selbst eine Form des Erkennens sein und wird es desto eher werden, je entschiedener es Empathie ist statt Projektion. Wer sich einfühlt, verläßt den eigenen Bereich und tut damit, was von Erkenntnis zu fordern ist: bei etwas anderem anzukommen – in diesem Fall bei jemand anderem. Der Versuch, sich in jemanden einzufühlen, trifft oft genug auf Schwierigkeiten: eine blinde Projektion könnte nie in dieser Weise auf Widerstand stoßen. Und auch wenn die Schwierigkeiten überwunden werden, verlieren sich Einfühlende nicht in denen, in die sie sich einfühlen. Sie bleiben, wie – oder als – Erkennender und Erkanntes, unterschieden. Wer sich einfühlt, ist nicht eingesperrt in die Perspektive derjenigen, in die er sich einfühlt, sondern bewegt sich zwischen Hier und Dort, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, auch wenn dieses dann weniger fremd scheint. Eine negative Haltung kann nicht nur am Anfang stehen, sondern auch erhalten bleiben. Wer klug ist, lernt sich in seine Gegner einzufühlen. Empathie ist nicht Sympathie. Und ›Ich bin du‹ sagt nur eine bestimmte Mystik; die Einfühlung sagt: ›Ich könnte wie du empfinden und handeln, wäre ich in deiner Lage.‹ Darum ist ›Identifikation‹ keine taugliche Erklärung fürs Einfühlen. Wie ein ›Sich-zum-selben-Machen‹ – denn das heißt ja Identifikation – je stattfinden könnte, ist ohnehin unklar. Statt Verschmelzung mit anderen zu sein, ist Einfühlung vielmehr, wenn sie gelingt, ein Zugang zu anderen. Allerdings begreift man möglicherweise manche besser, indem man sie ausschließlich kalt beobachtet, statt sich einzufühlen. Das ist nicht der Punkt. Einfühlung ist kein Schlüssel zu allem und allen. Sie ist nicht der Zugang – sondern ein Zugang. Weil sie ein Zugang ist oder werden kann, leuchtet nicht ein, daß Brecht ihr das »[G]lotzen«24 zuordnet. Denn Glotzen bleibt draußen; man glotzt an, nicht ein. Mit ›Denken‹ und ›Einfühlen‹ wird ein Unterschied bezeichnet, keine Alternative. Sie könnten beide im Spiel sein, wenn etwas – zum Beispiel – als tragikomisch erfahren wird.

19Man deutet (¶ 15) etwas als etwas, zum Beispiel ein bestimmtes Tun oder Erleiden als tragikomisch. Solche Aussagen sind anfechtbar. Werden sie angefochten, dann muß man sie ausweisen. Mit Blick darauf, wie Tschechows Miniatur charakterisiert wurde, könnte die Herausforderung etwa so lauten: ›Du sagst, die Geschichte von N. sei tragikomisch. Damit behauptest du, pedantisch zergliedert, dreierlei: Erstens, sie sei komisch, zweitens, sie sei tragisch, und drittens, Komisches und Tragisches intensivierten einander. Komisch finde ich die Geschichte auch. Sie stammt aus den Vorarbeiten zum Kirschgarten, den Tschechow eine Komödie nannte.25 Aber was meinst du mit ›tragisch‹?‹ Der Herausforderer wird nicht bestreiten, daß die Geschichte traurig sei, jedenfalls für N. Nur ist ›traurig‹ offenbar nicht die Bedeutung von ›tragisch‹. Für Wesen, die keine Trauer kennen, könnte vermutlich nichts tragisch sein; doch mit dem Wort ›tragisch‹, wird es nicht bloß dahingesagt, muß mehr evoziert sein als eine traurige Lage. Denn ›traurig‹ und was diesem deutschen Adjektiv entspricht, ist ein elementares Wort aller Sprachen; um auszudrücken, was dieses Wort und seine Entsprechungen besagen, hätte es nie des merkwürdigen Wortes ›tragisch‹ bedurft. Das ›Mehr‹, das Tragisches von bloß Traurigem abhebt, machen manche an einem Konflikt fest, aus dem es keinen Ausweg gibt. Nicht tragisch wären danach Konflikte, die ein Kompromiß löst. Ein Kompromiß ist für die Geschichte von N. ausgeschlossen. N. kann nicht die eine Hälfte des begehrten X. erhalten und Y. die andere, oder den ganzen X. tageweise. Daß ein Kompromiß ausscheidet, ist nicht natürlich; in einer Gesellschaft mit Polyandrie käme er in Frage. Nur war Rußland im 20. Jahrhundert keine solche Gesellschaft. N. bleibt ohne Ausweg aus ihrer Situation. Es ist am Ende der Geschichte eine vollendete Tatsache, daß sie sich ein einziges Mal in ihrem Leben verliebt hat – um nichts willen. Würde sie etwa von Y. fordern, von ihrer Hochzeit mit X. zurückzutreten, da sie, N., gehört habe, X. wolle sie heiraten, dann tappte sie nur tiefer in die Lächerlichkeit. So verhält es sich aber, weil mit Blick auf Tschechows Geschichte von vornherein keine Rede von einem Konflikt sein kann. Gerade daß N. mit niemandem in Streit liegt, weder mit ihrem Bekannten noch mit X., noch mit Y., erzeugt die Nichtigkeit und mit ihr die absurde Komik des Vorgangs. So scheidet dieser Sinn von Tragik aus, und auch kein anderer ist in der Geschichte offenkundig. Die Geschichte von N. ist nicht tragikomisch, sondern traurigkomisch.

20Ein, ja im 20. Jahrhundert vielleicht der Meister einer Kunst des Traurigkomischen war Charlie Chaplin. Ein Beispiel: In The Kid (1921) bemerkt der Tramp in seinem Slum neben einer Mülltonne ein Baby. Erstaunt hebt er es auf, um es näher anzuschauen, und hat von diesem Moment an ein trauriges Problem: Wie werde ich einen Menschen los? Und hinter diesem traurigen Problem steht ein zweites: Derjenige, der das Problem hat, ist im Leben kaum weniger hilflos als das Kind. Wie entfaltet Chaplin diese zweifache Misere? Sein Medium ist der Stummfilm: Er kann sie nicht besprechen, sondern muß eine (fast) wortlose Handlung aus ihr machen. Zunächst bemerkt der Tramp einen Zweisitzer-Kinderwagen mit einem freien Platz und plaziert den Säugling darin. Aber die Besitzerin des Kinderwagens bemerkt dies rechtzeitig und knöpft sich den Tramp vor; er versucht nun, ohne daß sie es merkte, ihr Baby aus dem Kinderwagen zu nehmen, weil es kleiner ist als der Findling und daher eine geringere Last wäre: ein furchtbares Detail dieser Szene und ein furchtbar komisches. Es hilft ihm nichts; der Tramp muß mit seinem unerwünschten Fund wieder abziehen. Er legt ihn ab, wo er ihn aufgehoben hatte: neben der Mülltonne. Doch als er sich umdreht, steht sein ewiger Antagonist vor ihm: Ein Polizist hat sein Tun beobachtet. Dem Tramp bleibt nichts übrig, als das Baby wieder auf den Arm zu nehmen. Es folgt klassischer Slapstick: Der Tramp muß sich angeblich seinen linken Schuh binden, ein Bettler soll den Findling nur ganz kurz auf dem Arm halten – doch sobald der Bettler das Kind hält, wetzt der Tramp um die nächste Ecke. Der nun schon bekannte Kinderwagen fällt auch dem Bettler in die Augen, er entledigt sich seiner Last, die aber erst entdeckt wird, als der Tramp zufällig vorbeigeht; dieser bekommt es nun sowohl mit der Frau als auch mit der Polizei zu tun und erhält einmal mehr sein Kind zurück. Resigniert nimmt er auf dem Bordstein Platz. Zu seinen Füßen ist ein Gully; der Tramp öffnet das Metallgitter, aber den Säugling im Kanal zu versenken kann er sich nicht entschließen. Chaplin wußte, daß er die Szene nicht rein ins Traurige und nicht rein ins Komische auflösen durfte. Verwicklungen unaufgelöst zu lassen, wie Tschechow (¶ 4), war nicht seine Art. Es war nicht seine Art, weil es nicht die Art war, die sein Publikum goutierte. Chaplin entschied sich hier für eine dritte Qualität: das Sentimentale – einer Konvention des Traurigen das Gemüt und einer Konvention des Komischen das Happy-End entlehnend. In der Kleidung des Findlings bemerkt der Tramp ein Schreiben der Mutter: »Please love and care for this orphan child«. Er nimmt nun das Kind an, als wäre es sein eigenes. »An Chaplins quellkalter, elementarer, absoluter Komik scheitern kläglich die Mühen der Nachdenklichen, den liebenswerten Mann zu sentimentalisieren«,26 behauptete Alfred Polgar 1926. Doch sie scheitern nicht am Elementaren und Absoluten, was immer diese sein mögen, sondern erübrigen sich ob Chaplins eigenem Sentimentalisieren der Schlüsse von Szenen und ganzen Filmen. Für einen kalten Komiker war Chaplin zu liebenswert.

21Wie das Tragikomische wird auch das Traurigkomische (¶ 19) erst dann zu einem lohnenden Gegenstand des Nachdenkens, wenn seine beiden Bestandteile nicht bloß an einander hängen – ›und dann … und dann‹ –, sondern in einem Sinn, welcher der Klärung bedarf, einander bedingen. Die Abfolge, die in Chaplins The Kid (¶ 20) vom verwundert gemachten Fund zur empfindsamen Adoption führt, ist zwar episodisch, aber es folgen nicht traurige auf komische Episoden. In jeder einzelnen Episode zugleich gegenwärtig ist das traurige Problem der Entsorgung eines Menschen und seine komische Durchführung, stets virtuos eingefädelt, stets lächerlich mißlingend. Sie bedingen einander. Im Gedankenexperiment könnte man den traurigen Zug der Szene beseitigen, indem man das lebendige Kind durch eine industriell gefertigte Puppe ersetzte. Was immer mit einer solchen passierte: Ärgerlich kann es sein, traurig nicht. Auch die Hilflosigkeit des Tramp würde kaum mehr kümmern und bekümmern, solange er nur einen so gleichgültigen Gegenstand wie eine Puppe manipulierte. Mit der Beseitigung des Traurigen wäre indes auch das Verhalten des Tramp, der nicht merkte, was er auf dem Arm hält, eher dämlich als komisch. Wo das Dämliche beginnt, endet der Witz. Hohlheit ist eher Anlaß zum Achselzucken als zum Lachen. Allenfalls bliebe im Hantieren mit der Puppe Klamauk, der allerdings auch sein Recht hat – nur eben nicht mit Komik gleichzusetzen ist. Der Einschätzung, daß Chaplin in dieser Szene erst in der Spannung zum Traurigen Komik erreicht und sich über Klamauk erhebt, widerspricht nicht der Umstand, daß er Slapstick verwendet, beim simulierten Schnüren der Senkel vor dem Bettler. Als Regisseur und als Schauspieler arbeitet Chaplin mit solchen gestisch-mimischen Momenten, wie ein Maler mit Farben und Linien arbeitet. Komisch wird erst die Sequenz, bei aller Knappheit und Schnelligkeit, so wie im Fall des Bildes ausdrucksvoll zum Beispiel erst eine Figur ist.

22Auch ein anderer Einwand verfängt nicht: Zwar bliebe der Tramp der Tramp, ob er nun eine Puppe (¶ 21) oder ein Kind (¶ 20) auf dem Arm hat; allein schon die Rolle weist halbwegs komische Züge auf: der Snobismus eines Stadtstreichers, das Zugleich von Anspruch auf Eleganz und manifester Schäbigkeit. Doch das berührt nicht das Besondere dieser Szene. Wie Chaplin wußte, bedarf auch das Komische einer Fallhöhe, und auf solche bringt es schiere Blödheit nicht; sie bleibt unten. Auf das Erreichen der Fallhöhe muß allerdings noch der Fall folgen – dann kommt es darauf an, was für ein Fall das ist. Im besonderen Fall der Findlingsszene aus The Kid stellt sich die Fallhöhe aus deren traurigem Problem – Wie werde ich einen Menschen los? – her; das ist weder typisch noch repräsentativ, noch geeignet als Basis für Verallgemeinerungen. Zwar verlangt Komik, wie Tragik und Trauer, ein Maß an Substanz (¶ 6). Um Substanz zu haben, bedarf das Komische nicht des Traurigen, und fast immer kommt es ohne dieses aus. Aber ob sie nun sehr selten sind oder nicht: Konstellationen wie die der Findlingsszene aus The Kid kommen vor. Es gibt Traurigkomisches in dem Sinne, daß das Traurige und das Komische einander bedingen.

23N.s Malheur, das hypothetische Beispiel für Tragikomik (¶ 2), war zwar geeignet, Nachdenken über diese zu provozieren; die Charakterisierung der Miniatur Tschechows als ›tragikomisch‹ ließ sich jedoch nicht halten (¶ 19). N.s Schicksal ist traurig und komisch zugleich. In der klassischen Antike, die ›tragisch‹ und ›komisch‹ als Begriffe prägte, fehlen Beispiele für solches Traurigkomische; es taucht erst später auf, etwa – nicht durchgehend zwar, aber episodisch – im Roman Der goldene Esel des Apuleius, eines Autors aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.27 Literarische Mode wird das Traurigkomische nicht vor der europäischen Neuzeit. Als die Theoretiker der Renaissance nach einem durch antike Herkunft geadelten Wort dafür suchten, stießen sie bei Plautus, dem römischen Komödienautor des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr., auf das hapax legomenon »tragicocomoedia«.28 Zwar war es keineswegs Trauriges, das im Prolog des Amphitruo zur Komik gefügt werden sollte; doch soweit hier ein Mißverständnis ins Spiel kam, wurde es produktiv. Zusammengezogen zu »tragicomoedia« beginnt die Karriere von Wort und Sache im 16. Jahrhundert und dauert bis heute an. Der »tragical mirth«,29 den Shakespeare im Schlußakt von A Midsummer Night’s Dream (1595) im Kontrast zwischen dem Inhalt von Pyramus and Thisbe und dem Spiel der Handwerker diesen unbeabsichtigt unterlaufen läßt,30 avancierte damals gerade zu einer dem Publikum willkommenen poetischen Absicht. Im Zuge seiner Karriere hat das Traurigkomische der Neuzeit, das sich tragikomisch nennt, allerlei Varietäten ausgebildet. Traurigkeit ist eine Stimmung, Trauer eine Emotion; Tragik, auch wenn sie auf Stimmungen trifft und Emotionen bewirkt, kann weder das eine noch das andere sein. Die Spielarten des Traurigkomischen haben rigorosere Unterfangen, die direkten Gegensätze, Tragik und Komik, auf einander zu beziehen, verdeckt. In letzteren wird die Sache zweifach zum Äußersten getrieben; dann gilt: Die Extreme berühren sich. Den Spuren dieser radikaleren Poetik gilt es nachzugehen.

1Čechov, Tagebücher Notizbücher, 141.

2Zur Unterscheidung zwischen Unrecht und Unglück vgl. Shklar, Faces of Injustice, 5, 51–82.

3Was ein Erzähler, dem es auf Aktion ankommt, beiseite schieben würde, macht Tschechow gerade zum Angelpunkt; vgl. zum Kontrast Thackeray: »How Miss Sharp lay awake, thinking, Will he come or not to-morrow? need not be told here.« (Vanity Fair, 44)

4Locus classicus: Kant, Kritik der Urteilskraft A 222 = B 225, 273.

5Woolf, ›Professions for Women‹, 285.

6Bunin, Čechov, 13.

7Vgl. aber Kap. ›Dionysos’ Duplicitas‹, ¶¶ 19–20.

8Vgl. Kap. ›Sterben vor Lachen‹. Wäre sie nichts als die Keilerei zweier Bettler um einen Ziegenmagen, dann bliebe die Iros-Episode Klamauk.

9Besser gesagt: seiner Dialogfigur Vivian, in ›The Decay of Lying‹, 32: »Life imitates art far more than Art imitates life

10Smith, Theory of Moral Sentiments, 35–36.

11Wordsworth, ›The Tables Turned‹, 48.

12Vgl. Matt, Schicksal der Phantasie, 10, sowie Gardner, The Business of Criticism, passim, bes. 12–13, 62.

13Lukács, ›Zur Soziologie des modernen Dramas‹, 683. Als er lebensphilosophisch statt geschichtsphilosophisch dachte, konnte Lukács, jedenfalls durch die persona einer seiner Dialogfiguren, noch die Tragikomik im Tristram Shandy bewundern, s. ›Reichtum, Chaos und Form‹, 315.

14Genette, Introduction à l’architexte, 24. Zur Unterscheidung von Modus und Genre vgl. a. Knox, ›Euripidean Comedy‹.

15Vgl. Baker, The Aesthetics of Clarity and Confusion, 63–96.

16Original: Fliegende Blätter 97 (1892), Nr. 2465, 147.

17Hill, ›My wife and my mother-in-law‹.

18Lecoq, Théâtre du Geste.

19Bergson, Le rire, 4: »Le comique exige donc enfin, pour produire tout son effet, quelque chose comme une anesthésie momentanée du coeur. Il s’adresse à l’intelligence pure.« Vom ersten Satz zum zweiten führt ein Sprung, kein Schritt. Wilhelm Buschs Hans Huckebein manifestiert vollkommene Kaltblütigkeit; eine Sache der reinen Intelligenz ist seine Lektüre hingegen nicht.

20Walpole, ›To Countess Ossory, 16 August 1776‹, 231. Von diesem Gedanken her – den Satz kannte er wohl nicht – hat Schiller eine Poetik der Tragödie und Komödie entworfen, vgl. ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹, 724–726.

21Spinoza, Tractatus politicus 1.4, 52.

22»Einfühlung« benutzte Brecht lediglich als Kontrastfolie zur ihn positiv interessierenden »Verfremdung«; je nachdem, was er der Verfremdung positiv nachsagen wollte, ändern sich seine Charakterisierungen der Einfühlung.

23Brecht, ›Der Messingkauf‹, 566–567.

24Brecht, ›Gedichte aus dem Messingkauf‹, 761.

25›An Maria Lilina, 15. September 1903‹, 166.

26Polgar, ›Chaplin‹, 378.

27Apuleius, Metamorphoses; zu denken ist insbesondere an das Märchen von Amor und Psyche (159–239) und die Romanze von Charite und Tlepolemus (268–311). Vgl. May, ›Roman Comedy in the Second Sophistic‹, 763.

28Plautus, Amphitruo, 59.

29Shakespeare, Midsummer Night’s Dream, 5.1.57.

30Shakespeare, Midsummer Night’s Dream, 5.1.66–70: »And tragical, my noble lord, it is; / For Pyramus therein doth kill himself: / Which when I saw rehears’d, I must confess, / Made mine eyes water; but more merry tears / The passion of loud laughter never shed.«

Mit Entsetzen Scherz

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