Читать книгу Pappelallee - Andreas H. Apelt - Страница 13
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ОглавлениеNein, es geht nicht aus dem Kopf. Es bleibt, als hätte es jemand eingepflanzt wie einen Baum, der größer und größer wird und Wurzeln schlägt. Kopfwurzeln.
Ottmar Graustock ist ans Fenster getreten und schaut in den grauen Vormittagshimmel. Dabei ist es Mitte Juni. Und da ist es wieder da, dieses Bild, das sich jetzt mit Leben füllt und einem Gefühl, das man Heimat nennt. Mit diesem einfachen altmodischen Wort, Heimat. Und schon sieht er das Wasserschloss mit seinem verschlammten Wassergraben, den Lindenplatz mit dem Verwalterhaus, das ein Hirschgeweih ziert, die alte Brauerei, den kleinen Markt …
Drehna, flüstert Graustock und er flüstert es so geheimnisvoll als wäre es ein Zauberwort. Dabei denkt er gar nicht an den Zauber, sondern an das, was er zurückgelassen hat in diesem Dorf bei Luckau, wo der Vater eine Pfarrstelle bekleidet. Und die Welt, so klein sie auch ist, irgendwie heil scheint. Wäre da nicht dieser Tagebau, der sich um Drehna frisst und so manches Dorf der Umgebung dem Untergang weiht: Presenchen, Stiebsdorf, Wanninchen, Gliechow, Pademagk … Die Aufzählung würde kein Ende finden. Und es geht weiter, Schlabendorf und Teile von Zinnitz sollen folgen. Einfach so. Der Teufel, heißt es, hat die Kohle unter die Dörfer gelegt. Ja, der Teufel war es. Wer denn sonst?
Er hat die Menschen vertrieben, weil auch sie keine Heimat haben dürfen. Und dabei ihre Seelen gebrochen.
Aber Drehna steht wie ein Fels in der Brandung oder besser wie ein Stück Leben in einer unwirklichen Mondlandschaft. Diese gehört den Kettensägen, den Baggern und Kohlezügen. Vielleicht hängt deshalb Graustocks Herz umso mehr an diesem Ort, Drehna, den Fels, den Gott ins Herz schließen sollte. Schließlich vereint er alles: Familie und Geschichte, Heimat und Erinnerung und vor allem Hoffnung. Eben ein vertrauter Klang, der in den Ohren liegt, egal wo man ist. Schwer und wehmütig.
Und damit ist dieses Drehna, hundert Kilometer südlich Berlins, unweit der Autobahn nach Dresden, ein magischer Ort.
Graustock schüttelt den Kopf. Seltsam, denkt er, dieses Heimatgefühl trägt man an den Füßen in jedes neue Haus. Und so sehr sich die Menschen auch Mühe geben, es von den Füßen abzustreifen, es bleibt und wird uns begleiten bis in den Tod.
Heimat, so denkt Graustock weiter, ist eben doch eine Erinnerung. Und eine Erinnerung schmerzt, weil sie die Sehnsucht nach einem Frieden gebiert.
Wie wacklig dieser Frieden auch in Drehna ist, hat Graustock selbst erfahren. Da ist die alte Noack, die einst in Presenchen lebte, einem der vom Erdboden verschwundenen Orte. Und diese alte Frau ist es, die jetzt die Grabsteine der verstorbenen Presenchener in ihrem Drehnaer Garten aufstellt. Und das nur, weil sie ihre Geschichte und die Geschichte der Presenchener vor dem Vergessen retten will. Nicht ohne Probleme, wie sich denken lässt. Denn da sind die argwöhnischen Behörden und die Vorschriften. Wo denken Sie hin, Frau Noack! Ein Garten ist doch kein Friedhof. Sich gegen den Fortschritt zu stemmen mit diesem Starrsinn! Der Sozialismus wird auch mit solchen wie Ihnen fertig!
Und da sind die Kloses, vertriebene Ostpreußen, die noch immer an der Heimat hängen und die ihre eigene Geschichte einholt. Spätestens dann, wenn Kloses Frau heulend und schreiend im Keller des Bauernhauses verschwindet, weil sie glaubt, dass die Russen sie holen. Erst nach Tagen taucht sie wieder auf. Es sei denn der Klose, der ein Bein in Russland gelassen hat, findet vorher für seine Frau einen Platz in Teupitz. Dort, wo die Irrenanstalt ist.
Und begonnen hat das alles mit der alten Beckmann. Ihr war der Ottmar Graustock zuerst auf der Spur. Denn die Beckmann hatte eine eigene Geschichte. Eine Geschichte des Ertragens und Erduldens. Eine gebrochene Frau, die sich schließlich zu wehren wusste und das letzte Presenchener Gehöft wie eine Festung gegen die anrückenden Tagebaumaschinen verteidigte. Ohne Wasser und Strom hielt sie über Wochen aus. Bis man sie abholte und dem alten Backsteinhaus mit Sprengstoff den Garaus machte. Da war sie schon über achtzig. Seitdem wartet sie an das Bett gefesselt im Luckauer Altersheim auf den Tod. Auch das kann Leben sein.
Nein, auch dieser heimische Frieden kann trügen, trotz aller Vertrautheit. Umso mehr will Graustock bei den Menschen sein. Ihnen fühlt er sich verbunden. Und wenn es möglich ist, dann will er nach dem Berliner Studium dort in diesem Drehna eine Pfarrstelle antreten. In diesem von Gott noch nicht verlassenen Ort.
Vielleicht, denkt er jetzt, ist es Zeit, einen Brief an die alte Noack zu schreiben. Schon um zu zeigen, dass er die mutige Frau mit ihrem kleinen Friedhof in der fernen Hauptstadt nicht vergessen hat. Nein, er vergisst sie nicht, sie nicht und auch die anderen nicht. Drehna soll leben, wenigstens in seinen Gedanken.
Graustock öffnet das Fenster und lehnt sich hinaus. Der Wind kommt sacht vom grauen Junihimmel. Dann schleicht er auf der Kopfsteinpflasterstraße zwischen den Häuserblocks entlang durch den Pappelkiez. Er streift die großen Ahornbäume hinter der Gethsemanekirche und legt sich auf das mächtige Kirchendach. Dort bleibt er nicht lange, erhebt sich und kommt hinüber zu Graustocks Fenster im dritten Stock. Dabei flüstert er einige Worte, richtige Windworte, die nicht jeder versteht. Nur Graustock, denn seine Stirn legt sich über der runden Nickelbrille in tiefe Falten.