Читать книгу Pappelallee - Andreas H. Apelt - Страница 14
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ОглавлениеAus der Ferne rauscht ein vertrauter Ton heran. Wie auf tausend kleinen mechanischen Füßen rasselt er durch das Haus. Man kann nicht ausmachen, ob er aus einem der vielen Zimmer kommt, die sich links und rechts an die langen, frisch gebohnerten Gänge reihen. Vielleicht kommt er auch gleichzeitig aus allen Zimmern, denn die Zimmer sind nicht zu unterscheiden. Aber sie haben Nummern, lange dreistellige Nummern.
Schreibmaschinen. Das Gerassel von kleinen mechanischen Füßchen, die die Buchstaben tragen. Hebel, die sie wie Hämmer ins Papier schlagen. Papier, das sich um eine Rolle dreht. Und das alles, mal schneller, mal langsamer, mal lauter, mal leiser.
In den langen leeren Gängen der Volkspolizeiinspektion, das noch immer wie ein Altersheim wirkt, aus dem gerade die Juden deportiert wurden, hallen die Schrittchen. Buchstabenschrittchen. Sie sammeln sich und kommen die Treppe hinauf. Bis in den zweiten Stock. Wie Ameisen, in langen schwarzen Strömen, Buchstabenströmen. Auf schwarzen farbverschmierten Lettern eilen sie durch das Haus. Und keiner stellt sich ihnen entgegen. Denn sie tragen die Schuld.
Hans Hülsmann erwacht schweißgebadet. Noch ganz vom Traum benommen, richtet er sich auf. Musik? Er lauscht, aber sein Zimmer liegt ruhig. Nur ein blasses gelbes Licht aus einer der Straßenlaternen erhellt den Raum. So erhebt er sich. Langsam tastet er sich am Tisch, dem großen Ledersessel, Bücherstapeln und dem Klavier voran zum Fenster. Das gewaltige Kirchenschiff der Gethsemanekirche füllt schwarz den Rahmen. Er öffnet das Fenster und schaut hinaus in die Nacht. Eine angenehme Kühle empfängt ihn. Die Straße liegt leer und verlassen.
Zurück am Schreibtisch schaltet er die kleine Lampe an, die auf einem Bücherstapel steht und schaut auf die Uhr. Es ist kurz vor drei. Vielleicht feiern Frenzels schon wieder, denkt er und geht in den Flur. Manchmal bringt der halbwüchsige Sohn mit dem Irokesenschnitt auch seine Kumpels mit. Aber nur wenn die Eltern nicht da sind. Dann erschüttert eine ohrenbetäubende Punkmusik das alte Mietshaus: Ich schaff es nicht mehr, klar zu denken, mein Kopf ist leer, mein Herz ist stumm. Oder: Komm gib mir deine Hand, wir wollen zusammen verrecken.
Getschmar holt dann immer die Polizei, aber das hilft auch nicht. Nach drei Wochen sind sie wieder da und Frenzels haben den Ärger. Allein schon die Vorsprache beim Direktor im Lehrbetrieb. Ihr Sohn, schauen Sie doch nur, wie der aussieht. Wie kann man sich nur so abseits von unserer Gesellschaft stellen! Eine Schande für das ganze sozialistische Kollektiv ist das! Und so fort.
Aber was wollen sie machen?
Getschmar würde schon was einfallen. Mit der Jugend heute kann es ja so nicht weitergehen. Hat doch selbst einen Sohn. Etwas älter zwar, aber ganz ein Vorbild. Nationale Volksarmee, Marineoffizier in Rostock, um genau zu sein. Und das seit zwölf Jahren. Der weiß, was er will, der Junge! Was sonst, bei dem Vater. Die Mutter war ja früh gegangen. Rechtzeitig, sagt Getschmar, so hatte er zum Glück die Verantwortung. Zucht und Ordnung, um es klar auszudrücken! Das Ergebnis kann sich sehen lassen, jedenfalls für Getschmar. Der Westen mit seinen ideologischen Verführungen lässt den Jungen kalt. Dekadentes Zeug eben. Natürlich auch die Musik! Wo das nur mal enden soll.
Für den jungen Frenzel endet es erst einmal im Internat. Berufsausbildung heißt es. Weit weg von Berlin, damit er auf vernünftige Gedanken kommt. Die Alternative wäre der Knast. Das hat der Getschmar gesagt. Und der hat ja seine Verbindungen.
Eigentlich, so denkt jetzt auch Hülsmann, kann die Musik dann kaum von Frenzels kommen. Aber woher denn sonst? Hülsmann legt das Ohr an die Wohnungstür, um besser zu hören. Wirklich, von Frenzels ist nichts zu vernehmen. Dafür quietscht irgendwo eine Wohnungstür. Vielleicht beim alten Löffler im Erdgeschoss, der sich um seinen Nachschub kümmern muss. Korn, wie die leeren Flaschen im Hausflur immer verraten. Oder der Frau Jankowitz, die gegenüber von Löffler wohnt und die er noch nie gesehen hat. Die alte Frau kann unmöglich im Haus unterwegs sein, denkt er. Noch dazu wo das Treppenlicht erloschen ist. Sonst würde es einen hellen Streifen um die Wohnungstür legen. Auch Hexen müssen schlafen. Vor allem wenn sie so irdisch sind wie Frau Jankowitz. Lächelnd wendet er sich ab.
Hülsmann schaltet das Licht aus und legt sich ins Bett. Doch schlafen kann er nicht. Vielleicht weil er an seinen Freund Ottmar Graustock denkt. Ausgerechnet an ihn, den er seit Tagen nicht mehr treffen will. Viel lieber trug er den Zaubermantel und versank in seinem alten Ledersessel, unsichtbar. Auch auf dem Klavier spielte er seitdem nicht mehr, nein, er wollte auch nicht gehört werden. Es sollte ihn nicht geben. Und das nur, weil er keine Erklärung für seinen Aufenthalt bei der Polizei hat. Was konnte er seinem Freund Graustock sagen? Was?
Vorladung, du weißt doch. Klärung eines Sachverhaltes. Und jetzt hab ich ein Problem, denn ich darf Berlin nicht mehr verlassen.
Aber wir wollten doch zu mir nach Drehna fahren. Hattest du dich nicht auch gefreut?
Ich weiß, ins Pfarrhaus deines Vaters. Auch Katharina sollte mitkommen. Aber es geht nicht.
Es geht nicht? Einfach so?
Also gut, das hört sich nicht besonders glaubhaft an.
Dann lass uns doch mal nachdenken.
Aber ich will nicht nachdenken!
Nein, auf dieses Gespräch hatte Hülsmann keine Lust. Vielleicht in zwei, drei Tagen, aber jetzt noch nicht.
Aber nicht nur Ottmar Graustock, der Pfarrersohn aus Drehna in der Niederlausitz, der zu einem Theologiestudium nach Berlin gekommen ist, geht ihm durch den Kopf. Er muss auch an Friedensthaler, seinen Lehrer, denken und die Buchstaben, Friedensthalers Buchstaben. Rasselten sie nicht ebenso durch das Haus, damals als er noch ein Kind war und nachts nicht schlafen konnte. Das war in Templin, einer Kleinstadt der Uckermark, wo er sich mit zwei Schwestern und der Mutter eine kleine Wohnung in einem Mietshaus teilte. Und natürlich drei weiteren Mietparteien.
Den Vater kennt Hülsmann nur vom Foto. Das steht noch immer auf der Vitrine in der Templiner Wohnstube. Ein Mann in einem dunklen Anzug, schmales Gesicht, große dunkle Augen, schwarzes, nach hinten gekämmtes Haar. Der Sohn prägte sich das Gesicht genau ein, denn er wollte ihn erkennen, falls er ihm einmal über den Weg laufen sollte.
Doch der Vater lief seinem Sohn nicht über den Weg. Dabei tragen sie beide denselben Vornamen. Hans Junior glich äußerlich sogar dem Vater. Das behauptete die Mutter, die ihren Mann seit Juli 1961 nicht mehr gesehen hatte. Damals war er über Westberlin nach Hannover gegangen. Abgehauen, sagten die Leute. Republikflucht, sagte der Schuldirektor. Dabei war es so einfach. Hülsmann Senior blieb einfach in der S-Bahn sitzen, die zum Bahnhof Zoo fuhr. Er sollte den Neuanfang der Familie im Westen vorbereiten. Aus dem Neuanfang wurde nichts. Der Mauerbau verhinderte, dass die Familie folgte. Und der Vater kam nicht zurück. Aus Angst oder weil er eine andere Frau gefunden hatte. Der letzte Brief vom 3. Oktober 1961 wurde wie eine Reliquie verehrt. Auch er liegt in der Vitrine. Alles wird gut, steht darin. Doch nichts geschah. Gar nichts. Funkstille.
Damals jedenfalls hörte Hans Hülsmann im Templiner Mietshaus dieses Rasseln, dieses ferne Schreibmaschinenrasseln. Wie kleine Füße gingen die Anschläge durchs Haus. Mal lauter, mal leiser. Hab keine Angst, hatte die Mutter gesagt und ihm die Bettdecke bis an das Kinn gezogen: Der neue Nachbar, er schreibt viel.
Was nur, dachte der kleine schwarz gelockte Hans Hülsmann, kann man nachts schreiben und drehte sich auf die andere Seite. Was nur? Auf der anderen Seite war die kalte weiße Wand. Aber auch sie gab keine Ruhe, denn die kurzen mechanischen Schrittchen angelten sich an ihr empor. Buchstabe für Buchstabe. Höher und höher.
Herr Friedensthaler schreibt nur, versuchte sich der Junge zu beruhigen.
So drehte er sich erneut, als könnte er dadurch den Schrittchen entfliehen. Aber nein, auch das half nichts. Die Schritte blieben und marschierten nun geschlossen durch das nächtliche Kinderzimmer. Mal auf, mal ab, aber fast immer um den kleinen Tisch, auf dem die Schulsachen lagen. Auch der helle Mond, der durchs Fenster trat, vermochte die Schritte nicht zu sehen, nur zu hören.
Da setzte sich das Kind ans Fenster und starrte auf die leere Straße. Wenn alle Straßenlampen funktionierten, gab es an fünf Stellen gelbe blasse Lichtkegel. Dazwischen kämpfte der Mond mit schwarzen Schatten.
So saß er manchmal die halbe Nacht und beobachtete das Schauspiel.
Wenn ihn die Mutter am nächsten Tag weckte, war er müde und zerschlagen. Was machst du nur immer?, fragte sie, während sich Hans am Küchentisch ein Marmeladenbrot hinunterquälte. Du musst einfach eher ins Bett.
Hans nickte.
Was macht der neue Nachbar?, fragte er dann.
Was schon, er ist Lehrer.
Lehrer?
Ja, Lehrer. Du wirst ihn bald erleben.
Aber was müssen Lehrer denn in der Nacht schreiben?
Die Mutter zuckte mit den Schultern. Musst ihn fragen, antwortete sie lachend. Frag ihn einfach.
Hans kaute behäbig weiter und starrte dabei auf das karierte Wachstuch. Dann nahm er einen so großen Schluck vom Malzkaffee mit dem schönen Namen Muckefuck, dass sich sein Gesicht verzerrte, und sprang auf.
Iss langsam, ermahnte die Mutter, doch da hatte Hans schon die Küche verlassen.
Friedensthaler war anders. Nicht nur äußerlich. Da wirkte er wie eine hagere hoch aufgeschossene Marionettenfigur. Aber er hing nicht an diesen Fäden, wie man sie von Marionetten kannte. Auch wenn es so aussah. Vor allem wenn er kerzengerade, als hätte er einen Stock verschluckt, durch das Klassenzimmer tänzelte. Sein graues Haar war in den Nacken gekämmt und entblößte ein nacktes spitzes Gesicht. Darin hing, als hätte sie keinen Halt, eine große Brille mit feinem Gestell.
Seine spitzen langen Finger berührten die Bücher, aus denen er vortrug, nur sacht. Vielleicht aus Angst, den Büchern wehzutun. Literatur ist eben zerbrechlich, sagte er einmal. Und auch seine Stimme tat den Büchern nicht weh. Weder dem Goethe, noch dem Hauptmann, nicht Brecht und erst recht nicht dem Rilke. Aber am liebsten ist die Stimme Heine gefolgt. Zeile für Zeile. Diese Stimme schwebte durch den Klassenraum. Und doch schlug sie unablässig gegen die Wandzeitung oder den Generalsekretär. Aber nur weil sie den Raum nach vorn und hinten begrenzten. Die Wandzeitung war rot. Oder besser das Tuch, auf dem Fotos und Zeitungsartikel klebten. Manchmal war auch die Weltkarte rot. Jedenfalls große Teile davon, die den Vormarsch des Sozialismus anzeigten. Schließlich, so wusste jeder der Schüler, befand man sich in der Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Und dann sollte auch der Kommunismus nicht weit sein.
Die Überschrift der Wandzeitung war fast immer schwarz, manchmal auch golden. So zum 7. Oktober, dem Tag der Republik, zum Tag der Oktoberrevolution oder dem Tag der NVA. Der Generalsekretär war grau. Das lag an dem Schwarz-Weiß-Bild. Er hatte ein ernstes Gesicht, obwohl der graue Spitzbart ihn freundlich machte. Aber das sagte keiner.
Nicht einmal Friedensthaler, obwohl er doch Lehrer war.
Freidensthalers Stimme lag sanft und warm im Raum. Es schien, als könne sie nie im Irdischen landen. Sie stand über den Köpfen der Schüler. Es lag etwas Fremdes und gleichsam Erhabenes in dieser Stimme, das sie so anziehend machte. Es war eine aus Büchern geliehene Sprache, in einem Tonfall, der jeden Gegenstand und jeden Vorgang schmückte. Es war eine vertonte Sprache, angereichert mit klangvollen Füllwörtern.
Nun Kinder, ich gestatte mir schon jetzt auf den Zustand höchster Entzückung zu verweisen … oder ich hoffe sehr, dass ihr zu schätzen wisst, aus welch misslicher Lage … Ausgerechnet diese Friedensthaler-Sprache, für die man manchmal eine Übersetzung brauchte, war umzingelt von einer kurzatmigen holprigen Sprache der Uckermark, in der die Leute grundsätzlich die Wortenden verschluckten.
Hans Hülsmann hatte das Gefühl, dass in dieser geheimnisvollen und fremden Welt Friedensthalers die großen Antworten auf alle ungeklärten Fragen des Universums schlummerten. Und Fragen gab es genug.
Ohnehin war das Leben Friedensthalers eine große Frage und damit geheimnisvoll. Schon weil er des Nachts unendlich lange Seiten mit Tausenden Anschlägen füllte und Hans nicht schlafen ließ. Manchmal war es auch ein Auto, eigentlich dessen zuschlagende Türen, die den Jungen weckten. Das Auto hielt vor dem Haus. Dann stiegen zwei Männer aus. Die schauten sich erst einmal um, als verfolgte sie jemand. Aber da war niemand, überhaupt niemand.
Irgendwann verließen sie wieder das Haus. Dabei blickten sie sich erneut um, bestiegen den Wagen und hinterließen auf der menschenleeren Straße nur das Bellen einiger herumstreunender Hunde.
Nach wenigen Minuten der Stille setzte das hektische Dahineilen Tausender metallener Füßchen wieder ein. Friedensthaler schrieb. Vielleicht, so dachte er jetzt, hatte Friedensthaler ihn damals mit dem Schreiben angesteckt. Vielleicht ist es doch wie eine Krankheit, immer etwas mitteilen zu wollen, weil all das, was man denkt, sich nicht im Kopf verschließen lässt. Aber kann man es in Sätzen festhalten?
Hans Hülsmann kann nicht schlafen. Quietschend geht erneut eine Tür. Er lauscht. Vielleicht schlafen Hexen doch nicht, denkt er, erhebt sich und geht erneut zum Fenster. Doch die Straße liegt noch immer ruhig und verlassen. Nur manchmal huscht ein Lichtschein von der Stargarder Straße her durch den kleinen Park, der die Gethsemanekirche umfasst.