Читать книгу Der Sound der Provence - Andreas Heineke - Страница 10
8.
ОглавлениеSeit einer halben Stunde hat Benjamin die Autobahn verlassen. Er folgt der N 100 und das, was er inzwischen im Internet über die Provence recherchiert hat, wie malerisch sie sein soll, die Hügel, auf denen der Lavendel blüht, die einsamen Landschaften und all die Schönheit, kann er beim besten Willen nicht entdecken. Rechts und links der Straße ist viel brachliegendes Land und dahinter liegen die Berge der Provence. Na gut, die sehen zwar schön aus, aber es sind letztendlich nur Berge und davon gibt es in Deutschland auch genug und die sind dazu noch grün, während diese hier einfach wie große Steine aussehen. Wie ein einst behaarter Kopf, der nun in die Jahre kommt und immer lichter wird, zeigen die Steine eine Menge kahle Stellen, die dazu auch noch fast weiß sind. Wie ein Greis sehen die aus.
Ein Blick in das Untermenü seines Navigationssystems verrät ihm, dass es sich um ein Gebiet handelt, das man Luberon nennt. „Aha“, sagt Benjamin laut zu sich. „Luberon“ und dabei versucht er das Wort möglichst französisch auszusprechen.
Noch 14 Kilometer, dann muss er die Landstraße verlassen. Die Sonne scheint jetzt durch das Seitenfenster auf der Fahrerseite und kitzelt Benjamins weiße Haut auf den Armen. „Endlich mal ein bisschen Sonne“, denkt Benjamin.
„Folgen sie der Straße für sieben Kilometer”, sagt die weibliche Stimme aus dem Navigationssystem. Benjamin schaltet das Radio an.
Er erkennt Patrick Bruel und dreht den Lautstärkeregler nach rechts. „Qui a le droit“ erklingt. Außer ihm scheint jetzt niemand mehr auf der Straße unterwegs zu sein. Die Natur verändert sich, die gerade grün werdenden Platanen sind verschwunden, die Landschaft wird noch felsiger und der einsetzende Frühling verursacht kleine grüne Explosionen zwischen den Felsen, die man von weitem nicht sehen konnte. Einige weiße Blüten geben der Landschaft etwas malerisches. Für Benjamin sehen sie einsam aus, doch von Einsamkeit hat er seit Jahren genug.
Ein Dorf auf einem Hügel taucht auf. Die Steine gelblich, die Dächer in zartem Rot. Jetzt geht es immer weiter den Berg hinauf. Da Benjamin nun in drei Minuten den Ort „Saignon“ erreicht haben wird, beginnt er sich das Panorama genauer anzuschauen. Es sieht aus, als würde der gesamte Gipfel ausschließlich aus dem Dorf bestehen. Vom Felsen ist kaum noch etwas zu sehen. Die Häuser drängen sich aneinander wie eine Herde verschreckter Tiere. Man kann sich geradezu vorstellen, wie die Ritter damals das Olivenöl heiß machten und es zur Verteidigung den Römern von oben auf den Kopf gegossen haben, wenn sie nahe genug rangekommen sind. „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“
Benjamin parkt das Auto auf einem kleinen Parkplatz, der zwischen der Kirche und dem Friedhof liegt. Er öffnet den Kofferraum und plötzlich fällt ihm wieder ein, dass er ja nichts darin hat. Also nimmt er nur seinen Rucksack, in dem sich ein Reiseführer befindet, ein paar Unterlagen, die er sich über die Bibliothek ausgedruckt hat, die Informationen, die er aus Wikipedia über George Lavelle zusammengesucht hat, eine kleine Digitalkamera, damit er Michael Reichert gleich ein Foto von George Lavelle mitbringen kann und ein altes Foto des Künstlers, das er den Mitarbeitern der Bibliothek zeigen kann und sonst noch allen, die hier so durch das Dorf laufen. Es wird ein Kinderspiel, jemanden wie ihn in so einem Kaff zu finden“, denkt Benjamin plötzlich gut gelaunt, „und dann kann ich zurück in die Zivilisation.“
Sollen sie doch seinen Koffer gleich da lassen, irgendwo zwischen Paris und Marseille. Es waren außer ein paar Klamotten ohnehin nur ein paar CDs drinnen, die er sich anhören musste. „Weitere, angehende Popstars, die es eh nicht schaffen werden“, sagt Benjamin zu sich selbst, fast verbittert, als er den Rucksack, an einem Riemen über die Schulter hängt, wie es nur die Großstädter tun, wenn sie Campingutensilien zum Modetrend erklärt haben. Eine kleine Gasse führt an der Kirche vorbei auf einen Dorfplatz. Die Fensterläden sind alle verschlossen, als würde hier niemand leben. Benjamin könnte es verstehen, wenn die Menschen mit einem Dorfkoller den Weg nach Paris gesucht haben. Vielleicht auch nach Marseille, wo die hübsche Frau hinter dem Gepäckermittlungsschalter bereits auf sie wartete. Er hätte sich die Telefonnummer geben lassen sollen.
Benjamin sieht einen kleinen Eckladen, der ebenfalls geschlossen ist und nach wenigen Schritten, vorbei an Mauern, die hier bereits seit Jahrhunderten ihrer Aufgabe nachkommen müssen, steht er neben einem weiteren Geschäft, das durch ein Schild über der Tür als Souvenirgeschäft ausgewiesen ist. „Wozu denn das?“ Nichts deutet darauf hin, dass sich hierher nur ein einziger Tourist verlaufen würde. Und wenn doch, Benjamin würde ganz bestimmt nicht dazugehören.
Der Dorfplatz ist klein und mit sehr alten Steinen gepflastert. Kopfsteinpflasterstraßen gibt es in Hamburg keine mehr, hier scheint es kein Teer zu geben. Ohnehin scheint es hier sehr wenig zu geben. Dafür eine Bibliothek und die befindet sich plötzlich direkt neben ihm. Ein kleines Schild verrät es ihm. Sie liegt über einem Torbogen, unter dem eine Treppe in das Gebäude führt.
„Danke, Navigationssystem, danke“, sagt Benjamin. „Vielleicht kann ich das direkt erledigen und brauche hier nicht mal im Hotel einchecken”, denkt er in diesem kurzen euphorischen Moment, der aber ein jähes Ende findet, als er vor der verschlossenen Tür steht. Nichts deutet darauf hin, wann sie öffnet und ob sie überhaupt wieder öffnet. Benjamin geht die Treppe wieder hinunter und steht jetzt auf dem Dorfplatz. Ein uralter verzierter Brunnen spuckt Wasser in sein Becken. Ein großer Baum bietet einigen wenigen Tischen auf dem Dorfplatz Schatten und dahinter befindet sich die „Auberge du Presbytère“. Das jedenfalls verraten ihm verzierte Buchstaben über der Eingangstür. Nach einem Hotel sieht es nicht aus, eher nach einem Restaurant und auch das scheint geschlossen zu sein. Er drückt die Klinke herunter und vollkommen unerwartet geht die Tür auf.
Ein winziger Rezeptionsbereich mit einigen wenigen Schlüsseln an den Haken verrät ihm zumindest, dass es sich um ein Hotel handeln könnte. Niemand steht an der Rezeption. Benjamin bleibt mitten in der Halle stehen und wartet. Er wartet lange. Dann ruft er. „Hallo.“ Nichts.
„Hello.“ Wieder nichts.
„Bonjour.“ Als hätte Benjamin ein Zauberwort gesprochen, geht plötzlich eine Tür hinter der Rezeption auf, die er bislang noch gar nicht wahrgenommen hatte. Eine elegante Dame steht vor ihm. Sie wird etwa 50 sein. Ihre schwarzen Haare liegen an der rechten Seite platt am Ohr. Sie sieht verschlafen aus, als sie zur Uhr guckt und schließlich Benjamin anguckt.
„Bonjour“, den Rest versteht er nicht mehr. Es sind viele Worte, die alle ineinander übergehen. Am Schluss lächelt sie, und während sie mit den Schultern zuckt, sagt sie „La Sieste Monsieur, Sieste.“
Benjamin macht nicht einmal den Versuch, die Worte zu verstehen. Stattdessen kramt er aus seinem Rucksack eine ausgedruckte E-Mail hervor, auf der eine Buchungsnummer steht, die er der Dame nun über die Rezeption reicht.
„Très bien“, sagt sie und schaut Benjamin für einen kurzen Moment wie eine Lehrerin an, die gerade einem ihrer Schüler etwas beigebracht hat.
Dann erklingt der Ton, den Benjamin jeden Morgen hört, wenn er den Computer im Büro hochfährt. Unsichtbar für ihn scheint sie das Windows Betriebssystem zu starten, während sie wieder entschuldigend mit den Schultern zuckt und ihn fast verschmitzt angrinst.
„Flirtet die etwa auch mit mir?“ denkt er sich für einen kurzen Moment des Glücks, doch er verwirft den Gedanken sofort wieder, als sie auf den Bildschirm schaut und mit einem nicht besonders ausgeklügelten System mit zwei Fingern eine ewig lange Zahl eintippt.
„Merde“, sagt sie und der Computer gibt einen kurzen Piepton von sich, der sich in der gleichen Tonhöhe wie sein Tinnitus bewegt.
Dann verschwindet sie einfach ohne etwas zu sagen. „Hätte ja eh nichts gebracht, aber sie könnte ja wenigstens noch mal so lächeln“, denkt Benjamin sich, als er nun wieder etwas verloren in der Halle steht.
„Das dauert ja hier ewig“, sagt er leise zu sich und schaut auf die Armbanduhr, die ihm verrät, dass es schon kurz vor vier Uhr ist. Wieder vergehen mehrere Minuten, bis Benjamin schließlich eine Männerstimme hört, die hinter der Tür auf die Madame einzusprechen scheint. Französischer kann ein Mensch nicht aussehen.
„C’est Monsieur Haullaut“ sagt die Dame, als sie auf ihn deutet.
Monsieur Haullaut trägt tatsächlich eine Baskenmütze, wie in einem Käsespot, ist unrasiert und das Haar, das unter der Mütze hervorguckt, ist schwarz und an einigen Stellen mit grauen Haaren durchsetzt. Das sieht nicht mehr nach einem Käsespot aus. Auf der Nase trägt er eine Brille, durch die er nur halb zu schauen scheint. Hemden wie das von Monsieur Haullaut hat Benjamin schon sauberer gesehen und die Hosenträger, die sich über den stattlichen Bauch ziehen, haben ihre beste Zeit seit Jahren hinter sich. Vielleicht sogar seit Jahrzehnten. In seinem Mundwinkel befindet sich eine Zigarre, die heruntergebrannt scheint und für einen Moment fragt sich Benjamin, wie das überhaupt möglich ist, denn sie brennt gar nicht. Erst als Monsieur Haullaut ihn für einen kurzen Moment anschaut und ihn nickend zur Kenntnis nimmt, nimmt Benjamin einen schweren Tabakgeruch wahr. Doch schon eine Sekunde später ist er sich nicht mehr sicher, ob der Geruch vielleicht aus seinem Mund kommt, der dunkelgelben Zähne beherbergt. Jetzt tippt er eine Zahl in den Computer, der sich längst wieder im Stand by Modus befinden müsste. Die freundliche Dame von eben scheint eine ausgebildete Sekretärin zu sein, wenn man ihr Zweifingersystem mit den gezielten Fingerschlägen des Monsieur Haullaut vergleicht. Sein Tippen wirkt eher so, als würde er einen schweren Holzpflock mit langsamen Schlägen in den Boden treiben wollen. Jetzt würde die Nummer auf dem Computerbildschirm nicht mehr nötig sein, denn es würde in wenigen Sekunden gar keinen Computer mehr geben. Abgehärtet von tagelangem Schlag auf die Tasten scheint er es aber durchzuhalten und die freundliche Madame, die mit Begeisterung zugeschaut hat, als hätte Monsieur Haullaut gerade einen Safe geknackt, fragt Benjamin schließlich, wie lange er bleiben möchte.
„Eine Woche“, sagt Benjamin und vergisst, dass ihn hier sicher niemand verstehen wird.
„Allemagne?“, fragt die Madame.
„Ja“, sagt Benjamin.
„Ich spreche Deutsch eine kleine bisschen“, sagt sie strahlend.
„Das wird es einfacher machen“, sagt Benjamin freundlich.
„Oui“, und dann widmet sie sich wieder dem Computer.
Der gesamte, sich anschließende Vorgang dauerte so lange, als hätte man eine ganze Reisegruppe auf 175 Zimmer verteilt. Nach weiteren Minuten strahlt die Madame Benjamin an und überreicht ihm schließlich den Schlüssel.
„Avec balcon“ sagt sie, als sie ihm den Weg in den zweiten Stock weist. Benjamin bedankt sich, stellt seinen Rucksack ab und tritt auf den winzigen Balkon, der ihm gerade noch voller Stolz präsentiert wurde. Sein Blick fällt genau auf die gegenüberliegende Bibliothek. Sie sieht noch genauso aus wie vor gefühlten zwei Stunden. Geschlossen. Links führt die enge Straße einen kleinen Hügel hinauf, raus aus dem Dorf. Rechts kann Benjamin auf den Dorfplatz gucken. Noch immer spuckt der Brunnen unermüdlich sein Wasser in sein gemauertes Becken. Es kommt aus drei Wasserspeiern, die unter einen antiken Sockel gemauert wurden und über dem zwei Figuren Rücken an Rücken das Dorf zu beobachten scheinen. Einen solchen Brunnen hat Benjamin noch nie gesehen. Er passt perfekt in das antike Bild des Dorfes. Wüsste er nicht, dass er gerade aus einem Auto mit Navigationssystem gestiegen ist, er würde glauben, er befände sich in einem vergangenen Jahrhundert. Erst die drei grünen Sonnenschirme verraten einen Hauch von Zivilisation. Selbst das steinerne Schild mit dem Wort „Bibliothèque“ sieht aus, als hätte es Napoleon selbst entworfen. Zwei kleine Stühle und ein winziger runder Bistrotisch laden dazu ein, sich auf den Balkon zu setzen. Benjamin nimmt Platz, schaut auf die Bibliothek und hofft, dass dieser üble Scherz hier bald sein Ende findet.