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„Und, wie findest du uns?“

Die Frage kommt von einem langhaarigen Mann, Mitte 30, der eine doppelhalsige Gitarre um die Schultern gehängt hat. Auf seinem schwarzen T-Shirt steht „Motörhead.“ Der Schriftzug ist dem einer amerikanischen Biermarke nachempfunden. Seinem weißen Bauch nach zu urteilen mag der Mann Bier, und wen stört es schon, dass der daraus erwachsene Bauch sich mühsam seinen Weg an die Luft erkämpfen möchte? Die Männer neben ihm sehen ähnlich aus. Alle scheinen sie Bier zu lieben, alle sitzen oder stehen bei ihren Instrumenten, die seit den Erfolgsjahren von Guns ‚n`Roses kein Bühnenlicht mehr erblickt haben. Stolz lehnt die riesige Gitarre mit dem Totenkopf am Bühnenrand. Die Haare tragen sie ausnahmslos lang und schwarz und der Bassist hat sogar seine Fingernägel passend dazu schwarz lackiert. „Eben so Marilyn Manson mäßig“.

Jetzt sind alle Augen auf Benjamin gerichtet, der nun dran ist, die Frage „wie findest du uns“ zu beantworten. In seinem Job als Talentscout einer Plattenfirma eine Frage, zu der es unendlich viele Antwortmöglichkeiten gibt, die am Ende aber alle das Gleiche sagen: „Üben, üben, üben“. Natürlich sagt weder Benjamin noch ein anderer seiner Kollegen, kurz „A&R Manager“ genannt, es so deutlich. Zwischen den Aussagen „Üben, üben üben“ und „Du bist schon fast ein Rockstar“ liegen unendlich viele Sätze, die es nun gilt, mit dem angemessenen Gesichtsausdruck zu formulieren. Noch immer liegt ein hoher Ton in der Luft und die bis zum Anschlag aufgerissenen Boxen geben einen lauten Brummton von sich. Benjamin ist sich nicht sicher, ob es sein sich ständig verschlimmernder Tinnitus ist oder nur der Klang eines bis zur Selbstaufgabe strapazierten Verstärkers, den er hört. Am liebsten würde er wie ein verschreckter Hund seinen Kopf schütteln, damit alles hier und jetzt aufhört und sich dann gemütlich auf irgendeine Decke legen und aus halb geschlossenen Augen diese merkwürdige Szenerie beobachten. Aber Benjamin ist kein Hund, sondern ein 29 jähriger Mann und der würde jetzt gerne eine Frau anrufen, nicht irgendeine, sondern seine Freundin und ihr sagen, dass es einen kleinen Moment später wird. Dass er eine Flasche Wein mitbringen würde, sich auf sie freue und noch mehr auf das gemeinsame Wochenende und dann würde er so einen Satz wie „Ich küsse Dich“ sagen und dann würde er lächeln und auf den roten Knopf auf seinem Handy drücken. Doch es gibt niemanden den er jetzt anrufen könnte und vor allem keine Freundin, denn Benjamin hat keine und deshalb braucht er auch auf keinen roten Handyknopf zu drücken. Eigentlich braucht er nicht mal ein Handy, denn wenn es klingelt sind es entweder Musiker wie diese hier, oder irgendein Kollege, der ihn fragt, wann er denn endlich im Büro sein wird oder ob er denn tatsächlich um 21 Uhr schon Feierabend gemacht hat, in schweren Zeiten wie diesen.

Gerne hätte er jetzt gesagt, „spielt doch mal etwas schönes, irgendwas mit Melodie, irgendwas bei dem man Instrumente erkennt oder zumindest erahnen kann.“ Doch Benjamin wählt andere Worte:

„Die letzte Nummer, dieses „10 more beers before I go”, hat was.“

Es war der Moment, in dem er sich insgeheim Hilfe erhoffte. Viele Bands sind schon so gespannt und euphorisch, wenn ein Offizieller der Plattenfirma etwas andeutungsweise Positives über die Musik sagt, dass sie schnell ins Wort fallen. Danach ist es ein bisschen leichter, ihnen zu sagen, dass die große Zeit für sie noch kommen wird oder auch nicht. Die Zeit dieser Band wird niemals kommen, das wusste Benjamin bei allem Unverständnis für diesen Lärm, doch er wusste auch, dass es eine CD mit den gleichen Stücken auch bei seinen Konkurrenten Warner Music, Universal oder der EMI gibt. Auch dort gibt es einen Mann wie ihn und eine ähnliche Szenerie mit seinen Kollegen. Auch sie werden auf Wände starren, die aus soundtechnischen Gründen mit Eierkartons verziert sind und auf einem Stuhl vor der Bühne sitzen und diese Art der Musik über sich ergehen lassen. Sollen sie doch, alles kein Problem, nur wenn es einem seiner Kollegen gefällt und dieser Band tatsächlich einen Plattenvertrag anbieten würde, und noch schlimmer, wenn die Band dann auch noch erfolgreich werden sollte, dann hätte er, Benjamin, ein ernstes Problem. Es wäre in seiner Berufsgeschichte nicht das erste und nicht das größte, aber es wäre ein zusätzliches. In Benjamins Berufsumfeld nennt man das „Erfolgsdruck”, und von dem hat er seit gefühlten 15 Jahren eigentlich schon genug. War es möglich, dass diese 4 Minuten 50, mit einem Gitarrensolo von über einer Minute seinem Arbeitgeber „Phonostar Records“ tatsächlich zu Millionen verhelfen würde? Würden die Deutschen durch die Straßen ziehen und dabei „10 more beers before I go“ grölen? Bei dieser Betrachtungsweise kamen ihm Fußballstadien, das Oktoberfest und sogar der Kölner Karneval in den Sinn. Es wäre der erste Rockhit, der sogar am Ballermann gespielt werden würde. Man müsste ihn dafür allerdings anders aufnehmen. Die laute Gitarre müssten raus, der Schlagzeuger würde gegen einen Drumcomputer ersetzt. Bei diesem Stück würde sogar schon der schnelle Rhythmus einer Heimorgel reichen. Heimorgeln sind auch gerade wieder angesagt, alles was retro ist ist angesagt und cool.

Benjamin hat immer Schwierigkeiten cool von uncool zu unterscheiden. Er fragt sich warum Nierentische und grüne Mustertapeten „in“ sind?, warum Bert Kaempfert irgendwie cool ist?, warum man hinter einem bunt geschmückten Wagen hinterherlaufen soll und mit vor Freude in die Luft geschmissenen Armen ekstatisch „Fiesta Mexicana“ brüllen soll?, oder mit hunderten von Leuten irgendwo gemeinsam abchillt? Benjamin kann die Wörter retro, sexy und cool schon nicht mehr hören. Vielleicht sollte er diese Becksmen auch einfach als retro und sexy verkaufen. Ist der Typ mit den schwarzen Fingernägeln und den langen Haaren sexy, wenn er „10 more beers before I go“ ins Mikro brüllt?“

Eigentlich nicht. Er taucht nicht zu einer Titelstory in einem dieser hippen Musik Magazine, es reicht nicht mal zu einer Titelstory im Metalhammer und für die Bravo sieht er zu böse aus.

Benjamin sieht sich plötzlich mit einem ernsthaften Problem konfrontiert. Auch nicht das erste Mal. Er würde ihnen klar machen müssen, dass er den Song gerne hätte und ihn am liebsten jemandem wie DJ Ötzi geben würde, das würde schneller Geld in die leeren Kassen seiner Plattenfirma spülen. Jetzt, als er in die Gesichter der Band mit dem lustigen Namen „Becksmen“ guckt, hat er plötzlich Angst um seine Gesundheit, wenn er sie mit seinem ausgetüftelten Marketingplan konfrontieren würde. Er tut es nicht, zumindest nicht jetzt, in ihrem Terrain, mit den Eierkartons an den Wänden.

„Also Jungs, ich werde mir diese CD“, er hält müde den Aldi-Rohling in den Händen und winkt der Band damit aufmunternd zu „anhören und mir überlegen, wie man euch am besten platzieren könnte“.

Becksmen gucken sich ratlos an und versuchen zu begreifen, was Benjamin wohl mit der Vokabel „platzieren“ meinen könnte. Sie scheinen ratlos und Benjamin nutzt die Ratlosigkeit und guckt umständlich auf seine Uhr.

„Oh, schon nach elf.“

Er erhebt sich und geht die wenigen Schritte zu der selbstgebauten Bühne. Anstatt ihnen die Hand zu geben, klatschen sie sich in einer komplizierten Reihenfolge gegenseitig in Fäuste, Finger und Hände. Wie Sportler, kurz nach einem Homerun, auch das soll cool sein.

Benjamin tritt auf die nächtliche Straße von Hamburg. Es sind etwa acht Grad, der Regen hat noch immer nicht aufgehört. Unaufhörlich prasselt er auf die Dächer und die Straße. Die wenigen Autos haben ihre Scheibenwischer auf die maximale Geschwindigkeit gestellt. Noch immer pfeift es in Benjamins Ohren, oder ist das der stürmisch kalte Nordwind, der durch die Stadt fegt und die Regentropfen waagerecht stellt?

„Man sollte sie verklagen“, sagt er laut zu sich, damit er den hohen Dauerton in seinem Ohr übertönt. Benjamin zieht die Schultern hoch und den Kopf so tief es geht dazwischen, um sich vor dem Regen zu schützen. In leicht gebeugter Haltung, die nicht die eines 29-jährigen entspricht, kämpft er sich von einem schützenden Dach zum anderen. Es hat keinen Sinn. Er ist durchnässt, als er schließlich seine Wohnung in Altona erreicht. Er schließt die Treppenhaustür auf, dann die Wohnungstür und hängt seine durchnässte Lederjacke an einen Haken, der nur noch halb in der Wand hängt. „Müsste ich mal reparieren“, denkt er, als er in seine unaufgeräumte und nicht besonders saubere Wohnung kommt. In der Küche stapelt sich der Abwasch und plötzlich bemerkt Benjamin, dass er Hunger hat. Schon als er die Kühlschranktür öffnet, weiß er, dass er nichts darin finden wird. Es ist der Kühlschrank eines Junggesellen, der neben Bier und ein bisschen Butter und Packungen mit abgelaufenem Käse mit der Aufschrift „Gut und billig“ lediglich noch ein Glas Gewürzgurken beherbergt. Benjamin schiebt sich die letzten Exemplare in den Mund und schaltet das RTL-Nachtmagazin ein. Er vermisst Heiner Bremer, der so viele Jahre Nacht für Nacht für ihn da war. Er war eine Konstante in seinem Leben, ein Stück wohlige Gewissheit. Doch jetzt schläfert der neue und vor allem jüngere „Nachrichten Host“ ihn so sehr ein, dass er auf dem Sofa nicht lange durchhält. Sein Pfeifton begleitet ihn in einen diffusen Traum, an den er sich glücklicherweise am nächsten Morgen nicht mehr erinnern kann, er hatte nur irgendwas mit Regen, klingelnden Handys und sehr lauter Musik zu tun.

Der Sound der Provence

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