Читать книгу Der Sound der Provence - Andreas Heineke - Страница 7
5
ОглавлениеSchon den ganzen Tag ist Benjamin damit beschäftigt die Telefonnummer, eine Adresse oder irgendeine Spur zu finden, die ihn zu George Lavelle führen könnte. Wenn es genauso schwierig ist, die Nummer des ehemaligen Managers herauszufinden (die Auskunft hat keine Nummer), dann kann er auch versuchen George Lavelle direkt zu finden. Doch der scheint genauso verschollen zu sein. Benjamin ruft befreundete Musikjournalisten an. Beim Rolling Stone will man mal im Archiv nachschauen, beim Musikexpress kann man sich gerade noch an den Titel erinnern und bei seinem Freund Karl Schmidtbauer vom Spiegel lässt Benjamin sich sogar dazu hinreißen, den Song „A man falls in love with Judy“ in den Telefonhörer zu singen und erntet dafür ein herzliches Lachen. Gleich doppelt, denn auch Chris ihm gegenüber hat seine Arbeit eingestellt und grinst belustigt, als er seinen Kollegen singen hört. „Mensch Ben, du hast ja ‘ne richtig tolle Stimme, wenn es sein muss.“
„Ich weiß langsam nicht mehr, an wen ich mich noch wenden kann. Es muss doch jemand wissen, wo der Mann geblieben ist. Wir leben in einer vernetzten Welt.“
Benjamin findet die Single bei Ebay. Startgebot 1 Cent. Dann durchforstet er das Internet. Google braucht 0,4 Sekunden um 595 000 Einträge mit dem Namen George Lavelle zu finden. Die Einträge ähneln sich. Wikipedia erzählt die Geschichte von George Lavelle und seinem Hit „A man falls in love with Judy“ und berichtet dann, dass er seit Jahren untergetaucht sei. RTL nennt seinen Namen in der Liste der größten One Hit Wonder. Benjamin klickt auf den TV-Link und sieht eine Gruppe von Tänzerinnen ihre Hintern im brasilianischen, und damit vollkommen unpassenden Stil wackeln. Keiner der ausgewiesenen Musikprofis auf dem Sofa weiß, wo der Mann geblieben ist. Auch Xing, Stay Friends, Studie VZ verzeichnet keinen Eintrag. Ein Link führt zu einem George Lavelle in Fort Lauderdale, der eine Kartonfabrik gegründet hat und damit ein Vermögen angehäuft hat. Da es kein Bild von dem Mann gibt, quält sich Benjamin zwanzig Minuten lang durch den Artikel, bis er an dem Satz anlangt. „George Lavelle died in 1939.“Dafür weiß er nun alles über Verpackungsmaterial, was er wissen muss, falls er mal etwas verschicken möchte. Er will im Moment nichts verschicken.
Eigentlich hätte Benjamin mit derartigen Problemen rechnen müssen, denn als er damals George Lavelle unter Vertrag nahm, gestaltete sich die Verhandlung mit ihm ähnlich schwierig. Bis heute ist George Lavelle der einzige Künstler, den er selbst nur ein einmal getroffen hat. Die Vertragsunterzeichnung lief per Fax und Post und vor allem über den Manager Christopher Martin. Als er ihn kennen lernte, waren unzählige Mitarbeiter von Phonostar Records anwesend und Michael Reichert ließ sich mit George Lavelle anlässlich der Goldenen Schallplatte fotografieren. Benjamin schüttelte ihm lediglich einmal die Hand und sagte: „Hey, tolle Nummer dein Hit“ und Michael Reichert ergänzte: „Mögen da noch viele folgen.“
George Lavelle stand da wie eine Marionette und schüttelte nur die Hände, die ihm entgegen gestreckt wurden. Er sagte wenig. George Lavelle war groß und ziemlich schlank. Er hatte dunkle mittellange Haare und sah blass und fast ein bisschen krank aus. Er passte so gar nicht in das Bild eines Popstars. Er wirkte gehetzt. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er musste gut 20 Jahre älter als Benjamin sein, eigentlich zu alt für einen Popstar. Lavelle stellte sich immer mehr als ein schwieriger Querkopf heraus.
Christopher Martin hatte Benjamin mal gestanden, dass es sich bei George Lavelle um die komplizierteste Person handelte, die er jemals getroffen hatte und dass er nicht wusste, wie lange er die Zusammenarbeit noch ertragen konnte. Oft hatte Lavelles Starrköpfigkeit und sein hoher musikalischer Anspruch auch Benjamin schlaflose Nächte bereitet.
Da die Popstarkarriere schneller vorbei sein kann als sie begonnen hat, zwang Phonostar Records George Lavelle damals schnell weitere Stücke aufzunehmen, denn Michael Reichert wollte „das Optimale aus ihm herausholen“, und wenn er so etwas sagte, dann meinte er vor allem Geld. Der sensible Lavelle konnte dem Druck aber nicht standhalten und kündigte schon wenige Monate nach seinem Erfolg entnervt den hoch dotierten Vertrag.
Michael Reichert selbst hatte wieder und wieder versucht ihn zu überreden weiter zu machen, doch Lavelle lehnte ab. Vor allem der plötzliche Ruhm war George Lavelle regelrecht zuwider. Peinlich genau achtete er darauf, dass es möglichst nur wenige Fotos von ihm gab. Außer dem Singlecover gab es nur Schnappschüsse in Klatschzeitungen und sie waren es auch, die Lavelle endgültig verzweifeln ließen. Bei seinem Manager Christopher Martin hatte er sich beschwert, dass er nirgendwo mehr ungestört hingehen konnte und dass jeder seiner Schritte, jeder Restaurantbesuch und jede Unterhaltung mit Frauen ein Thema in der Klatschpresse waren. Lavelle klagte darüber, dass er täglich ein Stück mehr seiner Freiheit einbüßte. „Freiheit, Christopher, Freiheit ist des Menschen höchstes Gut.“ Es war das letzte Gespräch der beiden und Christopher Martin zitierte den Satz bei dem letzten Gespräch mit Benjamin, als sie sich eingestanden, dass aus diesem Mann gar nichts mehr herauszuholen war. George Lavelle verschwand von einem auf den anderen Tag von der Bildfläche. Da es nun auch keinen Vertrag mehr mit ihm gab, ließ man ihn ziehen und hat sich nicht weiter um ihn gekümmert.
Benjamin hatte seit neun Jahren nichts mehr von ihm gehört. Unsterblich ist nur sein Song „A man falls in love with Judy”, den Bryan White nun unbedingt neu aufnehmen wollte. Hätte er nicht einen anderen Song eines normalen Künstlers aussuchen können?
Benjamin hatte plötzlich das Gefühl, der Superstar wolle ihn, den kleinen Talentscout, einfach nur quälen.
Chris ist es, der schließlich eine gute Idee hat. „Ich würde da mal bei der Gema anrufen, die schütten doch alljährlich das Geld an den Künstler aus. Die müssen doch wissen, wohin das geht.“
Benjamin wählt die Nummer der Gema und gelangt zu einer Frau Schmidt, die ihr Leben lang nichts anderes tut, als sehr klein gedruckte Nummern auf Plattenhüllen, so genannte LC Nummern mit Kontonummern zu vereinen und auszurechnen, was der betreffende Künstler in dem laufenden Jahr verdient hat, um den Betrag dann an die Plattenfirma, den Verlag und alle anderen zu überweisen, deren Namen in einen Zusammenhang mit einem Pophit gebracht wird.
Tatsächlich kann man ihm helfen, zumindest auf den ersten Blick. Nur eine Stunde (für eine Art Behörde der Popmusik sehr schnell) klingelt Benjamins Telefon. „Schmidt von der Gema, guten Tag.“
„Schön, dass Sie zurückrufen....“
„Ja, das wird sich herausstellen. Ich habe hier lediglich eine Kontonummer, an die wir das Geld halbjährlich überweisen.“
Benjamin hört, wie sie in ihren Unterlagen wühlt.
„Es ist die Kontonummer einer Bibliothek in Saignon.“
„Was? Warum denn eine Bibliothek? Was sagten sie? In Saigon?“
Chris schaut von seinem Computer auf.
„Saigon? Nine, nine, nine, nineteen nineteen“ singt Chris mehr zu seiner eigenen Belustigung.
„Saigon habe ich nicht gesagt, Herr Brechtmann. Ich habe Saignon gesagt.“
„Aha“, bringt Benjamin heraus. „Wo ist das?“
„Ich arbeite nicht im Reisebüro und auch nicht in der Botschaft. Laut des Namens muss es wie gesagt irgendetwas Französisches, Belgisches oder Karibisches sein. Wollen Sie die Nummer haben? Ist ja nur die Kontonummer.“
„Ja, geben Sie mir die doch mal“, sagt Benjamin, als er auf seinem vollgemüllten Schreibtisch nach einem Stift sucht. Er notiert die Zahlenfolge, bedankt sich und beendet das Gespräch. „Chris, wenn du zwischen Belgien, Frankreich oder der Karibik als Altersruhesitz wählen könntest. Wo würdest Du hin?“
Chris zögert keine Sekunde.
„Karibik. Nur ein Idiot würde sich in Europa zur Ruhe setzen.“
Für einen Moment versucht Benjamin sich Chris mit seiner zerrissenen Hose, seinen Stiefeln, seinen Piercings und Ohrringen an den weißen Stränden der Karibik vorzustellen. Sein silberner Blechstift in der Lippe kochend heiß, seine weißen Hände so schwarz wie seine Fingernägel.
Ein Blick ins Internet gibt Benjamin schnell Aufschluss. Die Bank ist in Frankreich, Saignon in der Provence und tatsächlich, da gibt es sogar eine Bibliothek, die man auf der Internetseite finden kann.
„Chris, die Bibliothek ist in einem Kaff in den Bergen. Hier steht was von Apt oder so.“
Benjamin weiß nicht, wo Apt oder so ist, weiß, um ehrlich zu sein auch nicht ganz genau, wo die Provence ist und auch die Internetseite gibt so gut wie keine Informationen.
„Die Bibliothek ist in einem Dorf von 1048 Einwohnern, 150 vor Christus gegründet im Departement Vaucluse. Zwei Hotels, Apt ist 5 km entfernt und jetzt das Wichtigste: Offizielle Webseite „Nein.“ Touristinfo ebenfalls „Nein.“
„Kein Wunder, dass sie da eine Bibliothek brauchen“ lacht Chris und wühlt in seinem CD - Stapel.
„Sprichst du eigentlich Französisch?“ Benjamin weiß, wie sinnlos diese Frage ist und doch stellt er sie, denn er weiß, dass er als nächstes in der Bibliothek anrufen wird, vielleicht die Frage, ob man einen Monsieur Lavelle kennt aus seinem Wörterbuch zusammensetzen können wird und dann? Wird er die Antwort verstehen?
Chris spreizt seinen kleinen Ringfinger mit dem schwarzen Fingernagel ab und spricht, als käme er aus einem Käfig voller Narren:
„Je ne se pas francaise.“ Er lacht. Benjamin lacht nicht. Er lässt sich von der Auslandsauskunft die Nummer der Bibliothek geben und hat plötzlich eine Idee.
Sie heißt Claudia und sie arbeitet in der Promotionabteilung von Phonostar Records. Benjamin hatte sich vor Jahren mal in sie verliebt. Claudia aber nicht in ihn, zumindest nicht so richtig. Trotzdem ist Benjamin es gelungen, sie ins Bett zu kriegen. Vielleicht aus Mitleid, weil Benjamin ihr so viele, geradezu rührende Liebeserklärungen gemacht hat. Alles binnen weniger Stunden auf einer Weihnachtsfeier. Sie begannen eine Beziehung, doch Claudia machte Schluss. Es war kurz vor ihrem Sommerurlaub. Er kann sich daran erinnern, dass sie wie jedes Jahr an die französische Atlantikküste zum Surfen fuhr. Für Benjamin brach eine Welt zusammen, als Claudia braun gebrannt aus dem Urlaub kam und es sich, typisch für eine Promotionabteilung, sehr schnell herumsprach, dass sie nun mit einem französischen Profisurfer liiert war. Benjamin konnte sich nicht helfen, aber irgendwie sah Claudia für ihn glücklicher aus, als in der Zeit, in der sie ihr Bett für ein paar Wochen mit dem stillen Benjamin teilte.
Beiden gelang es eine gute Beziehung aufrecht zu erhalten. Er verabredet sich mit ihr zum Mittag. Er ist immer noch ein bisschen aufgeregt, wenn er sie trifft. Mit ihren kurzen Haaren und ihrer durchtrainierten Figur erinnert sie ihn immer an ein Model für Sportbekleidung. Claudia umweht immer ein Hauch von Abenteuer, wie er oft von Surfern ausgeht.
„Schön dich zu sehen“ sagt sie lächelnd, während sie ihm auch die Wange küsst.
„Gut siehst du aus”, das ist eigentlich immer der erste Satz, den er herausbringt, wenn er sie sieht.
„Komm wir gehen”, sagt sie und greift zu ihrer Jacke. „Italiener?“
„Franzose wäre wohl angemessener”, sagt Benjamin.
„Ach komm, lass das. Fang nicht schon wieder damit an.“
Da Benjamin es nie gelang sie durch ein ähnlich abenteuerliches Surferleben zu überzeugen und er auch nicht gerade ein Alleinunterhalter ist, hat er sie in langen Diskussionen versucht von sich zu überzeugen. Es war zwecklos und am Ende nur noch peinlich für beide Seiten.
„Nein, ganz bestimmt nicht“, antwortet er ihr jetzt, während sie die Straße zu einem kleinen Italiener mit Stehtischen überqueren.
„An dir habe ich mir schon lange genug die Zähne ausgebissen“.
„Ach Ben.“ Claudia klopft ihm in einer zärtlichen Geste auf den Rücken.
„Wie geht es dir?“ fragt sie mit ehrlichem Interesse. „Gut!“
„Nein, ich meine wie geht es dir wirklich?“, sagt sie, jetzt ein bisschen lächelnd. Beide geben ihre Bestellung auf.
Weil Benjamin es eigentlich selbst nicht weiß und er dazu neigen würde, sich jetzt wieder in sie zu verlieben, nur weil sie ihn so anschaut und sich sogar für sein Wohlbefinden interessiert, kommt er schnell zum Punkt.
„Tja, und nun muss ich da irgendwie in dieser Bibliothek anrufen und fragen, ob man einen George Lavelle kennt“, endet die Geschichte.
„Merkwürdige Story“, sagt Claudia. Inzwischen haben sie schon den Espresso ausgetrunken.
„Vielleicht gehört ihm die Bibliothek“, sagt sie. Und dann lächelt sie wieder so unschlagbar und sagt: „Das ist doch mal was anderes Benjamin. Das hast du dir doch immer gewünscht.“ Benjamin nickt und küsst sie noch heimlich auf die Wange, kurz bevor sie das Gebäude von Phonostar Records betreten.