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Erstes Kapitel

Kennt ihr Tibitu? Oder seine Zwillingsschwester Tibitea? Nein?

Das glaube ich euch sofort. Denn ihre Geschichte wurde bis heute nie erzählt. Also hört gut zu:

Tibitu war ein normaler kleiner Junge, wie es noch über tausend andere kleine Jungen gibt. Er hatte eine Schwester. Diese war am selben Tag, nur ein paar Augenblicke später als Tibitu, geboren. Sie war deswegen seine jüngere Zwillingsschwester und hieß Tibitea.

Tibitu war schlank und etwas schlaksig. Sein dunkelblonder Haarschopf wirkte immer etwas zerzaust und meistens schaukelte eine Strähne seiner Haare vorwitzig über seinen wachen und tiefblauen Augen. Seine Ohren liefen leicht spitz nach hinten zu, was ihm ein bisschen das Aussehen eines Waldelfen gab. Zwischen seinen Augen wuchs eine gerade, etwas spitze Nase aus seinem Gesicht. Und der Mund darunter.

Was soll ich euch sagen? Dieser Mund hatte schmale Lippen, deren Enden immer leicht nach oben gebogen waren, gerade so, als ob Tibitu immer lächeln würde. Auch dann, wenn er eigentlich traurig war. Aber das machte nichts. Denn Tibitu war selten traurig. Deswegen war es schon richtig, dass seine Mundwinkel immer lächelten.

*

Seine Zwillingsschwester Tibitea war etwas kleiner als er, aber genauso schlaksig. Sie hatte eine gewaltige Mähne struwweliger, hellblonder Haare, die nicht zu bändigen waren, und die Tibiteas Mutter deswegen immer mit einem Gummiband oben auf ihrem Kopf zu einem kecken Haarbusch zusammenband, der ihr entweder rechts oder links auf die Schulter fiel, je nachdem in welche Richtung Tibitea gerade ihren Kopf neigte.

Auch sie hatte, wie ihr Zwillingsbruder, diese kleinen, nach hinten spitz zulaufenden Ohren. Ihre vollkommen grünen Augen blitzten meistens fröhlich in die Welt. Sie hatte eine kleine Stupsnase und ihr ganzes Gesicht schien immer zu lächeln.

Ja! Tibitea war ein sehr fröhliches Kind. Außer sie war mit etwas, das Tibitu gerade tat oder angestellt hatte, nicht einverstanden. Dann baute sie sich vor ihm auf, stemmte ihre Arme in die Hüften und legte den Kopf auf die rechte Seite, sodass ihr Haarbusch auf ihre rechte Schulter fiel. Dann holte sie tief Luft und bedachte Tibitu mit einer Strafpredigt, die erst endete, wenn Tibitu hoch und heilig versprach, so etwas nie wieder zu tun. Oder – was häufiger vorkam - wenn Tibitu vor seiner Schwester die Flucht ergriff und sich der Strafpredigt entzog, indem er beide Zeigefinger in seine Ohren steckte und so schnell er konnte davonrannte.

Wenn ich euch vorhin erzählt habe, dass Tibitu ein normaler kleiner Junge war, wie es noch tausend andere kleine Jungen gibt, so war dies vielleicht nicht ganz richtig.

Tibitu lebte mit seiner Familie, das heißt mit seinem Vater, seiner Mutter, seinem älteren Bruder Tiba – seine Zwillingsschwester Tibitea kennt ihr ja schon – in einem Wald. Sie gehörten zu einer Familie von Tierhütern.

Ihr wisst nicht was ein Tierhüter ist?

Nein?

Ein Tierhüter ist nicht so etwas wie ein Schäfer, der einfach den ganzen Tag lang auf seine Tiere aufpasst oder gar wie ein Zoowärter, der eingesperrte Tiere füttert und pflegt. Nein! Zu jener Zeit, als Tibitu und Tibitea mit ihrer Familie lebten, gab es noch richtige Tierhüter, wie es sie heute, glaube ich, gar nicht mehr gibt.

Damals war ein Tierhüter ein ganz besonderer Mensch. Ein Mensch, der die Verbindung zwischen Tieren und Menschen, aber auch die Verbindung zwischen Tieren und anderen Tieren herstellen konnte. Erwachsene Tierhüter, wie der Vater oder die Mutter, hatten damals die wunderbare Gabe, die Gestalt eines jeden Tieres annehmen zu können. Hatte ein Tierhüter dann die Gestalt eines Tieres angenommen, konnte er auch die Sprache des jeweiligen Tieres verstehen und sprechen.

*

Der Vater konnte sich in einen Hirsch, in einen Hasen oder in einen großen Vogel verwandeln und dann mit anderen Hirschen, mit den Hasen oder den Vögeln reden und sie fragen, wie es ihnen gehe. Damals vertrauten die Tiere ihren Tierhütern und erzählten ihnen von ihren Sorgen und Nöten, aber auch von ihren Freuden.

Wenn ihm die Rehe, Hirsche, Hasen oder Wildschweine berichteten, dass der Bauer oder der Müller hinter dem Erlenbach gerade dabei war, ausgerechnet jenen Wald abzuholzen, der die leckersten Blätter, Gräser und Eicheln für die Tiere abwarf, hörte sich der Vater in Gestalt eines Tieres diese Sorgen an und ging dann als Mensch zu dem Bauer oder zu dem Müller und brachte jenen die Sorgen der Tiere vor.

Auch die Menschen achteten die Tierhüter, wussten sie doch, dass diese eine wichtige Aufgabe zur Erhaltung des Gleichgewichts in der Natur erfüllten und hörten dem Vater deswegen aufmerksam zu.

So konnte es geschehen, dass die Menschen jenen, von den Tieren bevorzugten Waldstrich, für die Tiere unberührt ließen und ihr Holz in einem anderen Wald schlugen.

Es konnte aber auch sein, dass die Menschen wichtige Gründe dafür hatten, ausgerechnet das Holz aus jenem Wald zu verwenden. Vielleicht weil es diese Holzsorte in einem anderen Teil des Waldes nicht oder nicht in dieser Qualität gab und ausgerechnet dieses Holz von den Menschen dringend benötigt wurde. Dann hörte sich der Vater die Beweggründe der Menschen an, ging zurück in den Wald und verwandelte sich wieder in einen Hirsch, einen Hasen, ein Wildschwein oder ein anderes Tier und überbrachte den Tieren die Antwort der Menschen.

Dann nahmen die Tiere schweren Herzens Abschied von diesem Teil des Waldes und suchten sich eine andere Stelle aus, an der es gutes Futter gab. Wurde es dann Winter und das Futter für die Tiere knapp, zeigten sich die Menschen erkenntlich und streuten den Tieren Futter aus ihren eigenen Vorräten aus.

*

Auch wenn dies manchmal sehr umständlich war: Auf diese Weise wurde viel Streit vermieden, weil sich die Menschen mit den Tieren und die Tiere untereinander durch die Vermittlung der Tierhüter verständigen konnten und sich Mühe gaben, den jeweils anderen zu achten und zu verstehen.

In jener Zeit wäre kein Mensch auf den Gedanken verfallen, die Tiere des Waldes einfach zu verjagen. Und kein Tier hätte gedankenlos ein von Menschen angelegtes Feld zertrampelt oder kahlgefressen. Das kam alles erst später in die Welt, in einer Zeit, in der es keine Tierhüter mehr gab und Menschen und Tiere keine Möglichkeit mehr hatten, sich miteinander zu verständigen.

Tibitu und Tibitea

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