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Kapitel 2

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Markus verließ das Haus, setzte sich in seinen Wagen und fuhr planlos durch die Stadt. In seinem Kopf herrschte das völlige Chaos. Entgegen seinen Gewohnheiten beschloss er, einen trinken zu gehen, um zur Ruhe zu kommen. An einer Kneipe hielt er an und parkte das Auto. Es war mittlerweile gegen 16:00 Uhr. In der Kneipe saßen schon ein paar Männer am Tresen, um ihr Feierabend Bier zu trinken. Von den Tischen war nur einer mit einem jungen Pärchen besetzt. Zuerst überlegte er sich, ob er einen freien Platz am Tresen nehmen sollte, um sich mit einem Gespräch abzulenken, verwarf den Gedanken aber schnell, da er eigentlich allein sein wollte. Er steuerte auf einen freien Tisch in der Nähe des jungen Pärchens zu und ließ sich nieder. Im Raum zogen Schwaden von Zigarettenrauch umher und er genoss, obwohl er vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte, den Geruch. Markus schaute sich um und dachte bei sich, wie lange war er schon nicht mehr in einer Kneipe gewesen? Das Klientel war ihm in den letzten Jahren einfach zu billig geworden. Früher war er oft mit Saskia in Kneipen gegangen, um Spaß zu haben, Darts oder Pool Billard zu spielen und Freunde zu treffen. Freunde, wen hatte er denn noch? Ihm fiel beim besten Willen niemand mehr ein. Da er sich in den letzten Jahren ausschließlich um sein Geschäft gekümmert hatte, sagte er ausgesprochene Einladungen immer ab. Mit der Zeit wurden die Einladungen immer seltener, bis sie ganz ausblieben. Auch sonst hatte er jeglichen Kontakt zu seinen früheren Freunden abgebrochen, da er der Meinung war, dass sie nicht mehr zu seinem Lebensstil passen würden. Die Leute, welche durch Geschäftskontakte hinzugekommen waren, konnte man weder in der Kategorie Freunde noch Bekannte einordnen. Es waren halt einfach Geschäftspartner, mit denen man mal essen ging, um über’s Business zu reden und sich dann völlig unverbindlich wieder trennte. Soweit er wusste, war auch Saskia völlig isoliert. Auch ihr war vom früher gemeinsamen Freundeskreis niemand mehr geblieben.

„Was darf es denn sein“, fragte eine angenehme weibliche Stimme. Markus löste sich aus seinen Gedanken und sah auf. Vor ihm stand eine junge Frau mit einem kleinen Block in der Hand. Sie hatte eine ausgesprochen nette Ausstrahlung und wartete auf seine Bestellung. Über ihrer Jeans trug sie eine rote Schürze mit dem Werbeaufdruck einer Brauerei. Ihr Oberteil lag eng an und zeigte deutlich, dass sich darunter eine perfekte Figur verbarg. Um den Hals trug sie ein dezentes silbernes Kettchen mit einem Herzanhänger, auf den ein großes F graviert war. Die Haare hatte sie hochgesteckt, sodass man ihren schlanken Hals und ihr hübsches Gesicht deutlich sehen konnte.

„Alles in Ordnung?“

„Ja“, antwortete Markus schnell. Bitte bringen sie mir ein großes Bier und einen Magenbitter. Ach ja, und ein Päckchen Zigaretten bitte, egal welche Marke.“

„Geht in Ordnung“, sagte sie mit einem netten Lächeln und verließ seinen Tisch mit geschmeidigen Bewegungen.

Während Markus auf seine Bestellung wartete, wurde er unfreiwilliger Zuhörer des Gespräches, welches das Pärchen an dem anderen Tisch führte. Sie schienen frisch verliebt zu sein, hielten permanent Körperkontakt, indem sie sich an den Händen hielten, sich sanft streichelten oder hin und wieder küssten. Auch waren sie sehr darauf bedacht, während des Gesprächs ständig Augenkontakt zu halten. Immer wieder mussten sie während des Gesprächs lachen. Es sah alles so unendlich glücklich und ungezwungen aus. Die beiden waren dabei sich gegenseitig ihre Wünsche an das kommende gemeinsame Leben zu offenbaren.

Wie Saskia und ich, kam es ihm äußerst schmerzvoll in den Sinn.

„Bitte sehr. Ihre Getränke und die Zigaretten. Zum Wohl.“ Die nette Bedienung hatte seine Bestellung gebracht. Sogar an eine Schachtel Streichhölzer hatte sie gedacht.

„Danke sehr.“ Markus nahm einen großen Schluck von dem Bier und kippte den Schnaps gleich hinterher. Ohne nachzudenken, griff er sich eine Zigarette und zündete sie an. Tief sog er den Rauch in seine Lungen und musste sich beherrschen nicht zu husten. Junge, Junge, sagte er zu sich selbst. Das bist du nicht mehr gewohnt.

„Was meinst du eigentlich, wie viele Kinder wollen wir einmal haben?“, sagte gerade die Frau am Nebentisch und strahlte ihren Freund an.

„Ich weiß nicht so recht. Bevor wir uns mit dem Thema beschäftigen sollten wir erst einmal an die Karriere denken.“

Das hat gesessen, dachte Markus, als er sah, wie das Lächeln aus dem Gesicht der Frau verschwand.

„Ja klar“, kam es sehr gezwungen von ihr. „Da hast du sicher recht.“ Sie zog, sicher unwillkürlich, ihre Hand zurück.

„Alles in Ordnung?“, fragte ihr Gegenüber.

„Natürlich, ich habe wohl ein wenig zu weit gedacht“, kam es als Antwort von ihr. Sie versuchte dabei zu lächeln, was ihr aber ganz schlecht gelang.

„Na dann ist es ja gut“, gab ihr Freund zur Antwort und lehnte sich zufrieden zurück.

Merkst du nicht, wie es ihr gerade geht, hätte Markus am liebsten gerufen. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich. Opfer dein Leben und die Liebe nicht der Karriere. Dafür hast du noch ausreichend Zeit. Aber das Leben geht schneller vorbei als du denkst.

Ja, schneller als man denkt. Hoffentlich geht alles gut. Hoffentlich bringt die nächste Untersuchung ein positives Ergebnis. Ich brauche doch noch jede Menge Zeit um alles in Ordnung zu bringen. Bitte lieber Gott. Schenk mir die Zeit. Schon wieder fängst du mit Gott an, dachte er, als er sich dabei ertappte. Du warst dir doch immer sicher, dass es den nicht gibt. Also hör auf damit.

Er griff sein Glas und trank es mit dem zweiten Schluck aus. Suchend blickte er sich nach der Bedienung um. Diese war gerade dabei, die Gäste am Tresen zu bedienen. Markus wartete geduldig bis sie in seine Richtung blickte und hob dann die Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie nickte kurz und lächelte dabei, um zu signalisieren, dass sie ihn wahrgenommen hatte.

Kurz darauf kam sie an seinem Tisch vorbei. „Darf es noch etwas sein?“, fragte sie mit einem bezaubernden Lächeln im Gesicht.

„Ja, sehr gerne. Bitte bringen sie mir noch ein großes Bier.“ Unglaublich, wie freundlich diese Frau doch ist, dachte er, während sie davonging. Ganz bestimmt ist sie unglaublich glücklich, obwohl der Job hier sicher nicht leicht war. Wie alt mochte sie wohl sein? Ich denke mal so Ende zwanzig, Anfang dreißig? Anfang dreißig. Sofort kam ihm bei diesem Gedanken wieder Saskia in den Sinn. Er hatte die letzten Jahre an keinem einzigen Tag so oft an Saskia gedacht wie heute. Wie erbärmlich du bist, dachte er bei sich. Solange es dir gut ging und du keine Probleme hattest, war es dir egal, was aus ihr wird und kaum hast du ein Problem, benutzt du sie, um jemanden zu haben, bei dem du deine Sorgen loswerden kannst. Ganz schön mies Markus. Du wirst sie keinesfalls mit deinem Problem belasten, bevor du eine sichere Diagnose hast. Das hat sie nicht verdient. Du hast ihr schon genug angetan. Markus griff nach seinem Glas und trank, um sich anschließend eine weitere Zigarette anzuzünden. Besser als die erste schmeckte diese aber auch nicht. Trotzdem rauchte und trank er weiter, da er sich ja vorgenommen hatte, heute mal wieder richtig einen draufzumachen, um dabei wenigsten für kurze Zeit sein Problem verdrängen zu können.

Das Publikum im Lokal wechselte gelegentlich, aber Markus war weiterhin nicht daran interessiert sich auf eine Unterhaltung einzulassen. Das junge Pärchen vom Nachbartisch hatte mittlerweile auch seinen Platz geräumt. Ihm war aufgefallen, dass beim Hinausgehen ein deutlicher Abstand zwischen den Beiden lag. Seit seiner Reaktion auf ihre Frage nach der Anzahl der möglichen gemeinsamen Kinder war die Frau deutlich auf Distanz gegangen. Ich denke, das war’s für dich junger Mann, dachte Markus. Du wirst deine Karriere ohne sie machen müssen. Wie kann man nur so dumm sein. Wirst schon noch sehen, wo dich das hinbringt.

Du musst ja wohl ganz ruhig sein! Da war sie wieder, diese Stimme in ihm die sich einfach ständig ungefragt in seine Gedanken einmischte. Du hast es doch selbst nicht besser gemacht. Also versuch nicht Anderen gute Ratschläge geben zu wollen. Bekomme erst mal dein eigenes Leben auf die Reihe!

Was geht dich das eigentlich an? Was glaubst du wer du bist, dass du es dir herausnimmst mir ständig Ratschläge geben zu wollen und dich in meine Gedanken einmischst?

Ruhig, jetzt ganz ruhig Markus. Du scheinst das Trinken und Rauchen nicht zu vertragen. Wie kannst du dich mit dir selbst streiten? So was Verrücktes. Bei dem Gedanken musste er sogar ein wenig lächeln. Streitest dich mit dir selbst. Oh Mann, so weit ist es schon gekommen.

„Darf es noch Etwas sein? Er hatte gar nicht gemerkt, dass die nette Bedienung an seinen Tisch gekommen war. Oh, Entschuldigung, ich war gerade mit meinen Gedanken ganz woanders und habe sie leider nicht bemerkt. Ja, gerne noch ein Bier.“

„Das macht doch nichts“, kam es gewohnt freundlich zurück. „Das geht doch jedem mal so. Besonders wenn man ausgeht, um sich abzulenken oder weil man Sorgen hat.“ Obwohl sie lächelte, hatte er den Eindruck, dass sie ihn währenddessen forschend anblickte, so als wüsste sie genau, warum er hier war.

„Ja, da haben sie wohl recht“, gab er freundlich zurück. Wenigstens machen sie den Eindruck, dass sie täglich vom Glück geküsst werden. Sie wirken sehr ausgeglichen, glücklich und zufrieden.“ Diesmal war er es, der beobachtete. Sie machte es ihm aber leicht, indem sie mit einem tiefen Seufzen sagte: „Wenn sie wüssten.“

Mit dieser Antwort ließ sie ihn wieder alleine und setzte sich in Bewegung in Richtung Tresen. Ihre Bewegungen schienen nicht mehr so leicht wie vorher zu sein, so als hätte Markus ihr mit seiner Aussage eine riesengroße Last auf die Schultern gelegt.

Kann ja gar nicht sein, dachte Markus, dem das natürlich nicht entgangen war. Dafür war er als Autoverkäufer zu gut geschult, Stimmungswechsel über das Verhalten seiner Mitmenschen sofort zu erkennen. Du hast dich sicher getäuscht. Warum sollte sie plötzlich anders sein, obwohl du ihr ja ein Kompliment gemacht hast. Sicher ist sie nur müde. Wie spät war es eigentlich? Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es mittlerweile schon fast ein Uhr nachts geworden war. Jetzt aber los. Als die Bedienung an seinen Tisch kam, um ihm das bestellte Bier zu bringen, bat er sie um die Rechnung und fragte, ob sie so nett wäre ihm ein Taxi zu rufen.

„Sehr gerne. Ich bin gleich wieder bei ihnen.“ Kurz darauf kam sie mit der Rechnung zurück. „Dann hätte ich gerne 35,60 Euro - inklusive der Zigaretten“, grinste sie.

Markus gab ihr einen fünfzig Euro Schein. „Geben sie mir bitte zehn Euro wieder.“

„Oh, danke sehr. Ihr Taxi kommt übrigens gleich. Ich wünsche ihnen noch einen guten nach Hause Weg und alles Gute. Kommen sie doch einfach mal wieder vorbei.“ Damit drehte sie sich um, nahm von einem anderen Tisch noch ein Tablett Gläser mit und verschwand damit hinter einer Tür mit der Aufschrift “Küche“.

„Wer hatte Taxi bestellt?“, kam es von der Eingangstür. „Ich bitte“, rief Markus dem Mann zu, welcher dort stand. Er hatte eine Jeans, eine Lederjacke und so eine komische Lederkappe auf wie Taxifahrer sie häufig trugen. Vom Äußeren her schien es sich um einen Südländer zu handeln. Deshalb also “Wer hatte Taxi bestellt“, amüsierte er sich und zog sich seine Jacke über. Während er dem Taxifahrer folgend das Lokal verließ, wanderte sein Blick immer wieder zu der Tür mit der Aufschrift Küche, hinter welcher die Bedienung verschwunden war. Doch so sehr er es auch hoffte, er bekam sie leider nicht mehr zu Gesicht, um sich zu verabschieden.

Im Taxi war es angenehm warm und die Rückbank, auf welcher er Platz genommen hatte, bot ihm ausreichend Platz, um es sich richtig gemütlich zu machen. Aus den Lautsprechern kam leise irgendwelche türkische Musik. Auch war das Taxi mit den für türkische Taxifahrer üblichen Utensilien ausgestattet. Der Rahmen der Frontscheibe wurde von lilafarbigen Trotteln gesäumt. Am Rückspiegel hing eine Perlenkette, welche türkische Männer oft sehr geschickt zum Beten, oder auch nur zum Zeitvertreib, durch ihre Finger gleiten lassen. Am Armaturenbrett waren mehrere Fotos angeheftet, welche sicher Familienmitglieder zeigten und der Schlüsselanhänger war mit dem Aufdruck der türkischen Nationalflagge versehen. Der weiß gar nicht, wie gut er es hat, schoss es Markus durch den Kopf. Er scheint gesund zu sein, hat eine Job, der ihm eine regelmäßige Arbeitszeit anbietet und anschließend eine Familie, von der er erwartet wird und mit der er Zeitverbringen und Spaß haben kann. Und was habe ich? Scheiß Autohaus. Sein ganzes Erwachsenenleben hatte sich darum gedreht. Seine Beziehung hatte er den Bach runter gehen lassen und seine Gesundheit auch ruiniert. In den letzten beiden Jahren wurde der Autoverkauf sowieso immer mehr zum Kampf um’s Überleben und war eher zu einer Belastung geworden. Hätte er doch lieber etwas Anderes gemacht. Von ihm aus auch Beamter - oder das doch lieber nicht, dachte er und es gruselte ihn bei diesem Gedanken. „Wo soll hingehen?“, mischte sich die Stimme des Taxifahrers ungefragt in seine Gedanken. „Oh, sorry. Bring mich zum Tulpenweg 12 bitte.“ Bring mich? Wir kam er eigentlich dazu einen ihm wildfremden zu duzen?

„Klar, mach ich gerne. Wohnst du aber in schöner Gegend?“, kam es zurück. Jetzt wusste er, warum er den Fahrer geduzt hatte. Dieses Verhaltensengramm hatte sich entwickelt, da er es im Autohaus doch sehr oft mit türkischstämmigen Kaufinteressenten zu tun hatte. Diese versuchten, ihrer Mentalität folgend, immer zu handeln und am Besten den Wagen kostenfrei zu erhalten, ja sogar noch Etwas dafür zu bekommen, dass sie ihn überhaupt mitnahmen. Bei dieser Art der Geschäfts- und Verhandlungsführung war man automatisch sehr schnell beim Du und das schien auch völlig normal zu sein.

„Ja, ganz nett. Ich wohne gerne da“, war die knappe Antwort von Markus.

„Musst du aber gut Geld verdienen?“, kam die nächste Frage.

„Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, aber mir geht es heute nicht besonders gut und ich möchte bitte keine Unterhaltung. Nichts gegen dich, aber ich brauche gerade etwas Ruhe. Okay?“

„Keine Problem“, kam es zurück. „Bist du Gast in meine Taxi. Wenn ich viel getrunken, meistens Raki, ist türkischer Anisschnaps, geht mir auch nicht gut; manchmal paar Tage. Deswegen besser nix trinken.“

Es kommt nicht vom Trinken, wollte Markus zuerst antworten, besann sich dann aber eines Besseren und schwieg lieber, um die Unterhaltung nicht unnötig anzuheizen. Der Fahrer schien zu merken, dass es ihm scheinbar wirklich ernst war und wandte sich seinem Radio zu. Er drehte die Musik etwas lauter und begann das orientalische Lied mitzusingen.

Mist, vom Regen in die Traufe, dachte Markus, während er versuchte den Gesang zu ignorieren. Hätte ich mich lieber unterhalten. Das wäre auf jeden Fall die bessere Wahl gewesen. Je mehr er versuchte die Musik zu ignorieren, umso deutlicher konnte er sie hören. Gott sei Dank sind wir gleich da. Diesmal fiel es ihm gar nicht auf, dass er sich für diesen Umstand schon wieder bei Gott bedankte.

Das Taxi hielt vor dem Tor zu seinem Grundstück. „Soll ich bis Haus fahren oder willst du hier aussteigen?“

„Danke sehr, ich steige hier aus. Was bin ich schuldig?“

„Gibst du mir 12,50 Euro“, kam es zurück. „Brauchst du Quittung?“

„Nein danke, hier sind 15 Euro. Stimmt so. Er gab dem Fahrer die Summe und stieg aus.“

„Danke dir“, hörte er ihn noch sagen. Dann fuhr das Taxi mit dem singenden Fahrer davon.

Mann oh Mann, bin ich froh, dass ich da draußen bin. Er tippte die Zahlenkombination ein, welche ihm die Tür zum Grundstück öffnete. Wie schön still es doch war, dachte er bei sich, als er nur den Kies unter seinen Füßen knirschen hörte während er die Einfahrt zum Haus entlangging. Endlich Ruhe.

Was war denn das? War der Taxifahrer wiedergekommen? Wo kam denn diese Musik her? Ben seni sevierum, leierte es in seinem Kopf. Ben seni sevierum. Immer und immer wieder. Verdammt, jetzt hatte der Kerl ihm auch noch einen Ohrwurm als Geschenk mitgegeben. Auf dieses Geschenk hätte er sehr gerne verzichtet. Aber nun hatte er es nun mal, völlig ohne Verpackung und ohne, dass er es sich auch nur im Geringsten gewünscht hätte. Komm Markus, denk nicht dran. Mach dich in’s Bett und versuch so schnell wie möglich zu schlafen. Im Haus war es dunkel. Saskia schien also schon zu schlafen. Er beschloss heute ausnahmsweise im Gästezimmer zu übernachten um mit ihr nicht reden zu müssen, bevor es kein hundert prozentiges Untersuchungsergebnis gab. Die Schuhe zog er in der Diele aus und schlich auf Zehenspitzen durch das Erdgeschoss. Er verzichtete darauf Licht anzumachen, um möglichst unauffällig in’s Bett zu kommen.

Als er sich an der Garderobe und dem Schuhschrank vorbei zum Bad schleichen wollte, stieß er mit dem rechten Arm gegen etwas Festes. Was war das?, dachte er gerade, als er die Antwort mit einem lauten Klirren und Krachen bekam. Mist, das war die Vase die Saskia so ausgesprochen gut gefallen hatte. Er hatte sie ihr mit einem Strauß roter Rosen darin geschenkt, als sie ihren ersten Jahrestag feierten.

Markus blieb wie angewurzelt stehen und hielt die Luft an. Er lauschte in die Dunkelheit hinein und versuchte herauszufinden ob sich irgendetwas im Haus regte. Nichts, Gott sei Dank. Ja, wirklich. Gott sei Dank. Er beschloss morgen früh, also vor Saskia aufzustehen, sie stand für gewöhnlich gegen 8:00 Uhr auf, um wie er jetzt wusste, Marie zu versorgen. Jetzt redete er auch schon so von dieser Puppe. So ein Blödsinn.

Aber warum macht sie das wohl? meldete sich wieder diese innere Stimme.

Ja, hast ja recht. Ich habe den größten Fehler meines Lebens begangen, als ich sie zur Abtreibung genötigt habe. Ich kann es nun mal nicht mehr ändern. Außerdem habe ich ja wohl genug mit mir zu tun, oder?

Klar kannst du noch etwas ändern.

So, was denn bitte schön, Frau Besserwisser? Warum gab er der Stimme eigentlich eine feminine Gestalt, obwohl es seine eigene Innere war? Hatte er solche Probleme mit Frauen, dass er das was ihm unbequem und ungeliebt war gleich verweiblichte?

Du könntest mit ihr reden und versuchen ihr Leid zu teilen und dich entschuldigen. Wenigstens das könntest du tun? Oder?

Klar könnte ich das. Aber sicher wird sie mich zurück-weisen und gar nicht mit mir reden wollen. Außerdem habe ich, wie gesagt, gerade genug mit mir zu tun.

Ach so, aber als es dir heute schlecht ging, wolltest du sie gerne missbrauchen, um deine Sorgen bei ihr abzuladen. Findest du das fair? Glaubst du sie hat wegen dir nicht schon genug zu tragen?

Sei endlich still und lass mich in Ruhe, brüllte er innerlich.

Ja klar, immer wenn es unbequem wird und du dich mit Dir selbst auseinandersetzen musst, versuchst du dich zu verdrücken. Lob kannst du sehr gut vertragen, aber wehe es gibt Kritik, selbst wenn diese konstruktiv ist. Typisch Markus.

Halt endlich die Fresse, verdammt noch mal.

Wie du meinst. Mach nur weiter so. Du wirst schon sehen wie das endet.

Verdammt, halt’s Maul. Mensch was mache ich da nur? Ich streite mich mit mir selbst. Wo kommt auf einmal diese blöde Stimme her? Und das Schlimme ist, dass sie auch noch die Wahrheit zu sagen scheint.

Ben seni sevierum. Mann, auch der noch. Das hat mir gerade noch gefehlt.

Leise ging er in‘s Bad, um sich bettfertig zu machen. Dabei vermied er es sorgfältig in den Spiegel zu schauen, da er keine Lust hatte, sich wieder mit seinem Spiegelbild auseinander setzen zu müssen. Als er fertig war, schlich er sich in das Gästezimmer und schloss die Tür hinter sich. Erst jetzt traute er sich Licht anzumachen. Die Zeit als hier die letzten Gäste übernachtet hatten, lag schon ein paar Jahre zurück. Er sah sich im Zimmer um und ihm fiel auf, wie schön es hergerichtet war. Die Bettwäsche war in einem dezenten beige gehalten und auf dem Kissen lag ein Schokoladenriegel. Am Nachtschrank lag eine Ausgabe der Bibel und die Fensterbank schmückten ein paar Blumenstöcke. Es gab noch eine Kommode, auf der eine dunkelrote Kerze in einem wunderschönen Glaskerzenhalter stand. Die Spiegeltüren des Kleiderschrankes waren blank geputzt und ließen das Zimmer doppelt so groß erscheinen. Dadurch wirkte es absolut freundlich und einladend.

Wie schön Saskia das alles hergerichtet hat, dachte er bei sich. Was habe ich doch für eine wundervolle Frau mit so viel Sinn für das Schöne bis in’s letzte Detail. Schnell kroch er in’s Bett, um möglichst rasch einzuschlafen. Doch irgendwie wollte ihm das heute gar nicht gelingen. Immer wieder hatte er das Bild vor Augen, wie Saskia am Dachboden mit der Puppe im Schaukelstuhl saß und dabei weinte. Oh Mann, jetzt bekommst du alles auf einmal zurück. Saskia so weit entfernt, ein Tumor im Bauch von dem er nicht wusste, welche Auswirkungen das auf sein weiteres Leben haben würde - wenn es überhaupt Eines geben würde. Was wenn der Tumor bösartig war und er sterben musste? Ihm wurde ganz kalt bei dem Gedanken. Sterben mit fünfunddreißig? Nein, das durfte nicht sein. Er wollte doch noch alles gut machen. Bitte lieber Gott, gib mir noch eine Chance. Ich werde alles anders machen, das verspreche ich dir. Da war er wieder. Irgendwie war dieser Gott in den letzten Stunden plötzlich allgegenwärtig. War das nicht auch ein Versprechen aus der Bibel? Irgendwie hatte er das aus dem Religionsunterricht noch schwach in Erinnerung. Es ärgerte ihn, dass er seit er die vorläufige Diagnose gestellt bekommen hatte, so oft an Gott dachte. Und noch mehr ärgerte es ihn, dass er sich dann gut fühlte, weil er den Eindruck hatte, dass da jemand war, der ihm zuhörte und ihm auch helfen konnte. Bisher hatte er immer nach dem Motto gelebt: Hilf dir selbst! Aber jetzt fühlte er sich so hilflos wie noch nie. Voll und ganz seinem Körper und den Ärzten ausgeliefert. Diesmal schien er sich wirklich nicht selbst helfen zu können. Ach, hör auf Markus. Alles wird sicher gut. Er drehte sich wieder von einer Seite auf die Andere und versuchte an nichts zu denken. Ben seni sevierum. Mist, da war wieder dieses bescheuerte Lied. Was hieß das eigentlich. Da er sowieso nicht schlafen konnte, beschloss er noch zu googeln, was das eigentlich hieß.

Ganz vorsichtig huschte er in sein Arbeitszimmer, um seinen Laptop zu holen und sich damit in’s Bett zu legen, um es warm und gemütlich zu haben. Das Laptop fuhr hoch und verlangte das Passwort. Die Tastenkombination kannte er im Schlaf, da der Computer schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte und er das Passwort schon viele hunderte Male eingegeben hatte. Marie. Marie, jetzt plötzlich machte er sich Gedanken über das Passwort. Ja, er und Saskia hatten es gemeinsam ausgesucht. Der Desktophintergrund zeigte voller Ironie ein Bild von Saskia und ihm, wie sie bei ihrem letzten gemeinsamen Urlaub auf einer Strandpromenade saßen und sich innig umarmten. Um nicht weiter nachdenken zu müssen, öffnete er einen online Übersetzer. So, Markus, was war das wohl für eine Sprache? Ich denke mal türkisch. Also, türkisch-deutsch. Nachdem er die Einstellungen getätigt hatte, gab er die drei Worte ein, welche ihm ständig im Kopf herumschwirrten. Ben seni sevierum. Volltreffer. Der Übersetzer hatte etwas dazu gefunden. Die deutsche Übersetzung hieß: Ich liebe Dich.

Ich liebe Dich. Kam es ihm nur so vor, oder sprang ihn seine Vergangenheit und der damit verbundene Umgang mit Saskia jetzt plötzlich aus jeder nur möglichen Ecke an?

Ich liebe Dich. Wann hatte er das zum letzten Mal zu Saskia gesagt? Nachdem sie sich nach der Abtreibung komplett zurückgezogen hatte, sah er in seinem Unverständnis keinen Grund ihr das noch zu sagen. Er hatte sich die ganze Zeit von ihr ungerecht behandelt gefühlt. Erst heute, nach dem Erlebnis auf dem Dachboden, war ihm bewusst geworden, was er ihr angetan hatte und dass sie gar nicht anders konnte, als ihn zu verachten.

Lebe jetzt

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