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Kapitel 3

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Den Rest der Nacht wälzte er sich, unterbrochen von kurzen traumintensiven Schlafphasen, unruhig hin und her. Die ganze Zeit hatte er das Display des Radioweckers im Blick. Als es sechs Uhr morgens anzeigte, war er unendlich froh aufstehen zu können. Nur weg hier, dachte er. Egal wohin, Hauptsache weg hier. Um Saskia nicht doch noch zu begegnen, schaffte er an diesem Morgen seine Körperpflege im Bad in Rekordzeit. Markus atmete tief durch als er das Haus im Rückspiegel des Taxis, welches er gerufen hatte um seinen Wagen abzuholen, immer kleiner werden sah. Gott sei Dank, da bin ich ja nochmal gut weg gekommen. Nachdem er seinen Wagen geholt hatte hielt er an einer Bäckerei an und frühstückte erst einmal in aller Ruhe. Wie schön es doch war, sich Zeit zu nehmen und das Frühstück zu genießen. Früher hatten Saskia und er immer so den Tag begonnen, bevor jeder seinen Aufgaben nachging. Aber seit ein paar Jahren reichte es bei ihm meistens nur für eine Tasse Kaffee im Stehen. Diese kurze Zeit war gewöhnlich von eisigem Schweigen zwischen ihm und Saskia ausgefüllt. Wenn es nichts außergewöhnlich Wichtiges gab, hatten sie sich gar nichts mehr zu sagen. Ich muss sie unbedingt am kommenden Sonntag zum Brunch einladen. Wir müssen dringend reden. So kann es nicht weitergehen. Ich liebe sie doch immer noch sehr, glaube ich jedenfalls. Sein Handy vibrierte und er konnte im Display sehen, dass eine SMS von Saskia eingegangen war. Was konnte Saskia von ihm wollen? Sie hatte ihm schon ein paar Jahre keine SMS mehr geschickt. Ungeduldig öffnete er die Mitteilung.

Hallo. Wo warst du letzte Nacht? Warum hast du im Gästezimmer geschlafen?

Das war Alles? Er war mittlerweile schon nicht mehr Markus sondern „Hallo“? Auch sonst nichts Nettes in dem Text? Markus war enttäuscht.

Sag mal, was hast du eigentlich erwartet? Hast du etwa geglaubt, sie schreibt dir, dass sie dich liebt? Du erwartest ganz schön viel.

Wie stellt man nur diese blöde Stimme ab, die auch noch immer Recht hat? Ich will das gar nicht hören. Saskia könnte ja auch ein wenig Rücksicht auf mich nehmen. Schließlich bin ich krank.

Ist dir nicht klar, dass sie gar nicht wissen kann, dass du krank bist? Außerdem, wann hast du die letzten Jahre auf sie Rücksicht genommen? Wie immer soll sich wieder mal alles nur um dich drehen. Wann wachst du endlich auf? Wenn du dich weiterhin so verhältst, wirst du auch in Zukunft alleine sein und wenn der Tumor bösartig ist, auch alleine sterben müssen. Toll machst du das.

Kalte Schauer jagten ihm über den Rücken, als er sich mit sich selbst und seiner Erkrankung konfrontiert sah. Hoffentlich ist es bald morgen. Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus. Ich muss erst einmal Saskia antworten. Seine Finger flogen förmlich über die Tastatur des Handys.

Liebe Saskia. Ich hatte gestern ein paar Probleme im Autohaus und war anschließend noch etwas Trinken, um zur Ruhe zu kommen. Daher ist es etwas später geworden und ich wollte dich nicht beim Schlafen stören. Hab dich lieb. Markus.

Ein Knopfdruck und die Nachricht war unterwegs. Hab dich lieb. War das nicht etwas zu viel des Guten? Was würde sie wohl jetzt denken?

Ungeduldig wartete er, ob sie zurückschrieb. Es dauerte aber mindestens eine halbe Stunde bevor eine Antwort kam.

Seit wann so rücksichtsvoll? Und dann noch „Hab dich lieb“. Kannst mir ruhig gleich sagen, was du im Schilde führst und von mir willst. Du hast doch sonst auch nicht solche Umschweife gemacht? Muss ja etwas sein, das dir ganz besonders wichtig ist, dass du dich soweit herab-lässt. Falls es wieder mal mit deinem Autohaus zu tun hat, diesmal frage ich meinen Vater nicht mehr um Geld. Nur dass das gleich von vornherein klar ist.

Ich will gar nichts von dir. Ich habe nur über Vieles nachgedacht und auch eingesehen, dass es so nicht weitergehen kann. Ich würde morgen Nachmittag sehr gerne mit dir reden, wenn du Zeit für mich haben solltest. Danke. Hab einen schönen Tag. Markus.

Markus verließ die Bäckerei und setzte sich in seinen Wagen. Planlos fuhr er durch die Stadt und versuchte die Zeit totzuschlagen und sich abzulenken. So sehr er sich auch bemühte, ständig kreisten seine Gedanken um den Untersuchungstermin, den er morgen vor sich hatte. Er hatte noch nie in seinem Leben eine solche Angst vor etwas gehabt. Und Saskia? Was machte sie wohl gerade? War sie wieder auf dem Dachboden und beschäftigte sich mit ihrer Marie? Würde sie sich Zeit nehmen, um mit ihm zu reden? Mit wem sollte er sonst reden? Fast war er versucht wieder nach Hause zu fahren und Saskia um ein Gespräch zu bitten. Schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Er hatte ihr in den letzten Jahren wirklich mehr zugemutet, als ein Mensch ertragen konnte. Auf keinen Fall wollte er sie unnötig mit seinen Problemen belasten, bevor er nicht sicher war, was eigentlich mit ihm los war. Bis morgen musste er noch warten. Da musste er jetzt alleine durch.

Markus beschloss erst einmal zur Apotheke zu fahren und sich ein rezeptfreies Schlafmittel zu besorgen. So eine Nacht wie die letzte wollte er nicht noch einmal erleben.

In der Apotheke konnte man ihm weiterhelfen. Er bekam ein Mittel, welches von der Indikation für Ein- und Durchschlafstörungen geeignet war. Das vermittelte ihm das Gefühl der Sicherheit. Die Nacht war das, was er im Moment am meisten fürchtete und mit den Tabletten hatte er nun eine geeignete Waffe diesen Feind zu besiegen. Während er sich wieder auf den Weg zu seinem Wagen machte, fuhr seine rechte Hand immer wieder in die Jackentasche um nach der Medikamentenschachtel zu greifen. Es beruhigte ihn sehr diese kleine Pappschachtel zu fühlen. Sie wurde sozusagen im Moment zu seinem einzigen Freund und Vertrauten. Er wollte dabei auch gar nicht weiter darüber nachdenken, dass es viel schöner wäre, einen vertrauten Menschen zu haben auf welchen er sich hätte verlassen können.

Bei seiner weiteren Fahrt durch die Stadt fiel ihm ein kleines Geschäft auf, welches er vorher noch nie wahr-genommen hatte. Internetcafe war über der Eingangstür zu lesen. Zehn Minuten 1 Euro. Wie von selbst bremste er ab und nutzte eine freie Parklücke, um den Wagen abzustellen. Komm Markus, wir gehen da jetzt mal rein und googlen, was es so zum Thema „Tumoren der Bauchspeicheldrüse“ gibt. Neugierig und zugleich voller Angst betrat er den Laden. Neben einem Empfangstresen, hinter welchem sich ein gelangweilt dreinblickender Mann befand, gab es ca. zehn Tischchen mit jeweils einem Computer, Tastatur, Maus und Headset.

„Na, wie laufen die Geschäfte?“, fragte er freundlich, obwohl er selbst sehen konnte, dass der Laden komplett leer war.

„War schon mal besser“, gab ihm der Mann mürrisch zur Antwort. „Heutzutage hat ja jeder seinen eigenen Internetzugang zuhause. Hierher kommen nur die absoluten Internetverweigerer oder Menschen, die etwas googlen wollen, was kein anderer mitbekommen soll oder darf, also Menschen die anonym bleiben wollen. Zu welcher Kategorie gehören denn Sie?“

Markus, der sich ertappt fühlte, versuchte einen möglichst belanglosen Eindruck zu hinterlassen. „Eigentlich zu keiner, mir ist einfach nur langweilig.“

„Eigentlich gibt es gar nicht“, kam es zurück. „Ist ja auch egal. Suchen Sie sich einen Platz aus. Sie haben die freie Auswahl.“ Dabei grinste der Mann in einem Anflug von Galgenhumor, während er auf die freien Plätze zeigte. „Möchten Sie vielleicht ein Bier oder einen Kaffee?“

„Kaffee wäre gut“, gab Markus zur Antwort, während er sich auf einen Platz zubewegte, der nicht einfach einzusehen war, aber andererseits den gesamten Raum und durch das große Schaufenster auch die Straße im Blick hatte.

Mit dem Starten einer Seite wollte er warten bis der Mann ihm den Kaffee gebracht hatte, damit dieser nicht sehen konnte, nach was er googelte.

„Na, funktioniert etwas nicht?“ Der Mann stand unvermittelt mit dem Kaffee hinter ihm.

„Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich überlege nur gerade noch, was ich mir anschauen könnte.“

„So, so.“ Da war es wieder. Dieses dämliche wissende Grinsen. „Na dann viel Spaß.“ Er stellte den Kaffee ab und entfernte sich wieder zu seinem Tresen. Dabei trug er weiterhin dieses Grinsen im Gesicht. Sicher dachte er, dass Markus irgendwelche Pornoseiten besuchen wollte. Wenn der wüsste, dachte sich Markus. Ist mir ja auch egal. Den sehe ich sowieso nicht wieder.

Der Kaffee war sehr stark, aber genau heute genoss Markus, der normalerweise Kaffee gar nicht mochte, den kräftigen Geschmack. Nach dem ersten Schluck gab er das in die Suchleiste ein, wovor er große Angst hatte.

Tumoren der Bauchspeichdrüse

Da stand es so einfach, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Einfach ein Satz, der für die meisten keine weitere Bedeutung haben würde. Aber für ihn, jedes Wort, jeder dieser fünfundzwanzig Buchstaben bedrohten ihn unendlich. Nie zuvor hatte er das Gefühl gehabt, dass Worte oder Buchstaben bedrohlich wirken konnten. Das war eine völlig neue Erfahrung für ihn.

Jetzt brauchte er nur noch auf „Suche“ klicken und das www würde ihm seine kompletten Informationen preisgeben. Einfach so. Nüchtern, sachlich, ehrlich und völlig schonungslos. Willst du das wirklich Markus? Überleg dir das gut. Wie gelähmt ruhte sein Finger auf der Maustaste und traute sich einfach nicht diesen einen Klick auszuführen.

Reiß dich jetzt zusammen. Pass auf. Wir drücken bei drei einfach auf die Maus. Einverstanden? Wir? Wer war eigentlich wir? Markus wurde bewusst, dass er sich selbst zur Unterstützung genommen hatte und schon zum zweiten Mal eine Entscheidung im Plural abfragte. Los jetzt. Eins, zwei, drei. Der Finger drückte die Taste und die Suchmaschine verwandelte den Bildschirm in ein unüberschaubares Meer aus Informationen. Wenn man nicht aufpasste, konnte man sich im Netz sehr leicht verirren, da man sehr schnell vom hundertsten ins tausende kommen konnte. Das kannte er aus eigener Erfahrung.

Er entschloss sich seine Informationen bei Wikipedia zu besorgen. Mit dieser Seite hatte er bisher ausreichend gute Erfahrungen gemacht. Hier konnte man übersichtlich gebündeltes Wissen zu seinen Fragen finden.

Die Informationssammlung ließ ihn verstehen, dass es sowohl gutartige als auch sehr bösartige Tumoren im Bereich der Bauchspeicheldrüse gab. Gutartige Tumoren hatten eine sehr hohe Heilungschance, während es bei den Bösartigen, aufgrund der frühen Metastasierung in benachbarte Organe und Gefäße, statistisch gesehen eine sehr hohe Sterblichkeitsrate gab. Hier schien ihm besonders das Adenocarcinom äußerst gefährlich zu sein.

Na, also. Vielleicht ist doch alles nicht so schlimm, alter Junge. Du hast immerhin gute Chancen, dass es sich um eine gutartige Veränderung handeln kann. Obwohl er versuchte sich das intensiv einzureden, wurde er die Angst nicht wirklich los. Adenocarcinom. Was ein harmloses Wort. Richtig übersetzt, bedeutete es aber meistens das Todesurteil. Das Problem war, dass dieser Tumor keine großartigen Symptome machte, bevor er meist durch einen Zufallsbefund entdeckt wurde. Dann aber war es in der Regel zu spät.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zur Ruhe zu zwingen und auf die Untersuchung zu warten. Da er sich nicht sicher war, ob der Mann wenn er den Laden verlassen hatte, versuchen würde, nachzuschauen, welche Seiten er besucht hatte, löschte er den von seinen Aktivitäten erstellten Verlauf, ging am Tresen vorbei, zahlte seine Rechnung und trat wieder auf die Straße. Er hatte beschlossen heute im Autohaus zu übernachten. Dort lief er nicht Gefahr Saskia zu begegnen und in ein unbequemes Gespräch verwickelt zu werden. Er wollte gegen 20:00 Uhr dort sein, eine Tablette nehmen und dann schlafen. Markus war sich sicher, dass sich um diese Zeit niemand mehr in seinem Geschäft befinden würde.

Die Zeit vertrieb er sich, indem er in der Fußgängerzone Schaufensterauslagen betrachtete und die umher-laufenden Menschen beobachtete. Im Schaufenster eines Fotogeschäftes sah er Bilder von Hochzeitspaaren, von Einzelpersonen und auch von scheinbar glücklichen Familien, welche sich mit ihren Kindern hatten ablichten lassen. Bei dem Anblick der Bilder war es ihm, als würde ihm ein Messer in sein Herz gestoßen. Siehst du, das Alles hättest du haben können. Aber du musstest ja unbedingt dein Autohaus haben. Jetzt wird niemand da sein, der um dich weint und deine Sorgen mit dir teilt. Das Einzige was noch interessant an dir sein wird, ist die Aufteilung des Vermögens aus dem Autohaus. Tolles Finale. So hattest du dir das wohl nicht vorgestellt? Nein, ganz sicher nicht. Scheiss Adenocarcinom. Warum entwickelt der Körper eigentlich selbst etwas, was ihn umbringen kann? Unglaublich! Darüber hatte er sich vorher nie Gedanken gemacht. Klar wusste er, dass es derartige Erkrankungen gab, aber dass es ihn treffen könnte? Damit hatte er nie gerechnet und sich auch nie Gedanken darüber gemacht.

Als er das Autohaus betrat, war alles wie erwartet, menschenleer und ruhig. Da standen sie alle, diese glänzenden Blechhaufen, die er so geliebt hatte und auf die er immer so stolz gewesen war. Und jetzt? Was hatte er davon? Nichts. Es waren einfach nur Gebrauchsgegen-stände, jederzeit austauschbar und ohne irgendwelche menschlichen Eigenschaften. Ein Vorteil blieb ihnen aber doch. Man konnte sie, egal in welchem Zustand sie sich befanden, reparieren und wieder wie neu aussehen lassen. Das war der Unterschied zu ihm. Da war es mit dem Reparieren nicht so einfach.

Markus zog sich in sein Büro zurück, holte eine der kleinen weißen Tabletten aus der Schachtel und nahm sie mit einem Glas Wasser ein. Dann legte er sich auf die Sitzecke, welche normalerweise für besonderen Besuch vorgesehen war und wartete auf den Schlaf. Er hatte Glück und schlief sehr rasch ein. In seinen Träumen tauchte immer wieder Saskia auf. Sie hatte ein kleines wunderschönes blondes Mädchen bei sich und die beiden warteten ungeduldig an der Haustür auf ihn, wenn er nach Hause kam. Alle zusammen aßen zu Abend und spielten dann zusammen irgendwelche Spiele. Dabei ging es sehr lustig zu und er konnte das helle Kinderlachen deutlich hören. Genau an dieser Stelle mischten sich andere Bilder in seinen Traum. Er sah seine Frau auf einem OP Stuhl liegen und ein gesichtsloser Chirurg riss ihr ein Kind aus dem Leib. Das Kind versuchte sich zu wehren und an seiner Mutter festzuhalten, die selbst in der Narkose heftig weinte. Alle Gegenwehr des Kindes war umsonst. Als es dann weggetragen wurde, sah es ihn mit großen Augen an und sagte: „Papa, warum hast du uns das angetan? Ich wollte doch so gerne noch bei euch bleiben und mit euch spielen. Mir ist so kalt. Wo muss ich denn jetzt hin? Papa hilf mir bitte.“

Markus wachte auf. Er war nass geschwitzt und Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er hatte die Hände weit ausgestreckt und schluchzte immer wieder den Namen Marie. „Marie, es tut mir so leid. Das habe ich nicht gewollt. Bitte verzeih mir. Ich liebe dich. Bitte komm zu uns zurück.“ Die Bilder verschwanden und Markus wälzte sich unruhig hin und her, während er versuchte wieder einzuschlafen.

Er erwachte endgültig, als der Radiowecker irgendein bedeutungsloses Lied vor sich hin schnarrte. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und lief in das im Autohaus befindliche Bad. Hier hatte er immer eine Zahnbürste und einen Kamm, falls er sich zwischen den Verkaufsgesprächen einmal frisch machen musste. Auch hatte er eine kleine Auswahl an Kleidungsstücken zum Wechseln in seinem Büro. Markus machte sich fertig und bemerkte dabei, dass er kaum in der Lage war sich die Knöpfe an seinem Hemd zu schließen, so aufgeregt war er. Den Weg zu seinem Wagen legte er fast automatisch zurück, während er immer wieder wie plastisch die Traumbilder der letzten Nacht vor sich hatte. Schnell ins Kranken-haus Markus. Schnell die Untersuchung hinter uns bringen und dann zu Saskia um zu versuchen zu retten, was zu retten ist. Sie hatte sich auf seine Anfrage nach einem Gespräch nicht mehr gemeldet. Auch dass er diese Nacht nicht zuhause gewesen war, schien ihr nicht aufgefallen zu sein.

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