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Kapitel 5

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Der Andachtsraum war schlicht eingerichtet. Es gab ein paar Holzstühle, einen kleinen Altar und über dem Altar das übliche Kruzifix mit der Inschrift INRI. Der Raum war nur in Kerzenlicht getaucht, sodass es relativ dunkel war. In dem Raum schien sich sonst niemand aufzuhalten.

Markus kam das sehr gelegen. Er wollte jetzt unbedingt alleine sein.

Gott, warum ich?, fragte er sich während er da saß und das Kreuz über dem Altar betrachtete. Warum gerade ich? Ich hätte doch normalerweise noch so viel Zeit. Ich bin doch noch nicht so weit. Ich bin doch noch viel zu jung zum Sterben. Wenn ich jetzt siebzig oder wenigstens sechzig wäre, würde ich mich ja nicht beschweren. Aber mit fünfunddreißig? Nennst du das gerecht? Du bist doch angeblich der Gott der Gerechtigkeit. Nennst du das wirklich gerecht? Andere. die schlimme Verbrechen begangen haben, werden uralt und ich soll jetzt schon gehen? Ich hasse dich. Du bist kein gerechter Gott. Du tust so, als wärest du großmütig und ein Freund der Menschen. Dabei macht es dir Spaß mit uns Menschen zu spielen. Klar, der Schmidt war ein paar Mal nicht in der Kirche. Den nehme ich mir jetzt mal vor und zeige ihm, wo der Hammer hängt. Dem hetze ich einfach mal den Sensenmann auf den Hals. Hab ja noch ausreichend dumme Schäfchen rumspringen. Da kommt es auf das eine nicht an.

Als Markus Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bemerkte er, dass auf einem Tischchen neben dem Altar ein aufgeschlagenes Buch lag. Er dachte es handele sich um die Bibel und wollte nachsehen, was er noch alles vorbringen konnte, um Gott zu beweisen, dass er nicht der war, für den er sich ausgab. Schwerfällig erhob er sich von seinem Stuhl und ging zu dem Tisch, um sich das Buch genauer anzusehen. Beim genaueren Hinsehen wurde ihm klar, dass es nicht die Bibel war. Es handelte sich um eines dieser Bücher, in welche Patienten, Angehörige oder Besucher des Andachtsraumes ihre Sorgen oder ihren Dank niederschreiben konnten. Markus nahm das Buch zur Hand und begann darin zu blättern. Die Seiten waren gefüllt mit nahezu gleichen, immer wiederkehrenden Bitten an Gott um Gesundheit für sich selbst, Angehörige oder Freunde aber auch Danksagungen nach überstandenen Krankheiten. Markus wollte das Buch schon zur Seite legen, als ihm ein Eintrag auffiel, welcher sichtbar mit Kinderhand verfasst war.

Lieber Gott. Ich weiß, dass ich bald sterben werde. Ich bin damit natürlich nicht glücklich, aber ich weiß ja, dass es dich gibt und dass du mich sicher bei Dir aufnehmen wirst. Ich wäre auch gerne länger hier geblieben und hätte mit meinen Freunden gespielt, wäre zur Schule gegangen und später gerne Pilot geworden. Dann hätten wir uns auch jeden Tag sehen können. Ich hoffe, dass ich wenigstens noch meinen nächsten Geburtstag feiern kann. Du weißt doch wie sehr ich mir dieses Kettcar wünsche. Das kann ich ja dann vielleicht mit zu dir bringen. Dann habe ich wenigstens etwas zum Spielen, wenn mir da oben langweilig werden sollte. Aber lieber Gott. Eine ganz große Bitte habe ich an dich. Mach doch bitte, dass meine Mutter und Freunde nicht so traurig sind. Ich habe da nämlich immer schon fast ein schlechtes Gewissen, weil ich so krank geworden bin. Mach bitte auch, dass andere Kinder gesund werden und bleiben dürfen. Ich denke ganz oft an dich und wie es bei dir sein wird. Danke nochmal, dass du bei mir bist.

Felix 9 Jahre

Markus konnte gar nicht glauben, was er da las. Er war zutiefst ergriffen und konnte seine Tränen nicht zurückhalten.

Was war denn das wieder für eine Aktion? Für ihn mit fünfunddreißig war es schon nicht möglich sein Schicksal zu akzeptieren, und da schrieb ein neunjähriger Junge einen solchen Text? Neun Jahre. Was hatte der vom Leben gehabt? Warum musste es so Etwas geben? Gott, warum lässt du so etwas zu? Warum nimmst du einem unschuldigen Kind das Leben und den armen Eltern ihren Sohn?

Der durfte wenigstens neun Jahre leben. Und dein Kind? Was hast du mit ihm gemacht? Es durfte nicht einmal das Licht der Welt erblicken? War das gerecht, was du da gemacht hast?

Blöde innere Stimme. Wer hat dich denn gefragt? Das war doch etwas ganz Anderes?

Ach ja, was war denn daran anders? Hast du dein ungeborenes Kind gefragt, ob es leben möchte? Hast du es gefragt, welche Träume und Wünsche es gehabt hätte? Hast du es gefragt, was es sich zum Geburtstag gewünscht hätte? Hast du es gefragt, ob es in einem kalten OP Saal im Mülleimer sein noch nicht mal richtig begonnenes Leben beenden möchte? Und, was war daran anders? Du hast dir doch damals auch angemaßt über Leben und Tod zu entscheiden. Du willst mit Gott ins Gericht gehen? Das steht dir nach dem was du getan hast sicher nicht zu.

Markus hielt sich die Ohren zu und hoffte diese Stimme endlich nicht mehr hören zu müssen. Er wollte jetzt nur noch hier weg. Raus aus diesem Krankenhaus. Weit weg von all diesem Elend. Weit weg von Felix und seinen Leidensgenossen. Er wollte nur noch zu Saskia. Er wollte sie nur noch um Verzeihung bitten für alles, was er ihr angetan hatte. Er wollte Zeit mit ihr verbringen. Und er hatte verdammt große Angst, dass sie ihn zurückweisen würde und es zu spät war.

Lebe jetzt

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